Vom Lesenlernen in der Schule – “Lesn is amala schönstn !” – von Ute Andresen

Ute Andresen ist Autorin und Leiterin der Pädagogischen Werkstatt Grundschule an der Universität Erfurt. Ihr Text ist inzwischen gut 10 Jahre alt und unverändert lesenswert, überzeugend und hilfreich.

Heute saß ich in einer … Pferdebahn, das heißt, ich kniete auf dem Sitz und sah zum Fenster hinaus. Die Bahn fuhr durch die Hauptstraße einer Kleinstadt, an vielen Geschäften vorbei. Auf den Ladenschildern standen große, manchmal farbige Buchstaben, die ich zu erkennen und mit lauter Stimme abzulesen versuchte. Das Vergnügen, das ich empfand, wenn die Zeichen ein mir bekanntes Wort ergaben, war ungeheuer, so als hätte ich all diese Worte und mit ihnen die bezeichneten Gegenstände selbst erschaffen oder mir in diesem Augenblick unverlierbar zu eigen gemacht.

So beschreibt Marie Luise Kaschnitz den eigenen Leseanfang in „Das Haus der Kindheit". Daran ist zu messen, was Kinder in der Schule beim Lesenlernen erleben, an dieser Freude, dieser Erfahrung der eigenen seelischen Kraft, diesem Erobern eines neuen Bezugs zu den Worten und der Welt, der sie Namen geben. Mißt man das, was in unseren Schulen beim Lesenlernen tatsächlich geschieht, an diesem Zitat und zugleich an den Hoffnungen, die die Kinder anfangs mit in die Schule bringen, kann man nicht mehr übersehen, daß die Schule oft, viel zu oft, versagt. Den Gründen für dieses Versagen ist hier nachzuforschen und dann zu fragen, wie im schönen, glücklichen Fall das Lesenlernen geschieht und auch in unseren Schulen zuverlässiger zu organisieren wäre.

  1. Viel zu viel vergebliche Mühe

Wir haben in Deutschland viele verschiedene Fibeln für den Leseanfang, sie sind bunt und teuer. Meistens hat ein ganzes Team von Didaktikern und Pädagogen monatelang gearbeitet, bevor eine Fibel in Druck gehen konnte, hat einen Lehrgang entworfen, Wörter ausgewählt, Texte gesucht und verfaßt, sich gestritten und geeinigt, Zeichnungen bestellt, Einwände der Zulassungsbehörde vorausgeahnt und ihnen vorgebeugt, einen Entwurf zur Bewilligung eingereicht, Einwände der Behörden zur Kenntnis genommen, schöne Ideen und Hoffnungen begraben, Änderungen wie gefordert vollzogen, erneut eingereicht, Manuskripte für den Satz vorbereitet, Korrektur gelesen …

Der Aufwand ist beträchtlich, bis so eine Fibel fertig ist und mit anderen Fibeln um die Gunst der Lehrer wetteifern kann. Die entscheiden, mit welcher Fibel sie arbeiten möchten - im Rahmen regionaler Vorgaben der Behörde.

Die Kinder werden natürlich nicht gefragt!

Sollte man sie denn fragen? Wüßten sie womöglich besser als Lehrer, mit welcher Fibel oder welcher Methode sie leicht, mit Vergnügen, jedenfalls erfolgreich lesen lernen könnten? - Doch wohl nicht! Aber die Lehrer wissen es offenbar auch nicht, sonst gäbe es nicht soviel Quälerei beim Lesenlernen, soviel Tränen beim Übenmüssen daheim, soviel störrische Leseunlust in späteren Schuljahren und so viele Leseverächter und funktionale Analphabeten nach neun und mehr Jahren Schule. Es gibt das alles in erschreckendem Maße, und also hat man die richtige Fibel, die zuverlässige Methode noch nicht gefunden.

Oder wollen wir annehmen, die Leseversager seien allesamt minderbegabt oder sozial behindert bzw. ihre Lehrerinnen seien ungeschickt in der Anwendung an sich richtiger Unterrichtsmethoden, und daraus allein ergäbe sich alles Versagen? Wenn Geschick oder Ungeschick der jeweiligen Lehrerin einen zu großen Einfluß auf das Lernergebnis hat, dann muß man die Methode ändern, da Lehrerinnen sicher schwerer umzukrempeln sind.

  1. Fibellehrgänge sind erfahrungsblind

Ich behaupte, daß unser traditioneller Leseunterricht weitgehend erfahrungsblind ist und darum bei vielen, bei viel zu vielen Kindern versagt. Diese Behauptung ist zu begründen mit der Schilderung von Tatsachen und Erfahrungen aus dem Leselernprozeß, die in Fibellehrgängen nicht berücksichtigt sind bzw. dort auch gar nicht berücksichtigt werden können.

Erste Tatsache:

Fibellehrgänge sind zu starr. Verhalten sich die Kinder beim Lesenlernen anders, als es die dem Lehrgang zugrundeliegende Theorie annimmt, kann das den Ablauf des Lehrgangs nicht mehr beeinflussen.

Als ich vor mehr als zwanzig Jahren anfing, Schulanfänger im Lesen zu unterrichten, hatten wir „Ganzheitsfibeln". Die Kinder mußten sich endlose „Ganzwörter" einprägen, die später in Buchstaben mit bestimmtem Lautwert zerlegt wurden (Analyse). Aus so gewonnenen Buchstaben wurden dann neue Wörter aufgebaut (Synthese). Es hat mich damals fast verzweifeln lassen, daß manche Kinder sich die Ganzwörter nicht so rasch und sicher aneignen konnten, wie es der Lehrgang vorsah. So gerieten sie von Anfang an ins Stolpern. Verblüfft aber hat mich dies: Die „guten Leser“, die alle Ganzwörter „gespeichert“ hatten, schienen sie in der Phase der Synthese wieder vergessen zu haben. Statt sie in neuen Zusammenhängen mit einem Blick wiedererkennen und sofort aussprechen zu können, buchstabierten sie die alten Bekannten so mühsam zusammen wie jedes neue, noch fremde Wort auch. Und sie taten es gern. Das war nach der Ganzheitsmethode nicht zu erwarten.

Meine Erklärung: Erst das aus Buchstaben selbständig zusammengesetzte und als Lautgehalt wiedererkannte Wort ist wirklich gelesen, erlesen, gewonnen. Man weiß, was man da vor sich auf dem Papier hat und was damit gemeint ist. Man hat aus eigener Kraft einer Reihe zunächst sinnloser Zeichen einen Sinn gegeben.

Das ist befriedigend, man erlebt sich selbst als kompetent.

Jedes erlesene Wort ist ein Triumph.

Wiedererkannte Wortbilder, deren Bedeutung einem vorgesagt worden ist, sind dagegen wohl nur so etwas wie übernommene Behauptungen, etwas sehr Unzuverlässiges, Windiges. Daß erfahrene, sichere Leser später oft erlesene Wörter auf einen Blick erkennen, ohne sie buchstabieren zu müssen, ist etwas anderes als das Nachplappern von übernommenen Bezeichnungen für Wortbilder.

Noch heute, mehr als zwanzig Leselehrerjahre später, frage ich mich, warum die Erfinder der Ganzheitsmethode nicht wußten, daß Kinder den nur nachgeplapperten Wörtern nicht trauen und sie sich so bald wie möglich buchstabierend neu erobern möchten. Mir war diese Erfahrung so zwingend, daß ich die Fibel im nächsten Schuljahr im Schrank ließ. Da ich dann nicht mehr mit einem Auge auf den Fibellehrgang schielen mußte, hatte ich einen freien Blick für die Kinder. Aus ihren und meinen Erlebnissen mit Buchstaben und Wörtern konnte ich Tag für Tag unsere weiteren Schritte ableiten. Keine vorgeprägten Fußstapfen schrieben uns vor, wie groß der nächste Schritt zu sein hätte und wohin er uns führen sollte. Mein Leseunterricht wurde mir selbst zum befreienden Abenteuer. Wir kamen rascher voran als vorher, erheblich rascher und fröhlicher.

Seither ist mein Respekt vor Fibeln immer brüchiger geworden. Ich könnte sie erst dann schätzen, wenn ich ihre Bewährung im Unterricht erlebt hätte: Der Leselehrgang soll weder die schnellen Lerner zwingen, auf der Stelle zu treten, noch die Langsamen entmutigen oder stehenlassen. Einem Fibellehrgang, der das leistet, bin ich noch nie begegnet.

Zweite Tatsache:

Schulanfänger wissen mehr und wollen mehr erfahren, als die Fibeln ihnen zubilligen.

Darüber ist seit Jahrzehnten argumentiert worden, sehr gründlich von Bruno Bettelheim in „Kinder brauchen Bücher". Mir genügt als Argument gegen die Fibelwörter folgende Beobachtung:

Am ersten Schultag darf sich jedes Kind ein Wort in sein erstes Heft wünschen, um dann etwas dazu zu zeichnen. Gewünscht werden: Ball, Blume, Haus, aber auch Polizeiauto, Prinzessin, Paradies und Tut-Ench-Amun. - So weit reicht das Interesse in einer Klasse von Schulanfängern!

