Rechtschreibleistung ermitteln WER soll’s machen? WAS soll ermittelt werden? von Heiko Balhorn und Inge Büchner

I.  
Vier Rechtschreibstrategien
so, wie sie der Hamburger Schreibprobe von Peter May u. a. zu Grunde liegen
 

  • Die Verschriftung der eigenen Lautung als ein analytisches Verfahren artikulatorischer Erschließung des Lautstroms mit dem Mittel des Alphabets:
    alphabetische (buchstäbliche) Erschließung.
     
  • Kinder überformen ihre ’einfachen’ artikulierten Entwürfe durch wissentlich eingefügte Elemente, die sie ersteinzelwort-spezifisch verwenden, deren Anwendungsbereiche sie aber zunehmend generalisieren und spezifizieren:
    orthografische Überformung.
     
  • Und weil die Regeln der Verwendung orthografischer Elemente in der morphematischen Struktur von Wörtern fundiert sind, erfordern bestimmte Elemente bestimmte Operationen.
    Mit diesen Umgangsformen erschließen sich Kinder die Wortbildung (Bausteine) und realisieren ihr zugrunde liegendes Bedeutungswissen, bzw. erweitern es durch Operationen:
    morphematische Durchdringung.
     
    -  Wenn es um Sätze bzw. Texte geht, müssen wortübergreifende Regeln beachtet werden. Dies gilt u. a. für die Wortart (dass; Großschreibung), Bedeutungsdifferenzierung (Zusammenschreibung), Aspekte der Grammatik (Kommatierung; Abstimmung der Deklination: in hohem Alter/ im hohen Alter) und Verwendungsarten von Sätzen (wörtliche Rede):
    wortübergreifende Erfassung.
     
     
    II.
    Rechtschreibleistung ermitteln: Wer ermittelt was?
     
    Eine 1. Klasse, die Kinder lesen nacheinander jeweils einen Abschnitt aus der Fibel vor. Alle Kinder melden sich. Alle möchten drankommen. Sie schnipsen mit den Fingern, stöhnen, rufen: “Ich!“, “Ich!“– Einige Kinder stehen. – Einer, es ist Stephan, toppt alle anderen: “Frau B.!,  Frau B.! Nehmen Sie mich, bitte! – Ich kann’s auch schon mit Augen zu!“
     
    Wiebke, dritte Klasse, kommt nach Hause. Voller Mitteilungsfreude sagt sie bedeutungsvoll: “Du, wir haben heute ein Diktat geschrieben!“ Der Vater: “Ja, – und wovon handelt es?“  Wiebke ist konsterniert, fast hilflos, weiß nicht, wie sie antworten soll. Der Inhalt des Diktates war doch nicht wichtig. Ihre Erwartung jetzt: Der Vater möge sagen: “Bestimmt hast du wieder alles richtig, oder?“ –  Dann würde sie stolz sagen: “Ja, ich glaub ich hab wieder null Fehler.“– Und der Vater würde sie loben.
    (Mit seiner Frage nach dem Inhalt beging der Vater einen Fauxpas und enttäuschte die Erwartung seiner Tochter. Mit ihrer resignativen, fast abfälligen Bemerkung: “Du kannst vielleicht Fragen stellen!“ sagte sie ihm, dass er von Schule keine Ahnung habe.)
     
    Die erste Situation ist keine ungewöhnliche. Die Kinder mögen Frau B., lieben sie. Alle möchten vorlesen, ihr vorlesen. Dass es bei Stephan gar kein vorlesen ist, soll hier nicht wichtig sein. Wichtig ist, was die Kinder wollen, was die Lehrerin will und warum sie wollen.
    Die Leistung, um die es hier geht, das zeigt uns Stephan, dürfte für die allermeisten Kinder läppisch sein. Einen sinnvollen Beitrag kann kein Kind durch das Vorlesen leisten. Sie wollen jetzt nicht lesen (denn der Sinn ist schon klar), sie wollen nicht lernen (was gäbe es hier zu lernen?).
    Worum geht es den Kindern?
    Sie suchen Kontakt zu Frau B., sie wollen ihr nah sein, wollen ihre Beachtung, ihre Zuwendung, möchten sich auszeichnen, vor ihr bestehen, sich ihr und sicher auch den anderen zeigen, ihr etwas vorweisen, etwas, was aber doch wertlos ist. Und: Sie versuchen dies in Konkurrenz untereinander.
    Die Lehrerin fühlt sich bedrängt. Manchmal mag sich kurz ein Gefühl von Macht, von Bedeutung einstellen, so im Zentrum von begehrlicher Wichtignahme zu stehen. Aber solche Gefühle zergehen schnell unter dem Druck des Handelnmüssens. Wen soll sie drannehmen? Eine der leiseren, einen schwachen Leser, Stephan, der am nachdrücklichsten drängt? Es gibt in dieser Situation keine gute Lösung. Gründe für das Dilemma liegen in der Aufgabe, im beanspruchten Monopol, sie liegen aber auch früher, tiefer.
     
