Die Grenzen des lautorientierten Schreibens

Dr. Hanna Sauerborn

Pädagogische Hochschule Freiburg, Adolf-Reichwein-Bildungshaus

Freiburg 2019

Den  gesamten Text können Sie hier als PDF herunterladen:

MLM_Die_Grenzen_des_lautorientierten_Schreibens

Schauen Sie sich außerdem dieses Video an, in dem es auch um dieses Thema geht.

Worum geht es?

Im Anfangsunterricht wird in fast allen Lehrwerken das lautorientierte Schreiben als ein früher Zugang zur Schrift eingesetzt. Beim lautorientierten Schreiben können Kinder jedoch nur wenige Wörter orthographisch richtig verschriften, da es nur sehr wenige lautgetreue Wörter im Deutschen gibt. Es muss daher gefragt werden, ob zu viel lautgetreues Schreiben ohne Korrektur des Geschriebenen die Kinder daran hindert, ein korrektes Verständnis der Schrift aufzubauen.

Warum sollte man das unkorrigierte lautorientierte Schreiben vermeiden?

FREIES SCHREIBEN – MOTIVATION ZUM SCHRIFTSPRACHERWERB

Ohne Zweifel stellen freie Schreibanlässe ein Motor zur Auseinandersetzung mit Schrift dar. Eigene Texte verfassen zu können motiviert viele Kinder und regt folglich den Schriftspracherwerb an.

So schreibt Alexandra nach 6 ½ Monaten in der Schule eigenständig ein Märchen auf (Text siehe unten), das sie vorher in einem Buch gelesen hat, welches sie in der Bibliothek ausgeliehen hatte. Dabei produziert sie ein beeindruckendes Ergebnis.

Alexandra (6 Jahre alt) schreibt ein Märchen auf

Doch bei dieser ersten Textproduktion sollte es nicht bleiben. Sowohl sprachlich als auch orthographisch wird der Text im nächsten Schritt überarbeitet (und ggf. auch inhaltlich).

Darum soll es an dieser Stelle jedoch nicht gehen. Vielmehr werden im Folgenden einzelne falsch geschriebene Wörter des Kindes im Hinblick auf ihre „Lauttreue“ untersucht.

Für diese Analyse werden nur einige Wörter herausgegriffen und näher beschrieben. Dabei geht es zunächst um die Frage, welches Wort intendiert war. Zudem wird die Schreibung in der Lautschrift (IPA) ergänzt, um zu zeigen, wie nah die Schreibung dieser Lautschrift gleicht. Schließlich wird die Schreibung genauer analysiert. Dabei geht es darum, 1) die Schreibung im Hinblick auf die „Regel“ „Schreib wie du sprichst“ zu erklären und 2) weitere Abweichungen von der orthographischen Norm zu nennen.

Intendiertes WortSchreibungIPAErläuterung
Mädchenmethen[ˈmɛːtçən]Im Wort sind zwei Fehler enthalten, die sich mit einer Lautorientierung erklären lassen:·      <e> für <ä>: Ente wird auch mit <e> geaschrieben·      <t> für <d>: Auslautverhärtung am SilbenendrandFür <ch> scheint noch keine Repräsentation erworben sein, was sich auch in weiteren Schreibungen im Text zeigt.Großschreibung noch nicht erworben
hattehate[ˈhatə]·      <t> für <tt>, fehlende Schärfungsmarkierung
Mützemüze[ˈmʏt͡sə]·      Am Wortanfang wird der gleiche Laut mit <z> verschriftet: Zaun. <tz> als Schärfungsschreibung
krankkrang[kʁaŋk]·      <ng> für /ŋ/ plausible, z.B. Ding/k/ fehlt
traftraw[tʁaːf]·      <w> verschriftet /v/; /v/ und /f/ sind beide labiodentale Frikative, wobei /f/ stimmlos und /v/ stimmhaft ist. Die Schreibung zeigt folglich die Nähe der beiden Laute beim Artikulationsort
gehstges[ɡeːst]·      Schreibung behält aufgrund der morphologischen Konstanzschreibung das silbentrennende H. Kind verschriftet lautgetreu.-t Personalendung 2. Person fehlt, im Gesprochenen wird der Laut oft verschluckt, gerade weil es in der Folge „gehst du“ ([ɡeːsdu]kaum wahrnehmbar ist.
schnellerschnela[ˈʃnɛlɐ]·      Fehlende Schärfungsschreibung·      a-Schwa (<er>) am Wortende
Analyse einiger Fehlschreibungen aus dem Text „Rotkäppchen“ von Alexandra (6 Jahre, Klasse 1 nach 6 ½ Monaten Unterricht)

Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass die herausgegriffenen Fehler aus einer lautorientierten Sichtweise plausibel sind. Eine lautorientierte Schreibweise führt in keinem der Fälle zu einer korrekten Schreibung.