Aber noch ein weiteres Argument:

Kinder lieben Wörter, die schön klingen und deren Bedeutung sie nur erst ahnen, weil es keine geläufigen Wörter sind. Sie lieben diese Wörter, weil sie von ihnen über den Alltag hinausgehoben werden und weil sie auf Ernstes und Tiefempfundenes weisen, mit dem man ohne diese Wörter ganz allein wäre. Es sind Zauberwörter ganz im Sinne von Eichendorffs:

Schläft ein Lied in allen Dingen,

Die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen,

Triffst du nur das Zauberwort.

Dritte Tatsache:

Kinder sind verschieden! Sie können nicht gleichviel und nicht dasselbe, wenn sie in die Schule kommen, und sie begegnen den Forderungen und Angeboten der Schule auf je eigene Weise. Davon weiß die eine Fibel für alle nichts.

Zwei Sorgen vor allem bewegen Eltern künftiger Schulanfänger: Kann mein Kind nicht mehr, als es können soll? Denn: Wer zuwenig kann, gilt schnell als unbegabt. Wer zuviel kann, wird lästig, weil er sich langweilt. Wenn alle im Gleichschritt lesen lernen, ist beides kaum zu vermeiden, es sei denn, das Schülermaterial wird homogenisiert, was nur in der Theorie gelingen kann und angesichts wirklicher, lebendiger Kinder auch nicht zu wünschen ist. Wie groß sind denn etwa die für das Lesenlernen relevanten Unterschiede in einer Klasse? Ein Beispiel zum Aspekt „Buchstabenkenntnis" soll das andeuten:

In der ersten Schulwoche werden die 24 Kinder einer Anfängerklasse einzeln geprüft: Jedem Kind werden auf Karten in ungeordneter Folge alle Buchstaben des Alphabets vorgelegt, die großen und die kleinen. Das Kind soll bei jedem Buchstaben sagen, wie er heißt, soweit ihm das möglich ist. In dieser Klasse nun nennt das Kind mit dem höchsten Ergebnis 27 Buchstaben richtig, das mit dem niedrigsten nur zwei, und zwar das große und das kleine P. Es heißt Peter. Zwischen diesen Extremen variieren die anderen Ergebnisse.

Es wird wohl niemand im Ernst behaupten wollen, daß diese Klasse mit einem Lehrangebot für alle und einem gemeinsamen Voranschreiten ins Lesen einzuführen ist, ohne daß viele Kinder weit überfordert, andere genauso unterfordert werden bzw. die eine wie die andere Extremgruppe gar nicht angesprochen wird. Tatsächlich tut man aber landauf, landab so, als könnte das gutgehen. Nur die Lehrerinnen klagen darüber, wie sehr es sie anstrengt, immer gleichzeitig bremsen und antreiben zu müssen, ohne doch je allen Kindern ihrer Klasse einigermaßen gerecht werden zu können.

In vielen Klassen sind die Unterschiede noch krasser, als im obigen Beispiel, wenn etwa am Ende der Skala drei Kinder stehen, die perfekt lesen können, und am anderen Ende ein polnisches und drei türkische Kinder, die gar keinen Buchstaben kennen, kaum Deutsch sprechen und fast nichts von dem verstehen, was im Unterricht für alle gesagt wird. Soviel zu dem, was Kinder an Vorwissen in die Schule mitbringen. Sie sind höchst unterschiedlich ausgerüstet. Um zu zeigen, wie unterschiedlich auch die Haltung ist, in der Kinder den Aufgaben beim Lesenlernen begegnen, will ich drei Geschichten erzählen:

Christian kannte bald alle Buchstaben, auch die noch nicht dran waren, aber er bekam kein Wort selbständig heraus, weil er nicht aufhören konnte, jeden Buchstaben einzeln zu sprechen. Er liebte seine Buchstaben, zeichnete sie als Märchen- oder Fabelwesen, und er hatte einen wachen Verstand. Trotzdem: Zusammenlesen wollte oder konnte er nicht. Mich erinnerte das an zwei Sätze von Sten Nadolny: „Er konnte lesen, aber er vertiefte sich lieber in den Geist der einzelnen Buchstaben. Sie waren im Geschriebenen das Dauerhafte, das immer Wiederkehrende, er liebte sie." (in: Die Entdeckung der Langsamkeit)

Als ich Christians Mutter davon erzählte, fand sie einen Weg, ihm zu zeigen, was durch Lesen für ihn zu gewinnen wäre. Sie kannte die Vorliebe ihres Sohnes für gruselige Phantasien und schrieb ihm auf seine Spieltafel: „Ich will Blut ruft Dracula!" Das wurde gemeinsam erlesen, und dann gab es kein Halten mehr: Christian las und las und begann bald, Geschichten zu schreiben, alle über „Ariana auf Burg Schreckenstein".

Toni kannte die Buchstaben, verschliff sie auch richtig, war aber nicht bereit, das bei einem Wort mehr als einmal zu tun. Und beim einmaligen Hören konnte er kaum ein Wort erkennen. Alle anderen ringsum wiederholten sich, ein Wort bis zu zwanzigmal, er wollte es gleich erkennen oder gar nicht. Daß die Nachbarn sich ein Wort nach dem anderen eroberten, schien ihn nicht zu locken, sondern nur zu erbittern. Es dauerte Monate, bis er seinen Stolz oder seine Angst oder was ihn sonst hemmte, überwand und bereit war, neu erlesene Wörter mehrmals laut zu sprechen, auch wenn sie noch keinen Sinn hatten.

Nina erkannte beim gemeinsamen Üben in der Gruppe meist dann schon ein neues Wort, wenn die anderen noch daran herumbuchstabierten, machte aber seltsam fröhlich auch dicke Fehler. Schließlich fiel mir auf, daß sie kaum auf das zu lesende Wort, sondern den anderen auf den Mund schaute und horchte, was die vor sich hin murmelten. Hörte sie Au, fiel ihr Auto ein, und sie posaunte hinaus: „Auto"! Wenn die anderen ihr dann sagten, da stünde aber Auge, war sie eine Weile still, ohne doch ihre Strategie zu ändern: Sie versuchte weiter, aus dem Anfang des Wortes den Rest zu erraten. - Erst als sie beim Lesenüben so allein saß, daß sie keine Hinweise mehr aus dem Probieren der anderen gewinnen konnte, gab sie ganz allmählich ihre verhängnisvolle Strategie auf.

Das sind drei Geschichten von der Eigenart bestimmter Kinder, die etwas zu lernen hatten, was kein Fibellehrgang vorsieht. Solche unvorhersehbaren Besonderheiten gibt es in jeder Klasse, und zwar mehr als drei und auch immer wieder neue Variationen.

Vorhersehbar ist, daß es außerdem Folgendes gibt:

Kinder mit optischer Differenzierungsschwäche,

Kinder mit akustischer Differenzierungsschwäche,

Kinder, die sehr langsam sind,

Kinder mit offenbaren Sehproblemen,

Kinder mit noch unentdeckten Sehproblemen,

Kinder, die Anweisungen nicht recht verstehen,

Kinder, die ans Weghören, nicht ans Zuhören gewöhnt sind,

Kinder, denen Buchstaben immer wieder entfallen,

Kinder, die sich nichts zutrauen und sich hängenlassen,

Kinder, die bei der kleinsten Schwierigkeit aufgeben,

Kinder, die jede Aufgabe mit einer Verzögerung beginnen,

Kinder, die Belehrungen und Hinweise abwehren,

Kinder, die bei Mißerfolg oder Tadel maulen.

Vollständig ist diese Liste nicht.

Kann man den verschiedenen Gruppen parallele Spezialprogramme verordnen? - Nein, weil manches Kind mehreren Gruppen angehört. Außerdem bleiben Hemmungen, Schwächen, Behinderungen und persönliche Eigenarten oft lange Zeit unerkannt.

Manche Probleme verschwinden wie von selbst. Aber man kann sich nicht in jedem Fall darauf verlassen und zuwarten, um dann erst im zweiten oder dritten Schuljahr den anerkannt und dauerhaft Schwachen irgendeinen Förderunterricht zu verordnen. Man kann das nicht mit gutem Gewissen tun, aber man macht es in den meisten Fällen genau so, obwohl die Erfolgsaussichten für eine so späte Sonderförderung schlecht sind.

Wir trösten uns dann: Einige Kinder sind eben sehr unbegabt!

Die Frage ist, ob sie nicht bei etwas Individualisierung zur rechten Zeit tüchtige Leser hätten werden können.

Vierte Tatsache:

Lesenkönnen entwickelt sich als ein komplexes Netz von Fähigkeiten und Strategien und lebt von der spontanen Regelbildung und -erprobung. Das läßt sich nicht in einen linearen Lehrgang ordnen.