    Die zweite Situation zeigt Analoges. Wiebke kann recht-schreiben. Sie gehört zu den besten ihrer Klasse (und kann ihre sechs Fehler der letzten zwei Jahre nennen und erklären). Diktate schreibt sie dennoch unter hoher Anspannung. Muss sie ihren Platz halten, Ansprüche erfüllen, die sie selbst, Lehrer, Mitschüler, Eltern stellen? Sie schreibt im Interesse an der Richtigkeit des Schreibens – dabei ist gleichgültig, was sie schreibt. Ein Verständnis des Textes geht über den Moment nicht hinaus.
    Dennoch – so pflegen wir zu sagen –  ist sie hoch motiviert.
    Aber was heißt das? Was will sie? Was sind ihre Ziele?
    Unsere normale elterliche und/oder Lehrerreaktion auf Wiebkes erwünschtes, angepasstes Verhalten ist, sie zu loben, ihr eine gute Zensur zu geben, dies zu Hause fortzusetzen, sie vielleicht gar zu bezahlen.
    Was lernen Stephan und Wiebke? Was lernen Kinder in diesem hidden curriculum?
     
    Kleiner Exkurs über das Loben – nicht über das Bestätigen, das Ermuntern und andere Zuwendungen.
     
    Wer möchte nicht gelobt werden? ’Niemand,’ ist man geneigt zu sagen – ’man kann davon doch gar nicht genug kriegen.’ Ja, vielleicht liegt schon in diesem Gefühl ein erster Schlüssel, mit dem sich das Zwiespältige des Lobens und noch mehr des Gelobtwerdens eröffnet. Lob entlastet den Gelobten. Jemand – fast immer eine ’höhere Instanz’ – sagt ihm, was gut und richtig ist, dass er sich schon genug bemüht hat (was man beim Schreiben eines Textes oft nicht sicher genug weiß). Lob will Leistung bestätigen und auf Dauer stellen. Nicht immer ein gutes Geschäft. Manches Lob ist billig, leichtfertig. – Lob ist immer Urteil. Urteilen tut der Höherrangige. Umgekehrt wirkt es anmaßend.
    Lob beginnt im Elternhaus, ist Teil und Ausdruck der Freude über das Wachsen, Reifen, Lernen. Gelobt wird Bestimmtes, das Angenehme, häufig auch Bequeme.
     
    Spielen wir die Eingangssituation weiter. Frau B. nimmt Stephan dran. Er sagt zwei Sätze, die jetzt  an der Reihe sind. Frau B. sagt: “Gut, Stephan.“ Dann ruft sie den Nachbarn auf. Stephan lächelt. Er freut sich.
    Wofür ist Stephan gelobt worden? Es ist offen, ob Stephan die Sätze erlesen oder erinnert hat. Es ist auch offen, ob es ihm leicht gefallen ist oder es ihm große Mühe bereitet hat. (Vielleicht hat er zu Hause geübt.)
     
    Stephans Lesefähigkeit und auch sein Verständnis des Textes sind durch das Lob nicht betroffen. Das, worum es in dieser Unterrichtsphase offensichtlich gehen soll, das Lesen, ist nicht Inhalt des Kommentars. Und dennoch lernt Stephan, wenn dieser Fall kein Einzelfall, sondern ein typischer ist, dass Frau B. gut findet, was er macht, dass Frau B. weiß, was gut und nicht gut ist. Vielleicht glaubt Stephan, dass er ein guter Leser ist (obwohl er die Sätze nur erinnert?) Das Sagenkönnen ist Lesen. Muss man sich alle Wörter merken, damit man sie lesen kann?
     
    In diesem Muster von Interaktion lernen Kinder, dass die Beurteilung der eigenen Leistung nicht ihre Sache ist. Sie lernen auch, dass die Kriterien der Beurteilung nicht unbedingt die ’Sache’ und das Können betreffen und das Lob/der Tadel relativ unabhängig vom Arbeitseinsatz und der aufgewendeten Mühe vergeben wird. Sie lernen, dass Lob verteilt wird, dass man manchmal unverdientes Lob bekommt und manchmal  verdientes Lob nicht bekommt.
     
