Verse für Eingeborene – Warum Kinder dringend Lyrik brauchen (von Susanne Mayer)

DIE ZEIT Nr. 30 /2003

Susanne Mayer,
"DIE ZEIT"

Dies vorweg: Kinder sind die geborenen Lyriker. „schtzngrmm / schtzngrmm / t-t-t-t / tt-t-t / grrr-mmmmm / t-t-t-t / s-c-h…“ Um so ein Ernst-Jandl-Gedicht zu verstehen, braucht ein Kind natürlich keine Deutschstunde, es sind die Erwachsenen, die bitterster Nachhilfe vom Leben benötigen, um dort anzulangen, wo sie als Kinder schon waren: bei dem Verstehen, dass gewisse Dinge spielerisch betrieben werden müssen, damit nicht der Ernstfall eintrifft, eben: „schtz / grrrrrrrrrrrrrrrrr / t-tt“.

Ernst Jandl und Kinder verstehen einander. Wörter und Laute. Flüstern, hauchen, kreischen. Flehen. Verstummen. In der Dichtung sind Gefühle und Verstehen dicht gepackt, der Ton und der Rhythmus, die Furcht, Erwartung und Freude. Oder Trauer. Weshalb sich schon die kleinen Kinder nach Gedichten und Reimen sehnen, sie geradezu bitter nötig haben, als Lebensmittel. „Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er“, schreit vor Vergnügen und will mehrmehrmehr: der Wortspiele, Fingerreime, Singreime.

Später, wenn die Kleinen größer werden, passiert es. Später sind sie mit Gedichten plötzlich unterversorgt. Keiner liest mehr vor. Sie segeln nun auf Abenteuerromanen in den Schlaf. Auch gut, aber dann kommen die schönsten Gedichte womöglich nur noch als Leseförderung daher und wirken nicht selten wie diese, spaßbedrohlich, schülerfremd.

In der Schülerbibliothek, die vor einem Jahr in der Redaktion zusammendiskutiert wurde, als zwei Lehrer, zwei Schüler, zwei Schriftsteller und zwei Redakteure miteinander überlegten, was von der deutschen Literatur den Schülern in besonderer Weise ans Herz zu legen sei, da mündeten alle Gespräche immer bei diesem Satz: Das muss in unsere Lyriksammlung!

Die Lyrik als Muss! Warum? Darum: Gedichte sind in Jahrhunderten geronnene Erfahrung. Sie bündeln, in vielleicht nur einem Vers, was wir erleben können – oder lassen uns, im Spiegel eines Satzes, erkennen, was es ist, was wir empfinden. Sie eröffnen Möglichkeiten des Seins. Sie rühren nicht selten, wie sonst vielleicht nur die Musik, an Saiten in uns, die sonst unberührt geblieben wären, ein Leben lang. Sie erwecken Andacht und Ehrfurcht, für die unser Lifestyle nicht das Biotop ist. Naturempfinden. Oder geben, zum Beispiel der Liebe, eine Radikalität, vor der sich nicht wenige fürchten, auch wenn sie älter als 15 sind.

Der Schülerkanon der Gedichte, den die Dichterin Ulla Hahn für uns versammelt hat, wofür wir ihr herzlich danken, ist so auch ein Kanon für die Schüler in uns. Man stelle sich vor, jene Kindsköpfe, die zurzeit in Berlin am Sozialstaat herumschnippeln, hätten Gelegenheit, ein wenig Heine nachzulesen: „Es wächst hienieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, / Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, / Und Zuckererbsen nicht minder…“ Ob sie lernwillig wären, sich freuen könnten an dem Satz: „Ja, Zuckererbsen für jedermann, / Sobald die Schoten platzen…“? Wie gesagt, mit Gedichten muss man früh anfangen. Und es ist nie zu spät!

(c) DIE ZEIT 17.07.2003 Nr.30

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