So ein lebendiges Netz ist nicht in einem Aufsatz abzubilden, weil da alle einzelnen Knoten und Stränge des Netzes nur nacheinander erwähnt und beschrieben werden könnten, falls man sie überhaupt alle erfaßt. Die Fülle der im folgenden Kapitel erwähnten Einzelheiten mag aber eine Ahnung davon vermitteln, was dieses Netz ist und wie es in uns Altlesern einmal entstanden ist, obwohl wir kaum noch etwas davon wissen. Dieses Netz entsteht allmählich, aber nicht nach und nach, Knoten um Knoten, Verbindung nach Verbindung. Es entsteht an verschiedenen Stellen zugleich, ist in manchem verborgenen Vorwissen schon angelegt. Kräftige Ausprägung eines entscheidenden Knotens läßt plötzlich tragfähige Gewißheiten wachsen, oft bis in ganz andere Bereiche des Netzes hinein. Was mit „spontaner Regelbildung“ gemeint ist, kann man beim Sprechenlernen oder bei frühen Schreibversuchen beobachten:

• Wenn ein kleines Kind fragt: „Mami, wo sind meine Schühens?" dann hat es unbewußt mehrere Regeln der Mehrzahlbildung im Deutschen (durch Umlaut, durch s, durch n bzw. en) abgeleitet, es wendet sie jetzt alle auf einmal und nur darum falsch an.

• Wenn Erstklässler verstanden haben, daß man zwar Vata und Mutta spricht, aber Vater und Mutter schreibt, kann es passieren, daß sie auch Omer und Oper schreiben, wo sie Oma und Opa .. meinen.

• Wie wirksam die Regel „a am Ende eines Wortes wird sehr oft als –er geschrieben“ sich durchsetzen kann, zeigt die Schreibung Cocer Coler im dritten Schuljahr. Da hat sie sich gegen ein tausendfach gesehenes Wortbild behauptet, und herausgekommen ist ein Fehler, der zeigt, daß da jemand um Rechtschreibung ringt.

Fünfte Tatsache:

Die meisten Kinder lernen bei uns mit einer Fibel lesen.

Das heißt aber eben nicht, daß sie es nachweislich durch die Fibel und nach der Logik des Fibellehrgangs lernen. Viele Schulkritiker haben schon behauptet, sie lernten es trotz des Fibeltrotts oder gegen ihn. Unbestreitbar ist wohl: Leseunlust und Leseversagen beweisen, daß der Fibelunterricht nicht sicher und fröhlich genug zu seinem Ziel führt. Wir müssen andere Wege gehen, die längst gebahnt, sogar schon bequem ausgetreten sind. Und außerdem: Wenn die Kinder schon von einer Fibel ins Lesen eingeführt werden, so sollte die so schön, so liebevoll gestaltet sein, wie es ein Buch nur sein kann, damit Kinder mit ihr in der Hand und vor Augen Bücher schätzen lernen und ein Maß gewinnen für alle Bücher, die sich ihnen später anbieten werden. Diese Chance, die Fibel, das erste Buch für alle Kinder, zu einer freundlichen, kräftigen und feinfühligen Umarmung durch unsere Kultur zu machen, wird geizig und phantasielos verschenkt.

Wie schön können Bücher sein!

Wie armselig sind viele unserer Fibeln!

  1. Hunderterlei und mehr muß ich lernen, bevor ich ein Leser bin

Erste Leistung:

Ich erkenne die einzelnen Buchstaben eines Wortes, d. h. ich weiß beim Anblick eines W, eines O, eines R, eines T, wie diese Zeichen heißen, welcher Laut zu jedem Zeichen gehört.

Welche Tatsachen und Zusammenhänge spielen bei dieser Leistung mit?

a) Es gibt in unserem Alphabet 26 Buchstaben.

b) Jeden gibt es zweimal, einmal als großen, einmal als kleinen Buchstaben.

c) In der Beziehung zwischen dem Großen und dem Kleinen, die zusammengehören, gibt es Variationen:

• Manche haben genau die gleiche Gestalt und unterscheiden sich nur in der Größe voneinander, nämlich: C und c, O und o, S und s, U und u, V und v, X und x, Z und z.

• Manche sind einander ähnlich, und zwar: F und f, I und i, J und j, K und k, L und l, P und p, W und w, Y und y.

• Bei manchen hat der Große eine ganz andere Gestalt als der Kleine: A und a, B und b, D und d, E und e, G und g, H und h, M und m, N und n, Q und q, R und r, T und t.

d) Manche Buchstaben haben außerhalb des Leselehrgangs - in Büchern, in Zeitungen, auf Schildern - manchmal noch eine andere Gestalt als in der Schule, das sind a, g, I und J.

e) Im Zusammenhang eines Wortes werden manche Buchstaben immer gleich gesprochen, manche aber verändern sich:

• W und w bleiben sich immer gleich: Wort, Welt, wir, Wolke, Löwe …

• O und o klingen in Wörtern auf zweierlei Weise: Mond, Sonne, Ofen, Otto, Wort, Wolke, wo …

• Dem R und r entspricht eigentlich immer der gleiche Laut, wenn sie am Anfang eines Wortes oder einer Silbe stehen, nur bilden manche Menschen diesen Laut vorne im Mund mit der Zunge, manche lassen ihn hinten im Rachen entstehen. Das klingt sehr verschieden und man muß lachen, wenn jemand das R so zu sprechen versucht, wie er es nicht gewohnt ist, es wirkt unnatürlich.

• Das r wird am Wortende oft verschluckt und verwandelt sich zusammen mit dem e zu einer Art a-Laut. Man sagt meist Vata statt Vater, Mutta statt Mutter.

• T und t sind auf den ersten Blick eindeutig erkennbar, z. B. in Tüte, Torte, Hut. Aber ist das nicht etwa derselbe Laut wie am Ende von Hund oder Hand? Da steht aber doch kein t?

f) Es gibt Menschen - die Eltern, andere Erwachsene, größere Geschwister, sogar Klassenkameraden im ersten Schuljahr - die sagen nicht W, sondern We, wenn sie doch W meinen. Sie sagen äM, wenn sie M meinen.

Das Alphabet spulen sie so ab: A, Be, Ce, De, E, äF, Ge, Ha, I, Jott, Ka, äL, äM, äN, O, Pe, Qu, äR, äS, Te, U, Vau, We, iX, Ypßilon, Zätt.

Sie buchstabieren We-O-äR-Te und meinen W-O-R-T.

Oft bekommen Eltern den Rat, vor den Ohren ihrer Schulanfänger nur zu lautieren, um die nicht zu verwirren. Aber der Rest der Welt buchstabiert weiter, und Kinder nehmen sich nicht nur die eigenen Eltern zum Vorbild. Sie müssen lesen lernen inmitten von Lesern, die die ganze Fülle dessen um sie ausbreiten, was unsere Buchstaben an Regelmäßigkeit und Variation bieten. Zu lernen ist also zu und mit den angeblich nur 26 Buchstaben: Die meisten Buchstaben klingen im Wort anders, als man sie als einzelne beim Buchstabieren nennt, und zwar sind das 21 von 26. Für den Leseanfänger bedeutet das, er muß sich immer wieder sagen: Wenn ich ein neues Wort rauskriegen will, darf ich den Buchstaben nicht auf den Leim gehen! Meist muß ich sie erst so, und dann wieder anders sprechen.

Zweite Leistung:

Ich verschleife die Buchstaben, d.h. ich spreche sie so aus, daß die Laute ineinander übergehen.

Probieren Sie das mal mit ROLLER! Und zwar so, als könnten Sie es noch nicht. Ganz langsam! Und hören sie sich selber zu dabei! - Merken Sie, wie die Laute verfließen? Das Verschwimmen der Lautgrenzen bedeutet sicher für manche Kinder, daß ihnen die klaren, mit den Buchstaben eindeutig identifizierten Laute entgleiten, weil sie nicht mehr voneinander abgegrenzt zu hören sind.

Wir alten, erfahrenen Leser hören alle einzelnen Buchstaben von WORT oder ROLLER, weil wir wissen, daß sie da sind. Eigentlich hören wir sie nicht richtig, aber wir hören genügend Hinweise auf ihre Anwesenheit, um uns sicher zu sein, welches Wort aus welchen Buchstaben gemeint ist. Dem Leseanfänger entsteht beim verschleifenden Sprechen der Buchstaben ein Geräusch ohne erkennbaren Sinn. Macht ihm dies womöglich Angst? - Er weiß ja nicht einmal, ob er das Lautgebilde richtig rausbringt, geschweige denn, was es bedeuten soll.

Wenn es um diese Leistung geht, wenn das Verschleifen der Einzellaute zu lernen ist, gibt es die meisten Klagen von Eltern und Lehrern: „Er will nicht!“ - „Sie traut sich nicht!“ - „Er versteht nicht, was er tun soll!“

Noch einmal: Der Anfänger weiß nicht, ob das Irgendwas, das sich ihm beim Verschleifen der Buchstaben entringt, das richtige Geräusch ist! Er muß es aber, um es selbst hören zu können, laut werden lassen, wieder und wieder. Und es tönt ihm noch so dumm!

Wenn man da nicht verzagen will, braucht man Ermutigung durch einen zuhörenden Altleser, der auch selber einmal so liest wie der Anfänger oder bestätigt, daß das Irgendwas schon fast richtig tönt. Oft springen da Eltern bei, wenn sie sehen, daß ihr Kind sich mit den Hausaufgaben quält. Aber viele Kinder bleiben in dieser Not allein, wenn nicht die Schule hilft, die Lehrerin etwa so ein Kind auf den Schoß nimmt, oder sich für ein Weilchen daneben setzt und alle anderen vergißt. Möge sie im rechten Augenblick die Not sehen und auch Zeit haben, sich ihr zuzuwenden!