    Zugespitzt lässt sich sagen, ist das Loben – wie auch das Versagen von Lob – eine Form der Kontrolle, welche die Lernenden vom Gegenstand und vom Lernen weg auf die Person/die Instanz des Lobenden lenkt. Das Gelobtwerden leistet dem Gefühl, selbst für das Lernen und den Erfolg nicht zuständig zu sein, Vorschub.  
    Loben ist eben Urteil und Kontrolle. Kontrolle von außen, die die Zuständigkeit für sich selbst schwächt. Beurteilung ist in der Schule Sache des Lehrers. Wir fokussieren Schüler auf unsere Urteile und lenken sie damit ab von ihren sachlichen Ambitionen, vom Lernen der ’Sachen’.
    Indem wir Instanz und Maßstab der Beurteilung mit Macht beanspruchen, besetzen wir den Raum, in dem sich ein Bewusstsein für Qualität entwickeln soll.
    Die misstrauische Hochschätzung von Kontrolle gegenüber dem Vertrauen ist ja sprichwörtlich.
     
    Vertrauen – Selbst – Kontrolle – Sprache
     
    Das Vertrauen in die eigene Sicherheit und Zuständigkeit ist in allen die Sprache betreffenden Fragen von besonderer Bedeutung. Denn die Instanz für die Empfindung von Richtigkeit bzw. Angemessenheit von Formulierungen, Wortwahlen, Schreibweisen ist nicht aus einem bewussten, durchschauten System von kodifizierten Regeln logisch zu schließen. Formulierungen – gleich welcher Ebene – werden aus einem individuellen Sprachgefühl entworfen. Sprachliche Intuition – eben unser Sprachgefühl – ist die Instanz, die kontrollierend mitläuft, wenn wir sprechen, schreiben und verstehen. Wir verfügen nicht über einen Kodex von Regeln, den wir haben und ’anwenden’ könnten (wie z.B. die Vorschriften des Miet- und Steuerrechts). Wir formulieren ’aus dem Bauch’, das heißt aus einer Mischung aus implizit erworbenen, explizit verstandenen und zur Routine gewordenen Mustern. Diese unsere Spracherfahrungen sind Fundament und Quelle. Die ’allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Sprechen’ erfolgt nicht als bewusste Konstruktion. Dazu funktioniert sie viel zu schnell. Bewusst sind das Bewerten und Korrigieren.
     
    Natürlich geben uns die anderen Rückmeldungen. Sie sagen und zeigen uns, ob wir sprechend, schreibend verständlich sind und ’richtig liegen’. Auf das Verständnis der anderen sind wir angewiesen. Zuvor oder gleichzeitig sagt uns unsere Intuition, man könnte auch sagen ’unser sprachliches Selbst–Wert–Gefühl’, ob eine Formulierung passt, stimmt, angemessen ist.
    Wenn sprachliches Können also wesentlich in sprachlicher Intuition fundiert ist, muss Unterricht diese zu stützen suchen. Fremde Kontrolle an die Stelle des Selbstwertgefühls setzen zu wollen, scheint paradox, ein Missverständnis dessen, was Lehren von Sprache bedeutet.
    Selbsteinschätzung muss selbstverständlich sein. Darin drückt sich Qualitätsbewusstsein, Zuständigkeit, Selbstbewusstsein, Eigenständigkeit aus.
    Fremdeinschätzung muss hinzukommen, sollte jedoch nicht als Ersatz, sondern als Hilfe verstanden werden. Das Problem der Hilfe (Didaktik) beim Lernen: Hilfe – insbesondere ungefragte – lässt sich als Zweifel am eigenen Können verstehen; suggeriert, nicht wirklich selbst verantwortlich zu sein.
     
    Außerhalb von Schule ist explizite Fremdeinschätzung und Bewertung mit so schlichten Instrumenten wie einer Notenskala die Ausnahme – in der Schule die Regel. In der Schule wird Leistung gefordert und gefördert, der Erfolg der erbrachten Leistung jedoch pädagogisch vermittelt.
    Der enge Zusammenhang zwischen Leistung und Bewertung der Leistung wird didaktisch aufgelöst. Mit anderen Worten:
    Die Einheit aus Aufwand und Ergebnis, aus Mühe und Resultat, Einsatz und Erfolg, aus Investition und Gewinn, aus Versuch und Irrtum/Bestätigung wird geteilt.
     