Viele korrekt geschriebenen Wörter sind zudem nicht lautgetreu (z.B. und, sagt, sie, der…). Hier zeigt das Kind schon ein erstes orthographisches Verständnis.

Die deutsche Orthographie

Die deutsche Orthographie auf verschiedenen Prinzipien. Mit Hilfe der Prinzipien lassen sich viele – jedoch nicht alle – Schreibungen erklären/ableiten.

PHONGRAPHISCHES PRINZIP

In der deutschen Schrift gibt es einen Bezug von Buchstaben und Lauten (bzw. Graphemen und Phonemebn), allerdings ist dieser Bezug nicht eindeutig. So kann der Laut /ks/ auf sechs verschiedene Arten verschriftet werden: <ks> Keks, <chs> Dachs, <cks> Klacks, <x> Hexe, <gs> tags,

Ebenso kann ein Buchstabe verschiedene Lautgestalten haben:

BauerBieneEnteEsel
a-Schwa/ɐ/e-Schwa/ə//ɛ/ und /ə//e/Das <e> in der zweiten Silbe wird in der Regel gänzlich verschluckt.

Wörter, die als lautgetreu bezeichnet werden können, gibt es etymologisch deutschen Wörtern im Prinzip nicht. Einzig manche Wörter aus anderen Sprachen können im Deutschen lautgetreue Schreibungen haben, wie z.B. Salat, Salami, Dino, Delfin.

Schreibungen von Wörtern können folglich nicht nur auf den Bezug von Phonem und Graphem hin beschrieben werden. Ein weiteres zentrales Prinzip der deutschen Wortschreibung ist das silbische Prinzip.

SILBISCHES PRINZIP

Geschriebene und gesprochene Silben sind in mancher Hinsicht ähnlich, in anderen Punkten unterscheiden sich die Silben jedoch. Sehr wichtig beim Vergleich der beiden Silben (gesprochen und geschrieben) ist die Tatsache, dass die Schreibsilbe in besonderem Maße reflektiert, dass die deutsche Schrift eine Leserschrift ist. Das bedeutet, dass wir aufgrund einer bestimmten Silbenstruktur wissen, wie wir – auch unbekannte – Wörter lesen können. Das können Sie selber ausprobieren:

Trefke                           Sonnter               Lohrel                           Dogen

Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben Sie die Wörter gemäß Ihres (unbewussten) Wissens über die Schreibsilbe gelesen:

Trefke wie Hefte

Sonner wie Bagger

Lohrel in der erste Silbe wie Bohrer und in der zweiten Silbe wie Esel

Dogen wie Degen oder Bogen

Was Sie an diesen Worten sehen können, ist die Markierung der geschriebenen Silben. Sie wissen, welche Silbe betont und welche unbetont ist. Im Deutschen sind die typischen deutschen Wörter trochäische Zweisilber, bei denen die erste Silbe betont ist und die zweite Silbe unbetont ist.

Außerdem haben Sie gesehen, welche betonte Silbe offen und geschlossen bzw. wo der Vokal in der ersten Silbe gespannt (lang) oder ungespannt (kurz) ist. Alles dies ist Teil des silbischen Prinzips. Weitere Punkte fallen unter das silbische Prinzip (z.B. sp/st Schreibung am Wortanfang).

MORPHEMATISCHES PRINZIP

Bereits beim silbischen Prinzip wurde darauf hingewiesen, dass es einen Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache gibt. Das zeigt sich auch beim morphematischen Prinzip, denn die Schrift verändert Wortstämme weniger als die gesprochene Sprache.

Schauen Sie selber:

Die dargestellten Beispiele zeigen alle das morphematische Prinzip, nach dem gleiches möglichst gleich bleiben soll. Es geht dabei um die Umlautschreibung (a/ä, au/äu) und die Auslautverhärtung (d/t, g/k, b/p)

SYNTAKTISCHES PRINZIP

Unter das syntaktische Prinzip fällt die Großschreibung am Satzanfang, die Großschreibung des nominalen Kerns in der Nominalgruppe sowie die Zeichensetzung und damit auch die „dass“ Schreibung.

Auch wenn die Übersicht über die Prinzipien nur sehr knapp ist, wird darin doch deutlich, dass die deutsche Schrift regelhaft ist und weitaus mehr als eine Lautschrift. Dies gilt es Kindern von Anfang an zu vermitteln.

 Kinder auf die falsche Fährte führen

Indem wir Kindern beibringen, dass sie so schreiben sollen, wie sie sprechen, führen wir sie auf eine falsche Fährte. Denn genau genommen, schreiben wir gerade anders, als wir sprechen.