Dritte Leistung:

Mir fällt die Ähnlichkeit des Irgendwas mit einem mir vom Hören - Sagen bekannten Wort ein. Plötzlich weiß ich: Das ist es! Hurra! - Das Irgendwas hat seine eigene, unverwechselbare Identität bekommen und heißt Roller.

Diese dritte Leistung ist, wenn sie die ersten Male gelingt, immer ein Triumph und ein Glück. Sie ist anfangs sehr schwer zu erreichen, es geht entsetzlich steil bergauf. Wieviel von dem Triumph dem Anfänger selbst gehört, wieviel Glück er empfindet, wieviel Stolz er gewinnt - das hängt oft vom Verhalten des Altlesers ab, der helfen will. Er muß auf dem letzten, steilsten Wegstück zum Gipfel neben dem sich plagenden Anfänger bleiben, muß geduldig sein und keine größeren Schritte machen als der Kleine, darf höchstens mal für einen Moment ihm die Hand unter den Hintern halten, damit er nicht wieder runterrutscht, darf aber nicht richtig schieben oder ziehen, indem er das richtige Wort schon mal vorsagt.

Vorangehen und von oben ein bißchen winken, das geht schon mal. Aber das „Aha!“, das soll dem Anfänger bleiben, das macht ihn lesestark und immer auch etwas lebenstüchtiger, weil selbstbewußter und mutiger.

Wie winkt man von oben? - Wenn ein Kind zu mir kommt und sagt: „Da steht doch Hose, aber was heißt das?“, dann zupfe ich ganz leicht an seinem Hosenbein und freue mich an dem Lächeln, das auf seinem Gesichtchen erscheint, gefolgt von einem strahlenden: „Ach so! Hose!“ Nun wäre zu überlegen: Reichen diese drei großen Leistungen zum Erlesen zunächst von Wörtern?

Nehmen wir zur Probe Teile unseres Körpers und sprechen sie möglichst lauttreu aus: Kopf (welches o?), Nase, Mund (?), Auge (A-u-g-e?), Zunge (Zun-ge), Kinn (Wie denn zwei n hintereinander sprechen?), Ohr (Schwer mit diesem -h-!), Stirn (Schdirn ?), Hals, Brust, Bauch (Ba-uch ?.), Bein (Be-in ?), … Es reicht nicht!

Also: Zu den zweimal 26 Lautzeichen des Alphabets kommen noch die besonderen Laute für Au und au, für Ei, ei und ai, für ie, für ng und nk. Ein C oder c kann wie z oder k gesprochen werden, wie in Circus. Mit einem h zusammen klingt es in Christine wie k und in Chicoree wie sch, in lächeln und lachen aber noch zweimal anders, und mit S oder s und h zusammen entsteht auch ein sch.

Haben wir alles? Nein! - Ä und ä, Ö und ö, Ü und ü fehlten noch. Und das ß, das man so spricht, wie manchmal das s. Ach ja: Ph und ph! Phantasie! Und dann Y und y, die tönen im Wort mal wie ü, mal wie j, mal wie i.

Meine Güte: Sp und sp (Gesprochen schb, aber nicht immer) und St und st (Gesprochen scht, aber auch nicht immer) gehören noch her! -

Ich hoffe, jetzt ist nichts mehr unerwähnt geblieben!

Vierte Leistung:

Ich erlese die Wörter eines Satzes, eins nach dem anderen, halte sie im Gedächtnis fest und verstehe am Ende des Satzes, was er mir sagt.

Als Altleser meint man, es ginge nur darum, dem Satz die darin enthaltene Aussage zu entnehmen. Das muß man tun, und es ist anfangs schwer genug, über dem zweiten Wort das erste nicht zu vergessen und über dem dritten nicht das erste und zweite usw. und gleichzeitig die Wörter aufeinander zu beziehen, so daß im Lesenden so etwas wie ein Bild dessen entsteht, was der Satz sagt, ein Bild gezeichnet in Denkbewegungen. Aber beim Lesenlernen muß man zugleich noch anderes tun. Wir Altleser können die Einzelworte an der Oberfläche unseres Bewußtseins halten, bis der Satzbogen vollendet ist. Dann setzt sich das Ganze und wir verstehen, was der Satz uns sagt, ohne daß ein Übermaß an Assoziationen zu den einzelnen Wörtern stört.

Der Leseanfänger verweilt viel, viel länger als wir beim einzelnen Wort, und er assoziiert damit auch viel mehr, viel aktiver und intensiver als wir geübten Leser. Um den Wörtern durch den Satz folgen und den Sinn des Satzganzen entwickeln zu können, muß er ständig Assoziationen nicht nur knüpfen, sondern andere gleichzeitig zurückdrängen.

Nehmen wir z.B. den Satz:

Der Ball rollt zu Evi.

und stellen uns vor, wir wären Leseanfänger: Was fällt uns alles ein, wenn wir das Wort Ball erlesen haben! - Alles, was wir mit Bällen erlebt haben und als Erinnerung in uns tragen, meldet sich zumindest von ferne. Aber das soll jetzt unwichtig sein, es stört.

Der Ball rollt . . .

Er darf in unserer "Vorstellung genau nur das tun, darf nicht springen, nicht fliegen, nicht glänzen. Wichtig ist nur, daß er rollt, das haben wir dem Satz entnommen. Er darf aber nicht unter den Schrank oder den Berg hinab rollen, denn da steht:

Der Ball rollt zu Evi.

Du magst Evi nicht? - Die Evi ist doch nicht gemeint! Du würdest den Ball lieber zu Jan rollen lassen, mit dem du gestern so toll Fußball gespielt hast? - Jan kommt nicht vor in diesem Satz. Evi kriegt den Ball! Die Fibel Evi!

Noch einmal:

Man muß beim Lesen eines Satzes zugleich und nacheinander Assoziationen zulassen, auslesen, verdrängen und verknüpfen, um hinter seinen Sinn zu kommen.

Fünfte Leistung:

Ich erkenne die Beziehungen zwischen den Sätzen eines Textes, einer Geschichte etwa, und versetze mich in das geschilderte Geschehen, während ich mich ihm gleichzeitig gegenüberstelle.

Weil das so schwierig ist, sollten die ersten Sätze und Texte dem Lesenden entweder etwas erzählen, was er selbst erlebt hat oder etwas, worin er sich verwandelt wiederfindet, oder aber etwas ganz Neues, was ihn für die Mühe des Erlesens mit einer Erweiterung seines Horizontes belohnt.

Viele banale Fibeltexte bieten weder das eine noch das andere.

Sechste Leistung:

Ich beginne, Bücher zu lieben.

Das kann ja wohl nur geschehen, wenn ich Zugang zu Büchern habe, die meine Liebe wert sind. Solche Bücher sollten in einem Buchland wie Deutschland in jeder Klasse stehen. Werden nun alle diese Leistungen in den ersten beiden Schuljahren von den Kindern Schritt für Schritt erworben, ihnen systematisch beigebracht oder abverlangt?

Nein!

Die Zeit, die sie in der Schule verbringen, würde nicht reichen, all das gezielt zu vermitteln und zu überprüfen. Und es ist auch gar nicht nötig!

  1. Felix und Felicitas lernen lesen

Für Felix und Felicitas, die glücklichen Leseanfänger, genügt es, daß sie

• ein paar Buchstaben kennen,

• erfahren haben, daß es Wörter gibt, die aus diesen Zeichen zusammengesetzt sind,

• ein paarmal eine Reihung der ihnen bekannten Buchstaben zu einem Irgendwas verschliffen haben,

• das Irgendwas jeweils als Äquivalent eines ihnen vertrauten Wortes erkannt und

• das Aha! und die Freude bei dieser Identifizierung als Lohn für die eigene Mühe erlebt haben.

Jetzt wollen sie mehr davon!

• Sie buchstabieren und verschleifen, was ihnen an Wörtern vor die Augen kommt:

S - SU - SUP - SUPE - SUPER - SUPER - Super!!! - SUPER MA - Supermarkt!!! - Da waren sie schon oft drin, den kennen sie. Klar, da steht’s: SUPERMARKT. Supermarkt!

Der Zusammenhang mit der eigenen Lebenserfahrung hilft, das Wort zu vollenden und zu identifizieren, weil er ihm den Sinn unterlegt.

• Kommen in einem neuen Wort Buchstaben vor, die Felix und Felicitas noch nicht kennen, so ergibt sich ihnen der zugehörige Laut oft aus dem Zusammenhang des Wortes, sie schließen von dem, was sie erkennen und dem wahrscheinlichen Sinn des Wortes auf den fehlenden Laut.

Geht das nicht, dann fragen sie jemanden: ein anderes Kind, vielleicht ein Bild mit Wort daneben, in dem der Unbekannte auch vorkommt, oder sie fragen einen Altleser, irgendeinen Erwachsenen. So erobern sie sich ein Wort nach dem anderen und ergänzen nebenbei ihren Buchstabenschatz.