    In bestimmten  didaktischen Einrichtungen wie dem Aufsatz und dem Diktat wird die Rückkopplung auch zeitlich abgekoppelt. Der Lehrer sammelt die Hefte ein, korrigiert die Texte, zensiert sie nach – für die Lernenden zumindest bei Aufsätzen – schwer zu greifenden Maßstäben und gibt sie den Schülern zurück. Diese Serviceleistung der Lehrer entlastet die Schüler von der mühseligen Aufgabe des ’Im-Wörterbuch-Nachschlagens’, des Redigierens und auch davon, einen eigenen Maßstab zu finden. Ein eigener Maßstab ist aber die Grundlage, den eigenen Erfolg, die eigene Leistungsfähigkeit einzuschätzen – letztlich ist er die Bedingung innerer Zufriedenheit.
     
    Die Ablösung des Erfolges, also auch der Irrtümer, beginnt mit dem ersten Lob und findet ihren Höhepunkt in dem Honorar für eine Zensur. Das Lob lenkt das Interesse des Produzenten einer Leistung vom Tun weg auf die Person, die lobt, zensiert, zahlt. Ein Lobgesang auf das Loben ist deshalb zutiefst falsch. Auch wenn wir es manchmal genießen, wenn uns jemand auf die Schulter klopft: Lob kommt allzu oft von oben, ist meist zumindest zwiespältig, wirkt auch auf die Nichtgelobten, soll verpflichten, ist in jedem Falle Außensteuerung. (Mit dieser Bestimmung von Lob sollen natürlich nicht persönliche Anteilnahme, sachliches Interesse, Ermutigung, Ausdruck von Einfühlung diskreditiert werden.)
     
    Indem wir Instanz und Maßstab der Beurteilung mit Macht beanspruchen, besetzen wir den Raum, in dem sich ein Bewusstsein für Qualität entwickeln soll.
     
    Wie "Rechtschreibleistungen zu ermitteln" sind
     
    Nach dieser vielleicht allzu ausführlichen Einführung nun direkt zu der Frage, wie denn “Rechtschreibleistungen zu ermitteln“ seien.
    Nach dem bisher gesagten kann es nur darum gehen, den Lernenden selbst die Aufgabe der Ermittlung ihrer Leistungen zuzumuten. Oder realistischer:  ihnen diesen Teil ihres Lernens nicht streitig zu machen, sondern ihnen zu zeigen, wie sie dies – parallel zur Entwicklung ihrer Kompetenz – leisten können.
     
    Unsere hier fachdidaktisch ausgelegte These ist:
    Eine reife Rechtschreibkompetenz zeigt sich in intuitivem und routinisiertem Erschreiben von Wörtern, Sätzen und Texten, also in einem weitgehend ’bedenkenlosen’ Schreiben.
    Sensibilität für mögliche Fehler, Kenntnis von Verfahren, Problemfälle zu klären, stützen das richtige Schreiben.
     
    Im Interesse am Lernen und Lehren unseres orthografischen Systems muss es deshalb einerseits um eine reiche (engagierte) Schreibpraxis und andererseits um das Denken, das Verstehen eben dieses Systems gehen.
    ’Verstehen’ meint hier kein abstraktes, umfassendes, systemisches Wissen, sondern als ein praktisches, problem- bzw. wortbezogenes Können, Verstehen als Operieren-Können, als Probieren. ’Proben’ (z. B. die Verlängerungs- und Ersatzprobe), Gliederungen, Zerlegungen, Zuordnungen, Unterscheidungen sind solche kognitiven Operationen, die im problematischen Falle Entscheidungshilfe bieten.
    Um problematische Fälle, also solche Schreibungen, die nicht in der Bedenkenlosigkeit verbleiben dürfen, sondern als Fehler auffallen und (neu) bedacht werden müssen, geht es ja beim Lernen von Orthografie über den ersten Anfang hinaus.
    Fehler zu verstehen, heißt zu wissen, warum es anders richtig ist.
    Dieses Verständnis an eigenen Fehlern zu entwickeln, ist von besonderem Interesse. Eigene Fehler liegen näher. Vielleicht weiß man bei ihnen noch besser, wie sie entstanden sind.
     
    Unser Vorschlag zum Thema: “Rechtschreibleistung ermitteln“ ist deshalb folgender:
    Werten wir nicht Kinder mit einem Rechtschreibtest aus,
    sondern werten wir mit Kindern einen Rechtschreibtest aus!
     
    Die Begründung ist zugleich eine allgemeine und eine spezifische:
    Wenn Kinder in die Auswertung eines Tests einbezogen werden, werden sie nicht aus-gewertet, sondern lernen die Kriterien kennen, die der Bewertung ihrer Leistung zugrunde liegen. Diese Kriterien können nichts anderes betreffen, als das, was sie lernen sollen/wollen: Die Regeln der Orthografie. Die Regeln allerdings in einem Modus, in dem sie diese Regeln nutzen. (Das Abfragen der Kenntnis irrelevanter Merksätze ist damit ausgeschlossen.)
     
