Gedichte, die bleiben. Meine Empfehlungen für die ZEIT-Schülerbibliothek (von Ulla Hahn)

DIE ZEIT, Nr. 30 / 2003
ZEIT-Schülerbibliothek, Folge 36

Die Jury der ZEIT-Schülerbibliothek – zwei Schüler, zwei Lehrer, zwei Schriftsteller und zwei ZEIT-Redakteure – gab mir den Auftrag, für die Abteilung Lyrik auszuwählen. Ich habe mich an die Arbeit gemacht. Hier ist das Ergebnis. Ich nenne es Stimmen im Kanon. Zu einem Kanon zählen zunächst die Stimmen, die den Ton angeben, den Grundakkord. Diese herausragenden Stimmen zu versammeln ist nicht allzu schwer. Obwohl mit dem Zerfall des Bildungsbürgertums auch die Selbstsicherheiten und Selbstverständlichkeiten seines literarischen Kanons im Schwinden begriffen sind, lässt sich über die Namen des Kernbestandes noch leicht Einigkeit erzielen: Vogelweide, Gryphius, Claudius, Goethe, Schiller, Hölderlin, Eichendorff, Mörike, Heine, Platen, Droste, Rilke, Benn, Brecht gehören sicherlich in die Schülerbibliothek.

Aber bei der Auswahl ihrer Gedichte fängt das Kopfzerbrechen schon an, wird der Widerspruch beginnen. Sie vermissen Hölderlins Patmos? Einige von Schillers Xenien? Kurt Schwitters Anna Blume? Schadet nichts. Schimpfen Sie mit Freunden und Feinden auf die Jurorin, und machen Sie eigene Vorlieben klar! Was wäre mir lieber als eine Diskussion über Gedichte! Ein besseres Plädoyer gegen das Vergessen und für ein leidenschaftliches Lesen kann ich mir kaum denken. Um dieses geht es mir: um ein Lebendighalten des Lesenswerten, nicht um Verbindlichkeiten. Um die „Stimmen“ mehr als um den „Kanon“. Und da ist im Grunde jeder Sänger willkommen.

Ein Kanon verändert sich im Lauf der Epochen selbst im Kern; seine Zeitgenossenschaft, den Einfluss der Zeit, in der er erstellt wurde, sollte kein Kanon verleugnen. Denn auch der Ewige Vorrat deutscher Poesie, wie eine Anthologie aus den zwanziger Jahren hieß, muss immer wieder neu gesichtet, auf Genießbarkeit, das heißt, seine Haltbarkeit geprüft werden. Es schadet nichts, wenn manche Gedichte für ein paar Generationen in den Vorratskammern der Werkausgaben verschwinden, ihre Gebrauchsspuren langsam verlöschen, ehe sie bei erneutem Lesen oder für eine neue Lesergeneration ihre Frische zurückgewinnen. Alles Alte hat es leichter, schön zu sein, wenn es nur lange genug vergraben und verschwunden war.

„Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe!“

Mir ging dies so mit Schillers Glocke, die bereits einigen seiner Zeitgenossen „von gestern“ zu sein schien. So schrieb Caroline Schlegel-Schelling, man sei „über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, fast von den Stühlen gefallen vor Lachen“. Und Friedrich Schlegel läutete mit seiner Parodie den satirischen Frohsinn von Schülergenerationen ein. „Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe, / Wohlig und warm, zu durchwaten die Sümpfe, / Flicken zerrissene Pantalons aus; / Kochen dem Manne die kräftigen Suppen, / Putzen den Kindern die niedlichen Puppen, / Halten mit mäßigem Wochengeld aus.“

So kam es, dass ich beim Zusammenstellen dieser Liste Das Lied von der Glocke keines Blickes würdigte, bis mich beim Überblättern die letzte Zeile ansprang: „Friede sei ihr erst Geläute.“ Da las ich das Gedicht noch einmal: den ganzen späten Schiller, mitsamt seinem pädagogischen Eros. Den Dichter, der die Ehrenbürgerschaft der Französischen Republik enttäuscht wieder zurückgegeben und dennoch an seinen Idealen festgehalten hatte. Ein abgeklärter Idealist. Nicht von ungefähr ist die Glocke von geflügelten Worten erfüllt. Selbst wenn Sie zu dem Schluss kommen, das Gedicht sei heute nur als Zitaten-Steinbruch gut: Belächeln sollte man nur, was man kennt.

Und Klopstock? Es gibt Dichter, deren Leben interessanter ist als ihr Schreiben; deren Biografie das Werk überdauert. Dichterschicksale, die selbst düstere heroische oder glanzvolle Gedichte zu sein scheinen. Klopstocks literaturhistorische Bedeutung ist unbestritten. Kaum einer hat in der deutschen Literatur so viel Nachahmung, Nachfolge, ja Unterwerfung unter sein Vorbild hervorgerufen wie der Dichter des Messias. Er war es, der dem Gottschedschen Regelwerk ein Ende machte und der deutschen Sprache Möglichkeiten eröffnete, die noch heute auszuschöpfen sind. Ob Göttinger Hain, Stolberg, Voß, Jacobi, der junge Goethe: Klopstock war das Haupt einer Dichterschule, Vorbild. Er war auch der Erste, der in Deutschland dem Autor eine autonome, herausragende gesellschaftliche Stellung verschaffte. Mehr als 50000 Bürger folgten 1803 seinem Sarg. Eine Persönlichkeit, ein wahrer Dichterfürst. Und seine Bücher? Die wurden kaum noch gelesen. Im Gegenteil. So wie sich die mit langen Haaren und bloßem Hals umherschwärmenden Klopstock-Anhänger über Meistersingerei und Barockrezepte lustig machten, wurden sie selbst, schon von Zeitgenossen, abgetan. „Wer wird nicht einen Klopstock loben? / Doch wird ihn jeder lesen? – Nein. / Wir wollen weniger erhoben / und fleißiger gelesen sein“, schrieb Lessing.