Vieles scheint Felix und Felicitas, den glücklichen Leseanfängern, zuzufliegen. Sie schnappen es irgendwo auf, sie denken es sich, leiten es sich bewußt oder unbewußt ab aus dem, was sie schon wissen, erfahren es durch Zuhören und Beobachten, klären es durch Ausprobieren und Nachfragen. Ihre Muttersprache haben sie ähnlich gelernt, ohne jeden planmäßigen Unterricht.

Kinder, die über ihre Geisteskräfte frei verfügen können, die nicht im falschen Augenblick gezerrt oder geschoben werden, denen man nicht fortwährend das Weiterdenken oder das Nichtverstehen verargt, lernen sehr viel mehr, als wir ihnen absichtlich und planvoll beibringen könnten. Wenn wir sie nicht hemmen durch Ungeduld, durch eine Atmosphäre von Druck und Zwang, durch Konkurrenz, durch Einschränkung ihres Denkens mit unnatürlichen Lernvorschriften, lernen sie das Lesen so sicher, wie sie das Sprechen gelernt haben.

Was ist denn wohl von folgender Geschichte zu halten? - Ein Kind aus der Parallelklasse kommt zu uns, schaut an die große Tafel und sagt: „Da steht Zirkus, aber das kann ich noch nicht lesen, wir hatten das Zett noch nicht.“

Es hat mehr gelernt, als es sollte oder durfte, aber es rechnet sich das gar nicht recht als Erfolg an. Es hat den Fibellehrgang längst überholt, macht aber im Unterricht die Trippelschrittchen, die seine Lehrerin verlangt. Ob die soviel Großmut zu schätzen weiß?

Felix und Felicitas lesen überall, wo etwas in großen, klaren Buchstaben geschrieben steht. Und sie greifen bald nach Büchern, am liebsten nach solchen mit ganz wenig Text auf jeder Seite. Möglichst groß gedruckt soll der Text sein. Der Kleindruck von Lexika, der auch schon Kinder fasziniert und ins Lesen gelockt hat, die uns dann später als Literaten begeistert davon schwärmen, ist für so wenige Anfänger als erstes Lesefutter geeignet, daß wir ihn der persönlichen Entdeckung überlassen wollen.

Felicitas und Felix blättern gerne um! Ein Satz je Seite genügt für den Anfang, nach sechs Seiten darf das Buch zu Ende sein. Felix seufzt, wenn er sein erstes selbstgelesenes Buch schließt: „Und jetzt lese ich noch viele Bücher!“ Wenn Felicitas das Buch noch nicht kennt, wird er es ihr empfehlen, er wird auch selbst noch mehrmals zu ihm zurückkehren, auch wenn es nur eine ganz kleine Geschichte erzählt von einer Wespe auf dem Honigbrot, die wieder wegfliegt.

Später wählen die beiden Lesekinder Bücher mit einem kurzen Absatz je Seite. Dann dürfen es schon zwei Absätze sein. Bald ist auch eine ganze Seite Text keine Zumutung mehr. Am Ende entscheidet nur noch das Interesse am Thema des Buches, ob es gelesen wird. Kommt es wirklich je endgültig soweit? Wenden nicht auch wir Altleser uns lieber und neugieriger Büchern zu, die uns durch leserfreundliche Gestaltung entgegenkommen? Blättern wir nicht auch gerne um?

Unsere Fibeln wissen von solchen Gelüsten nach schöner, lebendiger, großer Schrift, nach leerem Raum um das Gedruckte herum zum Ausruhen und Nachdenken, nach Umblättern im Rhythmus der Gedankenbögen des Textes nichts oder fast gar nichts. Die Lektoren sollten es wohl ahnen, aber sie müssen sparen. So sind denn in den Fibeln die Schriften meist viel zu klein und die Seiten zu voll. Und in der Regel begegnen sie den Kindern mit kalten, lieblosen Groteskschriften, die vielleicht testnachweislich schneller zu entschlüsseln sind, aber nicht durch Schönheit und Wärme zum Verweilen einladen und Liebe zum Buch stiften.

Ist das Leseabenteuer von Felix und Felicitas im Regelschulunterricht zu verwirklichen, d. h. zu organisieren für eine Gruppe von 20 bis 30 Kindern? Es ist möglich. Und es geschieht längst tausendfach! Es macht den Kindern und ihren Lehrerinnen große Freude. Und es wirkt ansteckend. So kann man heute in wohl jeder Gruppe von Lehrerinnen der ersten Klasse mindestens eine finden, die sich vom Fibeltrott endgültig losgesagt hat und einen Leseunterricht praktiziert, der sich für theoretische Begründungen zwar interessiert, aber den Eifer und die Freude, das Lächeln und den Ernst von Kindern beim Lernen für beweiskräftiger hält als jedes noch so sehr in sich schlüssige Theoriekonzept, das verlangt, daß sich die Wirklichkeit nach ihm richte.

Aber die Regel ist immer noch der Leseunterricht mit der Fibel. Er wird am Leben und in den Schulen gehalten durch vielerlei Ängste:

Die Angst der Lehrerinnen vor dem Neuen, Ungewohnten. Die Angst der Schulbehörde, nicht mehr wie gewohnt kontrollieren zu können, was im Unterricht geschieht. Die Angst von Fibelautoren und -verlagen, nicht mehr jahrelang dieselbe Fibel in hohen Auflagen verkaufen zu können. Die Angst aller Beteiligten vor dem Umlernen. Vor allem aber die Angst vor der Lebendigkeit der Kinder.

Nur: Es kann wunderbar sein, mit Leselernkindern selbst lebendig zu bleiben!

  1. Leseunterricht ohne Fibeltrott ist möglich und erprobt

Im Folgenden werde ich zeigen, wie ich selbst seit Jahren Erstleseunterricht organisiere bzw. inszeniere mit einer Mischung aus Erlebnissen, Erfahrungen und Aufgaben für die ganze Klasse gemeinsam und Aufgaben und Übungen in der Freien Arbeit, die die Kinder sich selbst wählen. Diese Methode hat sich in einer reflektierten Praxis allmählich entwickelt und ist mehrmals mit soviel Vergnügen und Erfolg für Kinder und Lehrerin erprobt worden, daß ich sie mit gutem Gewissen weiterempfehlen kann. Auch bei Kolleginnen, die oft nach jahrelangem Fibelunterricht mit einem freieren Leseunterricht beginnen wollten, hat sich das Maß an fester Struktur und Bewegungsfreiheit, das sich mit dieser Methode ergibt, bewährt. Die Lehrerinnen können sich mit den Kindern zusammen von einem klaren, verbindlichen Einstieg her allmählich freischwimmen in Lernvorhaben und -methoden, die sich aus ihren eigenen Möglichkeiten und Bedürfnissen entwickeln. Die verschiedenen Aufgaben und Strategien des Lesenlernens werden hier als neun Phasen beschrieben, die nacheinander einsetzen und wie die Melodien eines Quodlibets sich gleichzeitig erklingen, wobei mal die eine, mal die andere Melodie das Ganze dominiert.

Erste Phase:

Kinder begegnen drei bedeutsamen Worten: Wort, Welt, wir.

Am ersten Schul tag bekommen die Kinder die erste Wortkarte, einen Kartonstreifen (halbe Postkarte quer) in die Hand, auf der steht:

Wort

so groß wie möglich in dicker Schrift. Ich sage ihnen, was das heißt, daß sie in der nächsten Zeit viele Wörter gut kennenlernen und schließlich lesen lernen werden, und bitte sie, mir Wörter zu nennen. Die schreibe ich an meine große Tafel rings um ein riesiges Wort. Dann schreibe ich jedem Kind ein Wunschwort in sein erstes Heft; dazu gibt es die Aufgabe: „Zeichne das, was mit deinem Wort gemeint ist!“ - Die Hausaufgabe an diesem Tag: „Schreibe das Wort Wort mehrmals ins Heft. Du kannst es von der Wortkarte abschreiben oder sie unterlegen und durchschreiben.“

Am zweiten Schultag gibt es die Karte mit Welt. Wir sprechen im Kreis über das, was wir wissen von der Welt, was uns da freut oder ärgert, singen ein Lied über die Farben der Welt und dann bekommt jede Tischgruppe (immer vier oder sechs Kinder) ein großes rundes Zeichenblatt, darauf steht Welt. Am Boden sitzend oder bäuchlings malen die Kinder dann mit dicken Kreiden auf ihr Blatt, was ihnen wichtig ist auf der Welt. Dabei wird viel geschwatzt, man lernt einander kennen.

Hausaufgabe: Schreibe mehrmals Welt und zeichne deine Wunschwelt.

Am nächsten Tag kann man die Wunschwelten in der Gruppe besichtigen und sich gegenseitig erklären.

Am dritten Tag gibt es das Wort wir, und das meint natürlich uns in der Klasse. Wir üben im Kreis, uns auf möglichst viele Namen zu besinnen.