    Das Konzept der Hamburger Schreibprobe (HSP) stellt zumindest für die Klassenstufen 1 – 5 Schreibaufgaben, die für wesentliche Teile rechtschreiblicher Fähigkeiten stehen:
    Sie sind gültig (valide), messen also das, wofür sie stehen, messen für Rechtschreibfähigkeit Relevantes;
    sie sind zudem sicher (reliabel), führen zu Ergebnissen, nach denen die Leistung der Kinder heute in gleicher Abfolge wie morgen platziert werden. Die Aufgaben sind in ihrer Gesamtheit empirisch fundiert, beziehen sich also auf eine repräsentative Stichprobe. (Dies sind Gütekriterien für einen Test.)
    Für unseren Gebrauch ist es wichtig, dass der Test qualitativ differenziert, also das System der Orthografie in seiner Struktur, seiner Regelhaftigkeit erschließt und nicht nur Fehler zählt und diese nur nach Phänomenen ordnet.
     
    Die HSP erhebt Graphemtreffer, die für eine quantitative R.S.-Fähigkeit stehen und sogenannte Lupenstellen, die für eine qualitative Differenz stehen.
    Qualitative Differenzen sind im Sinne der Rechtschreibforschung etwa der letzten 12 Jahre als Stufen, Phasen oder aber – durch Peter May u.a. – kognitive Zugriffe der Aneignung grundlegender Rechtschreibstrategien.
    Dieses Modell der Aneignung orthografischer Regeln ist hochplausibel und führt sachlogische und lernlogische Momente zusammen. Es erklärt zudem sowohl individuelle als auch typische Zugriffe auf Schrift.
    Und genau diese Differenzierung des Modells in (drei) Strategien ist nützliche Analysekategorie für Lehrer, um Schreibweisen von Kindern besser zu verstehen.
     
    Fach- und auch alltagssprachliche Begriffe und Termini, die der Beschreibung sprachlicher Gegebenheiten dienen, sind nun nicht Voraussetzungen für Lernprozesse, wie wir sie hier meinen, sondern Mittel zum Zweck, die im Prozess (hier der Auseinandersetzung mit den eigenen Testergebnissen) entwickelt und später auch an eingeführte Formen angeglichen werden.
     
    Beispielhaftes
     
    Tanja ist Schülerin in einer 4. Klasse. Ihr Zugang zur Schriftsprache verlief nicht reibungslos. Seit einigen Monaten ist eine Teamlehrerin in die Klasse gekommen und arbeitet mit Kindern, die Probleme beim Lernen haben. Im Folgenden beschreiben wir ein Gespräch zwischen dieser Lehrerin und Tanja.
     
    Was kann ein solches Gespräch bringen? Ist die Erfahrene nicht diejenige, die weiß, wie es richtig ist, die deshalb versucht, auf möglichst rationellem Weg – also ohne große Umwege – Fehler zu erklären?
    Frau G. setzt sich mit Tanja sofort (!) nach dem Schreiben der HSP zusammen, um sie mit ihr auszuwerten. Auf den ersten Blick sieht Frau G., dass Vieles richtig ist. Sie hatte die Fortschritte des Mädchens in den letzten Wochen beobachtet. Sie sagt jedoch nichts, möchte nicht vorwegnehmen, was Tanja und sie gemeinsam erkunden werden.
     
    Es ist nicht das erste Gespräch dieser Art, das beide miteinander führen. Das Motto von Frau G. ’Einen Fehler verstehen bedeutet, zu wissen wie man darauf gekommen ist.’ Es ist allerdings die erste gemeinsame HSP-Auswertung. Frau G. nutzt ihre Zeit als Teamlehrerin in der Klasse, um sich mit einzelnen Kindern über deren Lernentwicklungen zu verständigen. Tanja hat bereits  erfahren, dass es in solchen Gesprächen nicht um bloßes richtig oder falsch geht. Sie hat erlebt, dass ihre Lehrerin daran interessiert ist, was sie über ihre Schreibungen denkt, wie sie sich eine Schreibweise erklärt, welche ’Regeln’ sie kennt.
    Frau G. wiederum weiß, dass es nichts nützt, wenn sie Tanja die richtigen Schreibungen zeigt und mit den gültigen Regeln untermauert. Das Mädchen muss selbst herausfinden, wo die Differenzen liegen zwischen den eigenen Schreibungen und den richtigen. Frau G. wiederum weiß, dass sie verstehen muss, warum Tanja so schreibt, wie sie es tut. Und das kann sie nur, wenn sie sich selbst als Lernende versteht. Sie muss verstehen wollen, warum Tanja so und nicht anders schreibt; denn sie weiß, dass das Kind eigenen Regeln folgt, die nicht einfach durch andere ausgetauscht werden können.
     