Es ist die Sicht eines Schriftkundigen, den Zusammenhang von gesprochener und geschriebener Sprache zu sehen. Schriftunkundige können diesen jedoch nicht in dieser Form herstellen.

VIELE (UNNÖTIGE) UMWEGE

Hat ein Kind das Prinzip des lautorientierten Schreibens verstanden und wendet dieses konsequent an, muss es danach all die Ausnahmen von der gerade verinnerlichten Regel lernen, von denen einige im Folgenden aufgeführt werden:

  • Jede Silbe hat einen Vokal – im Gesprochenen kann auch ein Konsonant die Vokalposition einnehmen. Denken Sie an das Wort „Esel“, bei dem das zweite /e/ meist gar nicht artikuliert wird.
  • Bei den gesprochenen Vokalen wird zwischen gespannt und ungespannt (fast wie lang und kurz) unterschieden, im Geschriebenen gibt es diese Unterscheidung nur beim <ie>).
  • Für einen Laut gibt es viele verschiedene Verschriftungsformen. Z.B.
  • Für einen Buchstaben gibt es verschiedene Lautformen
  • Es gibt Lautkombinationen, die bestimmte Verschriftungen nach sich führen (/òp/ (sch p) àsp, (/òt/ (sch t) àst)
  • Großschreibung des nominalen Kerns einer Nominalgruppe, Großschreibung am Satzanfang
  • Stimmhaftes und stimmloses s (/XXX/ und /xxx/) werden am Silbenanfangsrand in der zweiten Silbe unterschiedlich verschriftet (Dose - Füße).
  • Folgt auf einen kurzen Vokal nur ein Konsonant, muss dieser verdoppelt werden.

Den Überblick über all diese Ausnahmen zu bekommen, ist deutlich aufwändiger, als von Anfang an die richtigen Prinzipien der Schrift nach und nach zu verstehen. Ein sehr erfolgsversprechender Weg, Kindern die Schrift systematisch zu vermitteln.

Aber auch ohne ein ganz neue Herangehensweise können Lehrkräfte Kindern helfen, Schrift nicht als lautbasiert zu verstehen.

ALTERNATIVEN ZUM LAUTORIENTIERTEN SCHREIBEN ETABLIEREN

  • Erklären Sie Kindern von Anfang an den Unterschied von geschriebener und gesprochener Sprache. Die Regel lautet: „Wir sprechen das so, aber wir schreiben es anders.“
  • Vermitteln Sie auch beim Leseerwerb von Anfang an, dass Buchstaben nicht nur einem Laut entsprechen, dies gilt besonders für komplexe Buchstaben wie das <e> oder <r>.
  • Schreiben Sie zu jedem selbst konstruierten Wort die richtige Schreibung dazu, die das Kind dann abschreibt. Dieses richtige Modell ist wichtig, damit die Kinder nicht auf ihrer fehlerhaften Schreibung verharren müssen.
  • Lassen Sie die Kinder von Anfang an Wörter abschreiben, die korrekt abgeschrieben werden müsse. Kinder müssen verstehen, dass es auf die richtige Schreibung ankommt.
  • Bieten Sie Alternativen zum lautgetreuen Schreiben, z.B. Purzelwörter (siehe auch auf unserer Seite) oder das Schreiben in Häuser/Wagen wie bei der silbenanalytischen Methode nach Christa Röber (2009).
  • Ermuntern Sie Kinder, sich über richtige Schreibungen Gedanken zu machen. Auch wenn die Kinder sich natürlich nicht alles merken können, können sie doch so nach und nach immer besser verstehen, dass es bestimmte Regularitäten in der Schrift gibt.

Quellen

Peter Eisenberg. 2017. Deutsche Orthografie. Regelwerk und Kommentar. Im Auftrag von Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Berlin, Boston: De Gruyter Mouton

Röber, Christa (2009): 2009. Die Leistungen der Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen. Grundlagen der Silbenanalytischen Methode. Ein Arbeitsbuch mit Übungsauf- gaben. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren

Sauerborn, Hanna (2016): «Darf ich denn Kindertexte in der ersten Klasse verbessern?» Zur Unsicherheit von Lehrkräften, Orthographie von Anfang an beim Schreiben zu berücksichtigen. Leseforum. https://www.leseforum.ch/sysModules/obxLeseforum/Artikel/593/2016_3_Sauerborn.pdf

Sauerborn, Hanna (2017): Deutschunterricht im mehrsprachigen Klassenzimmer. Grundlagen und Beispiele zur Förderung von DaZ-Lernenden im Grundschulalter. Seelze: Kallmeyer.

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