Ich rufe alle Kinder und sie antworten mit einem Zeichen: Klatschen, Summen, Pfeifen, Rascheln, Piepsen - alle anderen wiederholen es wie ein starkes Echo. Ich hänge eine Riesenliste mit allen Namen an die Wand. - Jedes Kind bastelt einen Rundling, sein putziges Ebenbild: Ein Kreis aus Karton bekommt Arme und Beine und vielleicht Haare angeklebt und ein Gesicht aufgemalt. Jedem Rundling klebe ich hinten einen Haftstreifen an, so daß der ganze Schwarm an der Filztafel versammelt werden und immer wieder anders geordnet werden kann, z.B. für Mathematik. Hausaufgabe: „Schreibe mehrmals wir und zeichne das, was das daheim bedeutet: deine Familie! Ja, auch den Hund oder deinen Vogel, wenn du magst.“

Warum grad Wort, Welt und wir als erste Wörter?

• Sie sind einander so ähnlich, daß es eine Aufgabe ist, sie zu unterscheiden und z.B. immer die Karte zu heben, die aufgerufen wird. Dabei sind sie doch so verschieden, daß man sie bei etwas Aufmerksamkeit richtig unterscheiden kann, und zwar nicht durch Vergleich ihrer Gestalt im Ganzen, sondern durch einen Blick auf den zweiten Buchstaben in jedem Wort.

• Sie bekommen für alle Kinder der Klasse ihre besondere Bedeutung im gemeinsamen Erlebnis der ersten Schultage, sie verbinden uns.

• Sie weisen uns die Richtung, in die wir miteinander gehen werden bzw. deuten so etwas wie einen philosophischen Hintergrund für unsere Gemeinschaft an.

Zweite Phase:

Der erste Buchstabe wird gewonnen und in neuen Wörtern wiedergefunden.

Meist am fünften Schultag, dem Montag der zweiten Schulwoche, gewinnen wir aus unseren drei ersten Worten das W. Es eignet sich für die Rolle des ersten Buchstabens aus mehreren Gründen:

• Seine Gestalt ist eindeutig, und der Große und Kleine unterscheiden sich ein wenig, nur ganz wenig, man muß genau hinsehen.

• Man kann das W im Wort immer hören, und es klingt immer gleich, auch wenn es nicht am Wortanfang steht

• Man sieht der Mundstellung das W an (den Nachbarn oder sich selbst im Spiegel beobachten!)

• Und man fühlt es brummen, wenn man es spricht. Es ist uns also vielfältig erkennbar.

Jetzt suchen wir andere Wörter mit W:

Wippe, Waage, Wolke, Wurst …

Jedes solche Wort kann ein Erlebnisthema werden:

Wir bauen eine Wippe aus Linealen und Stiften und lassen Radiergummis wippen.

Wir probieren die Waage aus dem Lehrmittelzimmer aus.

Wir kleben ein Wolkenbild, weißes Seidenpapier gerissen aufhellblau geklebt.

Jedes Kind bringt ein Pausenbrot mit Wurst mit, alle werden in Häppchen geschnitten, so kann man viele Wurstarten kosten und fremde Lieblingswurst kennenlernen.

Wir kosten das W in einem Vers: Wippe

Warte ein Weilchen, auf geht es und nieder.

Warte ein Weilchen, gleich schwebst du wieder.

Hausaufgabe: „Geh zum Spielplatz und probiere dort die Wippe aus, am besten mit Freunden aus der Klasse.“

Dritte Phase:

Die nächsten sechs Buchstaben werden im gemeinsamen Unterricht eingeführt und geübt mit bedeutsamen Wörtern, Erlebnissen, Schreibaufgaben, Mitbringseln, Erkennungsübungen und Versen.

Der zweite Buchstabe, er beschäftigt uns nicht so lange wie der erste, ist das O und o. Es wird geschrieben, wie vorher auch das W und w.

Es wird auch gefeiert: Ich bringe vielleicht diese niedlichen, winzigen Tomaten mit, lasse jedes Kind einmal ganz langsam Tomate sagen und schiebe ihm beim o eine Tomate zwischen die gerundeten Lippen. Oder ich bereite große 0-Ringe aus Karton vor, die die Kinder bemalen und mit Ritter bekleben, um sie dann als Ohrring heimzutragen. Oder wir schälen und teilen und essen Orangen.

Hausaufgaben: Suche aus deinen Sachen etwas heraus, was so klein und hübsch ist, daß du es in der Hand verstecken, sie einem anderen Kind hinhalten und langsam öffnen kannst, so daß das Oooo! sagen muß.

Wir memorieren den Vers:

Die Sonne hoch vom Himmel lacht.

Der Mond scheint einsam in der Nacht.

In Sonne und Mond wird das o mit gelbem Stift in das passende Gestirn verwandelt. Die beiden Wörter stehen jedes am Kopf einer Heftseite (Doppelseite), und beide Seiten werden jetzt mit o vollgeschrieben, immer abwechselnd eins unter Sonne, eins unter Mond. Jedes o wird laut so lange gesprochen, wie der Stift sich bewegt, und zwar mit ganz offenen Lippen unter Sonne, mit halb geschlossenen Lippen unter Mond. Das tönt sehr verschieden, besonders wenn die ganze Klasse zugleich spricht, so daß wir alle in Tönen baden.

Das O und o ist unser Musterbeispiel dafür, wie man sich hüten muß vor Buchstaben, die sich von Wort zu Wort verwandeln. Wie Ronja Räubertochter üben wir es, uns zu hüten, indem wir mit der Gefahr spielen.

R und r, die nun folgen, sind von sehr verschiedener Gestalt. Um sie zu feiern, kann man Roller fahren auf dem Pausenhof, Rätsel raten, Radio hören oder Zungenbrecher nachsprechen mit einem R wie Jocki es spricht, so mit der Zunge gerollt, und sich dabei kaputtlachen.

Am liebsten ist es mir, wir schleichen uns kurz vor der Pause vor ein bestimmtes Klassenzimmer. Da drinnen unterrichtet unser Rektor, der hat vorne ein R und hinten ein r. Auf der Wortkarte und an der großen Tafel haben wir es gesehen.

Es gongt, die Türe geht auf, Kinder kommen raus: „Das ist er nicht, Das ist er nicht. Das ist er nicht … Das ist er!" (Nächstes Jahr bekommt er vorn und hinten ein R bzw. r umgehängt, ich schwör's!) Er begrüßt uns, zeigt uns sein Rektorat mit der Sprechanlage, wir rennen in die Klasse zurück und er macht eine Durchsage nur für uns. - Unser Rektor!

Der Vers vom R und r:

Rrrr –

Rrrr -

Ruf mal an!

Hallo, hallo!

Wer ist dran?

Du kennst die Stimme.

Rate!

Ich weiß schon:

die Renate!

Die Kinder bekommen an diesem Tag die Liste mit allen Namen und Telefonnummern der Klasse in großer Schrift mit heim und die Aufgabe: „Rufe das Kind an, dessen Namen du gezogen hast. Das soll raten, wer du bist.“ Am nächsten Tag wird berichtet und der Vers als Lied gesungen, immer weiter; jedesmal mit dem Namen eines der Kinder. (Dies ist eine Luxus-Aufgabe, die nur möglich ist, wenn alle Kinder Telefon haben).

Der Vers zum vierten Buchstaben, zu T und t:

Tante Grete ist etepetete.

Sie jammert, wenn es kracht.

Sie zetert, wenn man lacht.

Sie fürchtet sich vor Dreck.

Sie ekelt sich vor Speck.

Tante Grete ist etepetete.

Zur Feier des T werden Türme gebaut (auch als Hausaufgabe daheim im Kinderzimmer) oder es werden Tüten geklebt, mit Tüte beschriftet und mit zwei Löffeln Buchstabennudeln und einem Teelöffel gekörnter Brühe gefüllt für eine Portion Lesesuppe. Oder es wird Tee gekocht und getrunken.

Wir haben Wörter mit Ww, Oo und Rr in der Schule gesucht: im Wortgedächtnis, in der Bildersammlung, auf Arbeitsblättern, im Grabbelkorb mit Krimskrams. Jetzt ist die Aufgabe möglich:

„Bringe etwas von daheim mit, in dessen Name ein T oder t vorkommt, verstecke es morgen früh unter deinem Pulli und laß uns im Kreis raten, was du mitgebracht haben könntest.“

Alle Mitbringsel werden dann für einen Tag in einer Ausstellung aufgebaut.

Das Prinzip für diese Aufgabe haben die Kinder schon an meiner Buchstabenpyramide kennengelernt: Für jeden Buchstaben habe ich ein Plexiglaskästchen mit einer passenden Niedlichkeit aufgestellt.

Vierte Phase:

Aus den ersten Buchstaben werden neue Wörter gebildet und so weit wie möglich selbständig erlesen.

Die dritte Phase läuft weiter.

Jetzt haben wir vier Buchstaben beieinander: W-O-R-T, Wort. Sie lassen sich umordnen, und wir lesen: rot, Tor, Otto, wo, Rotor. Wir lesen, heißt hier: Ich stelle die Wörter an der Tafel vor, dann bekommt jedes Kind ein Blatt mit denselben Wörtern. Sie sind groß untereinander geschrieben. Das Kind malt jeden Buchstaben, den es erkennt, farbig nach. Wenn es ein Wort rausbekommt, malt es ein Sternchen dahinter. (Mit Sternchen quittiere ich in den Heften jede gelungene Aufgabe). Auf dem Blatt steht auch Torte, obwohl wir das e noch nicht gemeinsam kennengelernt haben. Wer bis Tort- kommt, errät das e, wenn er es nicht schon von alleine kennt.