    Tanja ist nach dem Test zufrieden und öffnet gespannt den Umschlag des Testhefts. Sie ist überrascht, was sich da im Innern verbirgt. “Das muss man alles ausfüllen?“ Frau G. macht Mut. Auch sie ist interessiert, was sich nun in den Schreibungen von T. zeigen wird.
Die Auswertung beginnt traditionell. Es werden Fehler wortbezogen ausgewertet:
    Ist in einem Wort ein Fehler, gilt es als falsch.
     
    Tanja: Das ist beim Diktat auch immer so.
    Frau G.: Und wie findest du das?
    Tanja: Gemein, weil ich ja nicht alles falsch hab.
     
    Dieses Empfinden von Ungerechtigkeit in der Bewertung ist ein Schlüssel für die folgenden Arbeitsschritte. Zunächst gilt es den Unterschied zwischen Buchstabe und Graphemen zu verstehen, denn es gilt Graphemtreffer zu zählen. Tanja vergleicht Buchstabe für Buchstabe der vorgegebenen Schreibung mit der eigenen. Schon beim ersten Wort bemerkt sie eine Besonderheit und fragt nach dem Kästchen mit den zwei Buchstaben drin.
    Tanja erinnert sich: Es gibt “Zweier“ wie CH und “Dreier“ wie SCH. Sie erscheinen also in einem Kästchen und bekommen auch nur einen Punkt. Das leuchtet ein. Aber dass sie sich bei *Briftreger keinen Punkt für das i geben kann, das will ihr nicht gefallen.
 
    Tanja: Aber ich hab doch ein i.
    Frau G.: Stimmt. Aber diesem langen i fehlt noch etwas.
    Tanja (nach einer Weile): Ja, das e, das macht das i lang. Es müssen da zwei rein.
    Es gibt ja noch eine Reihe weiterer Fälle (oben darüber ein ch) und bei dem tt in Schmetterling hellt sich ihr Gesicht plötzlich auf, sie hat eine Erklärung gefunden.
    Tanja:  Wenn die zusammen gehören, das ie oder die tt und … Aber bei äu ist es wie bei ch,. Das kenn´ ich.
    Frau G.: Hm.
     
    Tanja (inzwischen bei Spinnennetz angekommen): Hier ist ein Fehler.
    Hier ist einmal nn in einem Kästchen und einmal ist es in zwei. Das muss in eins.
    Frau G.: Ja, sieht so aus. Aber es gibt einen kleinen Unterschied zwischen den beiden nn. Ich schreib hier mal ’Spinnennetz’ auf einen Zettel. Das kriegst du auch noch raus.
     
    Bei *Gieskane merkt sie nun, dass sie sich für das ie einen Punkt geben kann und erinnert sich an andere Wörter mit ie: lieb, die Liebe, Ziege, die Fliege … Ob sie die Schreibweise erinnert oder sich über Reime einfallen lässt, wäre eine interessante Frage, aber Frau G. konzentriert sich auf den Test und notiert diese Idee. Da beim i die Längebezeichnung durch e die Regel ist, mag es genügen, dass Tanja darauf aufmerksam wurde und sich selbst ihre Schreibweise bei ’Gießkanne’ bestätigte.
     
    In der nächsten gemeinsamen Sitzung suchen sie die “Auswertung nach Erwerbsstrategien“ zu klären. Da sind zunächst die Lupenstellen.
    Frau G. verweist auf die Spalte für die alphabetische Strategie.
    Frau G.: “Kannst du dir denken, warum diese Stellen ’Lupenstellen’ heißen?
    Tanja:  Vielleicht weil man sie nicht so gut sehen kann?
    Frau G.: (fragend) Oder weil man sie nicht so gut aussprechen kann? Und weil man sie beim Schreiben leicht vergisst.
    Tanja: Das sind die schwierigen Stellen.
    Frau G.: Ja, die man vergisst oder vertauscht.
    Frau G. bittet Tanja, die Stellen in der a-Spalte vorzulesen.
     “Das sind Stellen, die schwer auszusprechen sind: br, tr, gr und pr, schm und schl.
    Aber sie findet auch ein einzelnes i in dieser Spalte.
     
