Gewissheiten, die Kindern helfen von Ute Andresen

Gewissheiten, die Kindern helfen

Die Schriftsprache ist wie ein blühendes Labyrinth:

Man muss seinen Weg dort hinein suchen.

Von Ute Andresen

Ute Andresen

Wenn Kinder in der Schule Lesen und Schreiben lernen sollen, brauchen sie einige selbstverständliche Gewissheiten.

  • Wir wollen und können es lernen – alle miteinander und jeder für sich.
  • In der Schriftsprache ist uns vieles von der Sprechsprache her schon vertraut. Vieles ist uns aber auch noch ganz fremd.
  • Vieles können wir allein und von uns aus entdecken und uns aneignen. Manches müssen wir erfragen. Manches müssen wir uns zeigen und erklären lassen, ohne danach gefragt zu haben.
  • Vieles lernen wir unabsichtlich. Vieles, weil wir uns wünschen, es zu lernen. Manches, weil wir es als Aufgabe bekommen.
  • Wir lernen lesen, weil ein reicher Schatz an Literatur auf uns wartet und uns zusteht.
  • Wir lernen schreiben, weil wir damit unsere Gedanken auf dem Papier festhalten und auch anderen zu lesen geben können.
  • Wir lernen lesen und schreiben, um uns mit Menschen verständigen zu können, mit denen wir nicht sprechen können.
  • Es lohnt sich, lesen und schreiben zu lernen, weil man damit einen selbstständigen Zugang zum Wissen anderer gewinnt, die aufgeschrieben haben, was sie erfahren, erkannt und verstanden haben.
  • Die Schriftsprache besteht aus lauter Einzelheiten, die an vielen Stellen vorkommen. Was wir uns einmal vertraut gemacht haben, begegnet uns dann immer wieder.
  • In der Schriftsprache gelten viele Regeln, die man kennen und befolgen muss, wenn man Schriftliches verstehen und verständlich schreiben will. Regeln sind Erleichterungen.
  • Wenn man lesen und schreiben lernt, muss man einen langen Weg gehen. Jeder Schritt, auch ein kleiner, bringt voran.
  • Die Schriftsprache ist wie ein blühendes Labyrinth: Man muss seinen Weg dort hinein suchen. Man möchte darin manchmal verzagen. Man fürchtet gelegentlich, sich verirrt zu haben. Man entdeckt unerwartete Freuden. Man findet sich selbst. Am Ende geht man getrost ein und aus, ohne dass alle Geheimnisse je entzaubert wären.
  • Wenn man in die Schriftsprache eindringt, kommt man manchmal nur mühsam voran, so als ginge es bergauf. Manchmal kommt man so beschwingt voran, als ginge es bergab.
  • Meine Schule gibt nicht auf und meine LehrerInnen geben nicht nach, bis jeder von uns wirklich lesen und schreiben kann.
  • Um eines Tages geläufig, verständlich und zuverlässig lesen und schreiben zu können, muss man geduldig üben, was einem schwer fällt. Geduldiges Üben übt auch die Geduld.

Solche Gewissheiten werden manchen Kindern in die Schule mitgegeben, anderen fehlen sie ganz und gar. Kindern, die sie in sich tragen, sind sie oft nicht bewusst. Sie gehören ihnen als Neugier, Zuversicht und Gelassenheit gegenüber Schwierigkeiten.

Die Erwachsenen, die in der Schule für das Lernen der Kinder verantwortlich sind, müssen im und mit Unterricht dafür sorgen, dass in allen Kindern diese Gewissheiten entstehen, wachsen, schließlich deutlich erkennbar und stark und belastbar werden.

Januar 2003

Die Autorin war bis November 2001 Präsidentin der DGLS. Sie lehrt Grundschulpädagogik an der Universität Erfurt. Ute Andresen ist Autorin zahlreicher pädagogischer Bücher. Näheres zur Person und zu ihrer Arbeit auf ihrer Homepage: www.lin-atelier.de

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