E und e ist unser nächster Buchstabe, der zweite in Welt. Am E-Tag ist Elternabend.

Jedes Kind knetet am Vormittag sich selbst aus Plastilin und versteckt sein Abbild mit Namensschildchen irgendwo im Klassenzimmer. Die Eltern müssen abends ihr Kind suchen und dann sich selbst dazukneten. Mancher murrt erschrocken, alle tun es schließlich, die meisten mit Vergnügen. Die Kinder sind selig überrascht am nächsten Tag. Josef nimmt einen Plastikklumpen mit heim, damit seine Mutter, die nicht zum Elternabend kommen konnte, sich auch knetet.

Vor E und e muß man sich übrigens hüten, die tönen immer wieder anders, in Eltern wie zwei verschiedene ä.

L ist natürlich mein Buchstabe: Lehrerin gibt es als Wortkarte und reichlich Zeit, mich so zu zeichnen, wie ich an diesem Tag angezogen bin: recht bunt. Ich habe sogar lila Fingernägel, und jedes Kind bekommt den kleinen Nagel der linken Hand auch lila lackiert: lila links! Das ist jetzt ein Not- und Zaubernagel, den man beim Lernen reibt, wenn es schwierig wird oder die Geduld auszugehen droht. Dann soll es wohl wieder flutschen! Nebenbei lernen so alle Kinder, die links und rechts noch verwechseln, welches die linke Hand ist: die mit dem lila Finger links.

Jetzt fehlt nur noch das I und i!

Es wird mit einer Igel-Betrachtung, dem Streicheln einer Igel-Frisur oder einer Igittigitt-Geschichte verknüpft, und natürlich wird es auch allein und in Wörtern geschrieben.

Drei, vier oder fünf Wochen sind vergangen. Unsere drei ersten Wörter sind in Buchstaben zerlegt, jeder Buchstabe ist mit fröhlicher Gemeinsamkeit angefüllt, als Schreibfigur eingeübt, in vielen Wörtern wiedergefunden worden. Eine Fülle von Erlebnissen und Übungen (es sind mehr, als hier erwähnt werden konnten) haben die Kinder zu einer Klasse werden lassen, einem sozialen Organismus, der ein gemeinsames Gesicht bekommt und in dem doch jeder einzelne deutlich zu erkennen und allen bekannt ist.

Fünfte Phase:

Täglich gibt es eine Zeit der Freien Arbeit, in der die Kinder zwischen verschiedenen Aufgaben wählen können.

Die dritte und vierte Phase laufen weiter, Buchstaben und Wörter werden gesammelt.

Wer mag, beginnt jetzt mit seinem Lesekurs. Das sind 37 durchgezählte Blätter.

Das erste Blatt zeigt in zwei Spalten alle Wörter, die sich aus unseren sieben Buchstaben bilden lassen. Auf dem zweiten Blatt kommt das S und s hinzu, so sind andere Wörter möglich. Auf dem dritten Blatt spielt auch das M und m mit, das ergibt wieder neue Wörter. Wer auf Blatt 1 alles erlesen, alle Sternchen gewonnen hat, zeigt es mir. Ich lobe, frage vielleicht nach, unterschreibe. Das Blatt wird abgeheftet. Dann kann Blatt 2 erarbeitet werden. War der neue Buchstabe unbekannt, wird er erfragt und ist am Ende des Blattes schon recht vertraut. So folgt Blatt auf Blatt, Buchstabe auf Buchstabe.

Viel wäre zu sagen zur Wortauswahl, zur Notwendigkeit von Kontrolle, zur Ehrlichkeit, aber das führte hier zu weit. Eins aber sei gesagt: Die meisten Kinder bearbeiten diese Blätter sehr gewissenhaft, die Mogler, die unverdiente Sternchen malen, fallen bald auf. Meist mogeln sie nicht bewußt, sondern spielen Lesen. Sie bekommen besondere Erklärungen, auch seelische Unterstützung, dafür habe ich genügend Zeit während der Freien Arbeit. Schließlich findet jeder seinen Weg in die verantwortungsbewußte Selbständigkeit.

Neben dem Lesekurs gibt es in der Freien Arbeit allerlei Übungsmaterial und Lesespiele. Sie sind selbstgebastelt oder stammen aus dem inzwischen vielfältigen Verlagsprogramm für diese Art Unterricht. Und während ein Teil der Klasse lesen übt, rechnen, zählen und malen die anderen.

In der Freien Arbeit kann jedes Kind sich dem Bereich seines Netzes zuwenden, der grad besonderer Mühe und Pflege bedarf, damit das Ganze fester und sicherer wird oder auch dem Bereich, in dem es sich mit besonderem Vergnügen an der Aufgabe oder an seinen eigenen Kräften bewegt.

Ein Beispiel: Manches Kind greift immer wieder zu Stöpselkarten, mit denen es seine akustische Differenzierungsfähigkeit üben kann - weil es da noch nicht sicher, ist oder weil es das grad gelernt hat und sich dran freut oder weil es sich, nun im Vollbesitz der Fähigkeit, wohlig daran erinnern möchte, wie es sie erworben hat.

Es soll nicht verschwiegen werden, daß manches Kind erst in der Freiarbeit lernt, daß Freiheit und Verantwortung Zwillinge sind. Weil das noch nicht jedes Kind weiß bzw. sich noch nicht entsprechend verhalten kann, ist immer auch das Verantwortungsgefühl der Lehrerin spürbar, die ein Schwänzen kritischer Bereiche nicht über längere Zeiten zuläßt und auch darauf sieht, daß jede angefangene Arbeit beendet wird, eh man mit einer neuen beginnt.

Sechste Phase:

Bücher werden nicht nur angeschaut, sondern gelesen.

Die zweite, dritte und vierte Phase laufen weiter.

Ein besonders wichtiges, geliebtes Übungsmittel für die Freie Arbeit sind die Goldenen Bücher. In zwei Kästen haben wir 100 Bücher, alle mit einer goldenen Nummer gezeichnet von 1 bis 100. Für jedes Kind gibt es in einem Ringbuch eine große Karte mit einem kopierten 10 x 10 Gitter, mit den Zahlen 1 bis 100. Wer eins der Goldenen Bücher gelesen hat, malt das Feld aus, in dem die Nummer des Buches steht. Die Bücher sind zur Hälfte kleine Bildergeschichten, auf sechs bis acht Kartonblätter geklebt, zu jedem Bild ist ein Satz sehr groß geschrieben, das Ganze mit einem Titelblatt versehen und mit buntem Faden zusammengeheftet. Die andere Hälfte der Goldenen Bücher sind Bilderbücher mit wenig Text in großen Buchstaben.

Für jedes Kind kommt irgendwann im ersten Schuljahr, manchmal auch erst im zweiten die Zeit, wo es während der Freiarbeit nichts anderes tun will, als Goldene Bücher zu lesen. Was dann in ihm erwacht ist und nach Nahrung verlangt, möge der Altleser sich aufgrund eigener Leselusterlebnisse ausmalen.

Die Leseecke mit Sofa, Kissen, Teppich und vielen, vielen Büchern ist auch eine Aufgabe, kein Ort des Lümmelns. Ich bestehe darauf, daß dort Stille herrscht, damit jeder im Trubel des Vormittags auch Gelegenheit hat, sich zurückzuziehen und ein wenig Ruhe zu finden. Zur Aufgabe gehört, daß man sorgsam blättert, daß man die Bücher schont und daß man auch dann, wenn man ein Buch nur anschaut, sich Zeit läßt für jede einzige Seite. Außerdem müssen alle Bücher an ihren Platz zurückgestellt werden. Diese Disziplin fällt vielen Kindern schwer, ist aber wichtig über die Schule hinaus.

Siebte Phase:

Texte auf einzelnen Blättern werden von allen erlesen und vorgelesen und in einer Mappe gesammelt. In ihnen finden sich gemeinsame Erlebnisse und Probleme wieder.

Dazu kommen Gedichte und Sachtexte, die über die eigene Erfahrung oft weit hinausführen.

Das setzt schon Während der vierten Phase ein und gewinnt mit der Zeit an Raum.

Solche Texte zu üben ist bald eine regelmäßige Hausaufgabe. Am nächsten Tag liest jedes Kind vor, wird in dem, was es kann, gehört und ernstgenommen. Unterschiede zwischen den Kindern werden bemerkt und erklärt. Wer schon länger lesen kann, liest natürlich flüssiger. Der Langsamere soll sich nicht davon entmutigen lassen; ihm wird versprochen, daß er aufholt, wenn er tüchtig übt. Die ersten gemeinsamen Texte sind sehr einfach, wenige Wörter wiederholen sich mehrmals. Es ist nicht selbstverständlich für einen Leseanfänger, daß dasselbe Wort an anderer Stelle des Textes wirklich dasselbe Wort ist bzw. es dauert bei vielen Kindern sehr lange, bis sie ein mehrmals auftauchendes Wort locker wiedererkennen und nicht mehr - sicher ist sicher! - Buchstabe für Buchstabe jedesmal neu erlesen.