    Frau G. sagt ihr, dass es viele Kinder gibt, die *Ferkeuferen schreiben, dass die Stelle also schwierig ist. Die beiden gehen die alphabetischen Lupenstellen bei allen Wörtern und auch den Sätzen durch. Tanja freut sich. Sie kann sich in dieser Spalte alle Punkte geben: "Die Alphabetische kann ich, nicht?“
     
    In der nächsten, der o-Spalte stehen die orthografischen Elemente
    “Das sind die Zweier!“, findet sie. Nach und nach kommen Auslaute und Umlaute. Das h scheint nicht zu passen.
    Doch plötzlich entdeckt sie die “zwei“ auch in der dritten Spalte. Frau G. erinnert T. an ihre Frage mit den zwei Kästchen. “Warum steht nn einmal in einem Kästchen (bei den Graphemtreffern) und einmal in zweien?“
    Frau G. hat einige Kärtchen vorbereitet, aus denen Wörter gelegt werden können:
    Natürlich sind auch Zweier und Dreier dabei.
     
    F    AH    R    R    A    D
 
    Tanja legt die Kärtchen in richtiger Reihenfolge auf den Tisch. Frau G. gibt ihr noch zwei Buchstaben (E; N) und bittet sie, damit das Verb zu bilden. T. probiert, bis sie auf  RAD FAHREN kommt. Tanja erkennt die “Eigenständigkeit“ der beiden R – am Anfang und am Ende der beiden Morpheme. Sie sagt: “Die gehören nicht zusammen. Das sind zwei Wörter. “
     
    Diese Einsicht soll vertieft werden: SPINNENNETZ.
    Tanja legt die Karten nun so hin:
     
    S    P    I    N    N    E    NN    E    TZ
     
    Frau G. fordert T. auf, herauszufinden, welche beiden Wörter in dem ’langen’ Wort stecken. T. kommt auf SPINNE und NNETZ. Sofort aber erkennt sie, dass zwar das erste Wort stimmt, das zweite jedoch so nicht geschrieben werden kann und sie vertauscht die einzelnen Plättchen mit dem einen. So war ihr das wohl noch nie bewusst gewesen. Deshalb also sind es einmal zwei Kästchen und einmal ist nur eins! Pfiffig fügt sie hinzu: “Aber die ersten kann man trotzdem trennen.“ Und sie macht es vor: SPIN-NE. Sie kennt nun den Unterschied. Und lachend treiben sie den Spaß noch weiter:
    SPIN-NEN-NETZ.  
    Mit diesem Vergleich zwischen der ’Trennung’ nach  Silben und Bausteinen (Morphemen) ist eine triftige Aufgabe (Methode) gefunden, mit der sich komplexe Wörter aufschließen, bzw. in ihrer Bildung transparent machen lassen.
     
    Frau G. hat Aufgaben für Tanja zusammengestellt, solche, die sowohl ihre orthografische als auch ihre morphematische Strategie stützen. Durch die Analyse ihrer Schreibweisen mit Hilfe der Kategorien aus der HSP gelingt es ihr, bewusst auf derartige Stellen zu achten, bei denen sie noch unsicher ist. So gelangt sie hoffentlich zu einem ausgewogenen Strategieprofil.
     
    Dies sind Beispiele für Aufgaben von Tanja
     
    zur orthografischen Strategie:
    … aus einer Liste von Wörtern sind die Kürzezeichen herauszusuchen und zu umkreisen, z.B.: Sommerregen; Kofferraum.
    … Wörter sind unter dem Gesichtspunkt “Verdoppelung der Konsonanten nach kurzem Vokal“ zu sammeln, z.B.: Schatzkiste; Rucksack.
    … Wörter mit “anderen“ Kürzezeichen (zwei oder mehr Konsonanten im Stamm) suchen und mit Wörtern der Kategorie “Verdopplung“ vergleichen und Paare bilden, z.B.: Herr – Herz; Mann – Mantel.
     
    zur morphematischen Strategie:
    Analyse von Bausteinen
    … Ein Rad zum Fahren ist ein …
    … Ein Netz von Spinnen ist ein …
    … Ein Tuch für die Hand ist ein …
    und umgekehrt:
… Ein Wandteller ist ein …
    … Ein Sommerregen ist ein …
    … Setze die Unterzeichen:
das Fahrrad
    das Handtuch
    der Quarkkuchen
         verreisen
     
    Wir haben kurze Sequenzen nachgezeichnet, in denen eine Lehrerin mit einer Schülerin deren Test auswertet.
     