Die anspruchsvollen Texte, die später folgen, halten die Neugier auf all das wach, was im Laufe eines Lebens zu lesen sein wird. Und sie beschenken uns mit einem seelischen und geistigen Reichtum, der glücklich macht. Da verbinden sich dann zwei Dinge: Da jedes Kind soll vorlesen dürfen, kann ich nur Texte ausgeben, die ich mir auch gerne fünfundzwanzigmal anhören mag. Das schützt uns vor Texten, die leer und platt sind, Da sie so oft vorgelesen werden, jeder mitliest und sie immer wieder von einem anderen Menschen hört, der ihm vertraut ist und dessen Beziehung zu den Worten in der Stimme mitschwingt, erklären sich auch schwierige Zusammenhänge im Zuhören. Man muß sie nicht zerreden, um den Text zu verstehen. Er begleitet uns ja auch als gemeinsame Erfahrung noch weiterhin. Für Eltern ist es allerdings manchmal befremdlich, was ihre Kinder, die noch kleinen, dummen, da zu lesen bekommen. Aber die sehen sich selbst nicht so dumm und wollen gewichtige Texte.

Ein Beispiel: Als es im März tagelang weht und stürmt, gebe ich den Kindern die vier ersten Zeilen eines Gedichtes von Hugo von Hofmannsthal zum Lesen mit heim:

Es läuft der Frühlingswind

durch kahle Alleen,

seltsame Dinge sind

in seinem Wehn.

Sie lernen das auswendig, schreiben es sorgfältig ab und finden es sehr schön. Und als Marie mich fragt - ich hatte erwähnt, daß das der Anfang eines längeren Gedichtes sei - ob sie das ganze Gedicht haben könnte, wollen alle anderen es auch haben.

Eine Stunde lang lesen wir es immer wieder durch. Manches Kind liest es ganz vor. Jedes liest uns die Zeilen, die ihm besonders gut gefallen.

Man kann ahnen, was da in der Klasse geschieht, wenn man sich einzelne Zeilen vorstellt, gelesen von einer Kinderstimme.

Vorfrühling

Es läuft der Frühlingswind

durch kahle Alleen,

seltsame Dinge sind

in seinem Wehn.

Er hat sich gewiegt,

wo Weinen war,

und hat sich geschmiegt

in zerrüttetes Haar.

Er schüttelt nieder

Akazienblüten

und kühlte die Glieder,

die atmend glühten.

Lippen im Lachen

hat er berührt,

die weichen und wachen

Fluren durchspürt.

Er glitt durch die Flöte

als schluchzender Schrei,

an dämmernder Röte

flog er vorbei.

Er flog mit Schweigen

durch flüsternde Zimmer

und löschte im Neigen

der Ampel Schimmer.

Es läuft der Frühlingswind

durch kahle Alleen,

seltsame Dinge sind

in seinem Wehn.

Durch die glatten

kahlen Alleen

treibt sein Wehn

blasse Schatten

und den Duft,

den er gebracht,

von wo er gekommen

seit gestern Nacht.

Achte Phase:

Kinder schreiben Geschichten, die alle anderen in der Klasse lesen können. Diese Phase beginnt manchmal schon, während die vierte Phase sich erst entfaltet.

Die ersten Freien Texte entstehen nach zwei bis drei Schulmonaten. Ich schreibe jedem Kind seinen Text schön lesbar ab, ohne die Wortwahl zu verändern, aber orthographisch berichtigt. Manche Kinder zeichnen dann etwas auf das Blatt, und so kommt die Geschichte in eine Hülle, in der auch der Urtext steckt, und wird in einer Mappe für alle zum Lesen bereitgelegt. Spätere Freie Texte korrigiere ich so: Oberhalb der fehlerhaften Wörter vermerke ich in winzigen Buchstaben, was anders sein sollte. Die Wortwahl bleibt bestehen. Unklarheiten im Ausdruck räumt der Autor selbst aus, nachdem wir sie besprochen haben. Dann schreibt er selbst seinen Text für alle noch einmal schön und richtig ab.

Wir haben auch eine Druckerei im Klassenzimmer. Alle Kinder schreiben mindestens einmal einen Text, den sie dann selbst setzen und für jeden von uns einmal drucken.

Neunte Phase:

Kinder wählen ein Buch und lesen es in ihrer Freizeit.

Um das einmal und immer wieder zu tun, muß man erlebt haben, wie Lektüre unterhält und bereichert, wie sie uns hilft, uns unserer Identität, unseres Werts und unseres Weges sicher zu werden, weil wir, wenn wir ein Buch aufschlagen, manchmal so etwas wie die Stimme eines großen Bruders oder einer älteren Schwester vernehmen, die uns kennen und verstehen und das mit uns teilen wollen, was ihnen wichtig ist, indem sie uns etwas erzählen. Glücklich die Kinder, die daheim genügend Bücher finden. Für alle anderen ist es entscheidend, daß sie Bücher zum Ausleihen in der Schule finden bzw. darin angeleitet werden, die nächste Bibliothek zu benutzen. Das alles ist, ich sagte es eingangs dieses Kapitels, meine Methode für den Leseanfangsunterricht, die ich als natürliches Lesenlernen verstehe, weil darin viele Aspekte der Lebendigkeit der Kinder, der Bedingungen unserer Schriftsprache und der Notwendigkeit des gemeinsamen Lernens in der Schule so aufeinander bezogen werden können, daß alle Kinder sich angenommen und geborgen fühlen und gedeihen unter der Obhut einer Lehrerin, die wie die Kinder jeden Tag sehr viel gibt, mehr aber noch heimträgt an Freude, Erkenntnis und Liebe.

Andere freie, verwandte Methoden des Leseanfangs ohne Fibeltrott sind verknüpft etwa mit den Namen Célestin Freinet, Maria Montessori, Ilse Lichenstein-Rother, Heiko Balhorn und Hans Brügelmann. Von diesen und anderen Autoren habe ich gelernt.

Allen ist gemeinsam, daß es vielfältige Arbeits- und Übungsmittel, sehr viel Freiheit, eigene Entscheidung, Wahl und Verantwortung für die Kinder gibt und daß das Klassenzimmer und die Art, wie Kinder und Erwachsene miteinander umgehen, sich ändern.

  1. Alle Kinder sollen lesen lernen dürfen!

Noch wollen Kulturbürokratie und Schulverwaltung fast überall in Deutschland Fibeln. Sie sehen den Verfechtern von Freier Arbeit im Erstunterricht mit Argwohn zu und behaupten, wo sie deren Erfolge bei den Kindern nicht übersehen können, solche Methoden brauchten mehr Wendigkeit, Anteilnahme und Fleiß, als man von Durchschnittslehrerinnen erwarten dürfe.

Aber:

Diese schönen Eigenschaften entfalten sich, wenn ihnen die freie Lebendigkeit der Kinder antworten darf, und sie verkümmern, wo Gängelung herrscht.

Und:

Warum sollten Lehrerinnen, denen man einen freien Unterricht nicht zutraut, fähig sein, Kinder im Fibeltrott zu fuhren, zu bremsen, anzutreiben und zusätzlich zu fördern, so daß sie gut und gerne lesen lernen? Das verlangt, wenn es gelingen soll, übermenschlich viel.

Soll es denn gelingen?

Man kann das alles wohl auch ganz anders sehr böse sehen: Die eine Fibel für alle dokumentiert, daß der Staat in seiner Schule allen Kindern dasselbe Gute gibt. Daß man damit lesen lernen kann, beweisen alljährlich Tausende von Kindern. Die Stolperer und Versager zeigen nur, daß sie irgendwie nicht in Ordnung sind. Wenn sie gute Eltern haben, werden die ihnen auf die Sprünge helfen. Die dann übrigbleiben, gelten als unbegabt aufgrund schlechten Erbguts oder Milieus.

Das liest sich fürchterlich, ist aber geheimer Konsens unter vielen Menschen, die die Schule bestimmen. Es ist die nicht wahrgenommene oder nicht zugegebene Maxime dessen, was tatsächlich mit Leseversagern in der Schule geschieht.

Daß die Schule sich so leicht mit dem Leseversagen abfindet, ist mehrfach schlimm:

• Lesenlernen ist ein entscheidendes, wenn nicht das entscheidende Muster für schulisches Lernen überhaupt. Es prägt in jedem Kind die Beziehung zum Lernen in der Schule und zu sich selbst als Mensch im Raum der Schule.

• Leseunterricht ist auch die arrangierte Begegnung mit einem wesentlichen Teil unserer gemeinsamen Kultur. Sie sollte heiter und bereichernd sein, damit sie in Freundschaft, nicht in Gleichgültigkeit, Fremdheit oder Feindschaft mündet.

• Nichtleser sind vom Genuß vieler geistiger Reichtümer ausgeschlossen, die uns allen gehören. Wer will das verantworten?

• Wer nicht recht oder gar nicht lesen kann, ist in seinen Möglichkeiten, das eigene Leben mit erhobenem Kopf zu bestehen, so sehr eingeschränkt, wie wir Leser es uns gar nicht vorstellen können.

Stiefkinder der Gesellschaft und der Kultur sind auch in der Schule schon Stiefkinder.

Wir sollten ihnen zum Lesenlernen mehr gönnen als eine Fibel.

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