    Diese eins-zu-eins-Relation ist sicher ein Sonderfall. Frau G. ist eine zusätzliche Lehrerin, eine Doppelbesetzung sozusagen, mit einer Zusatzausbildung als Sprachberaterin.
    Auch an einem Sonderfall lassen sich besondere Elemente eines guten Unterrichts zeigen und ’unter Umständen’ verallgemeinern.
     
    Positiv erscheint das Verfahren. Das Kind wird in die Auswertung seines Tests einbezogen. Das Ergebnis seiner Arbeit, sein Produkt wird nicht ’enteignet’ und einem fremden Maßstab unterworfen. Tanja bleibt ’im Geschäft’.
     
    Eng verbunden mit dem Verfahren ist der Gegenstand des Lernens.
    Ausgangspunkt und Thema sind das individuell Gekonnte und Nicht-Gekonnte. Gegenstand darüber hinaus sind Strategien der Aneignung des Gegenstandes.
    Strategien der Aneignung verbinden die Sachstruktur (das, was gelernt werden soll) und eine Lernstruktur (das, wie gelernt wird).
     
    Die Verbindung von Sache und Lernen (Sach- und Lernlogik) ist das, was den Test ausmacht und auszeichnet.  Ein guter Test ’weiß’ um die Sache und um das Lernen.
    Und weil diese Kategorien verständliche Differenzen eröffnen, sind sie nützlicher Gegenstand auch  für  das Verständnis der Kinder, deren Zugriffe mit eben diesen Strategien zu erfassen sind.
     
    Alles, was die Didaktik einerseits über das linguistische System, also die Struktur der Sprache und andererseits über typische Aneignungsformen  weiß, ist damit potentieller Lerngegenstand auch der Kinder, weil orthografische Kompetenz (die es in diesem Heft zu ermitteln gilt) eben in diesem Können besteht.
     
    Dies heißt konkret, dass sich unser Rechtschreib-Können nicht prinzipiell, sondern nur graduell von dem schreibgeübter Kinder unterscheidet. Linguisten und Lernpsychologen wissen nichts, was nicht potentiell denjenigen nützen würde, die Gegenstand didaktischer Forschung sind: die Kinder.
     
    Alle sprachdidaktischen Erkenntnisse sind letztlich an die Alltagssprache und das Alltagswissen zurückzukoppeln. Darin liegt ihr Wert für Lehrer und Lerner.
    Wenn Tanja sich auf den Weg macht, am Beispiel ihrer eigenen Schreibungen den Test auszuwerten und dabei mit einer kundigen Beraterin zu verstehen, lernt sie etwas von beidem: von der Rechtschreibung und vom Lernen.
    Wenn sie und andere Kinder an dieser Verbindung arbeiten, und dies jeweils an ihren eigenen Arbeiten tun, scheint uns dies eine sehr produktive Form der Differenzierung zu sein, die zudem auf ein ’nach oben hin offenes Niveau’ des Verständnisses zielt.
    Schlagworte wie ’Lernen lernen’, ’forschendes Lernen’, Metakognition, Metakommunikation, Sachanalyse und Aufbau einer Fachterminologie sind – auch wenn dieser  Beitrag nur einen kleinen Ausschnitt zeigt – auf diese Weise  konkret zu machen.
     
    In der Klasse können Sie andere Wege einschlagen. Sie können damit beginnen, dass Sie den Kindern ihre eigenen Strategieprofile zeigen und erläutern. Sie könnten Beispiele aufzeigen und gemeinsam klären, wozu dieses Wissen zu gebrauchen ist. Erst danach wären dann weitere Einsichten – ähnlich wie oben beschrieben – zu gewinnen.
     
    Sowohl das Verfahren der Beteiligung der Hauptbeteiligten als auch die Erweiterung  des Gegenstandes um seine gegenstandsspezifischen Lernformen (kognitiven Zugriffe) konkretisieren anspruchsvolle Vorhaben unserer  Didaktik.
    Welches Detail der Konstruktion eines Tests wie auch eines Lehrgangs ist nicht zugleich wünschenswerter Gegenstand des Lernens, für eben den Inhalt des Tests bzw. Lehrgangs? Wer hat ein größeres Interesse an den Ergebnissen eines Tests als der Getestete selbst? (Und die Ergebnisse lassen sich um so besser einschätzen, je besser man den Test kennt.)
     
    Dies sind Aspekte der Antwort auf die beiden Fragen in der Unterzeile der Überschrift.

Heiko Balhorn und Inge Büchner, die Autoren dieses Textes, arbeiten im "Verlag für pädagogische Medien" in Hamburg. Dort erscheint - neben vielen anderen Materialien - die "Hamburger Schreibprobe", von der im Text die Rede ist. Informationen über den vpm-Verlag (klicken!).

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