Dennoch: Klopstock erlaubte zum ersten Mal, der Natur mit einer Verzückung zu begegnen, wie sie bisher nur Gefühlen gegenüber der Allmacht Gottes gestattet war. Dafür steht in dieser Sammlung seine Ode – was sonst – Der Zürchersee.

Lessing ist heute berühmter als der zu Lebzeiten hoch gepriesene Herder, und auch das immer wieder zitierte Fehlurteil Goethes über Kleist – ungeordnet, maßlos, unharmonisch – ist bekannt. Zeitgenossen! Umgekehrt erging es Hölderlin, den ausgerechnet Schiller vor „einem Erbfehler deutscher Dichter“ warnte: „der Weitschweifigkeit nämlich, die in einer endlosen Ausführung und unter einer Flut von Strophen oft den glücklichsten Gedanken erdrückt“. Übrigens lehnte er für seinen Musenalmanach für das Jahr 1797 die Gedichte dieses Konkurrenten ab. Fast ein Jahrhundert lang war Hölderlin weitgehend vergessen, bis 1910 Norbert von Hellingrath auf verschollene Manuskripte stieß. Erst durch ihn ist Hölderlins Werk für uns sichtbar geworden. Das Tiefste, aber auch das Abgründigste, das die deutsche Literatur hervorgebracht hat.

Und der Beginn des Nibelungenliedes, die Ringparabel, der Osterspaziergang? Sind das keine Gedichte? Erst in der Aufklärung haben sich die heute gebräuchlichen Gattungen der Dichtung etabliert, in der Romantik jedoch schon wieder vermischt. Heute werden die Grenzen immer undeutlicher. Doch nicht um diesem Prozess Vorschub zu leisten, habe ich die drei Stücke unter die Gedichte geschmuggelt. Mit der Auswahl der ersten Zeilen des Nibelungenliedes wollte ich den Ton dieses Epos zu Gehör zu bringen; die stolze Schwermut der alten maeren war mir wichtiger als gelehrte Klassifikation. Sprechen wie vor tausend Jahren: Nutzen Sie diese Zeitmaschine, die nur ein paar Lippenbewegungen kostet!

Oft ist es die Vertonung, die ein Gedicht dem Gedächtnis bewahrt. Hagedorns Die Alte verdankt Mozart ihr Überleben; Wilhelm Müllers Lindenbaum ist aufgegangen in Schuberts Lied; und mitunter verschwindet nicht wie bei Klopstock das Werk hinter dem Namen, sondern der Autor in seinem Werk, das, zumindest in Teilen, weiterlebt, als Volkslied.

Jeder Kanon ist auch dynamisch, das heißt, er ist gesellschaftlichem und kulturellem Wandel unterworfen. Trotzdem wissen wir, dass es allgemeingültige, vom Zeitgeschmack unabhängige, ästhetische Werte gibt, die ein Werk lebendig erhalten. Nur diese Vitalität sichert einem Kunstwerk den Verbleib im Kanon. Und wodurch kommt diese Vitalität zustande? Es sind wohl Qualitäten anthropologischer Natur. Es gibt sie, in allen Kunstgattungen, sie sind die Bedingung dafür, dass Verse von Sappho heute so klingen, als seien sie jetzt für uns geschrieben. Es ist richtig: Wir sind es, die sie lesend wieder zum Leben erwecken. Vorausgesetzt, der Funke, den wir mit unserem Leseatmen entfachen, hat die Jahrtausende überdauert. Nur den Größten ist das vergönnt. Von ihnen lernen wir das Beste, was uns Kunst lehren kann: was es bedeutet, Mensch zu sein. Lernen, die Leiden, Freuden, Gedanken und Gefühle unserer Vorfahren zu den unseren in Beziehung zu setzen, zu unserer Vorstellung, was ein Mensch heute ist und sein sollte und was Menschsein in der Zukunft bedeuten könnte. Diese Verbindung zwischen den Zeiten darf nicht abreißen. Hierfür schließen wir, die Lebenden, für unsere Nachkommen einen Pakt mit den Toten.

An Sängern auf Zeit herrscht wahrlich kein Mangel

So rasch über die Namen vom Kern des Kanons Einigkeit zu erzielen ist, so schwer fällt dies bei den Sängern auf Zeit. An ihnen ist kein Mangel. Mag sein, sie haben nicht so kräftige Stimmen wie die Vorsänger, doch manchmal gelingt ihnen ein Gedicht so vollkommen, dass, wenn schon kein Solo, so doch ein Mitsingen gerechtfertigt ist. Sie machen dem Gesang der Unbestreitbaren keine Schande. Im Gegenteil. Sie rauen ihn auf, machen ihn zeitgenössischer. Lassen durch ihre Nähe auch das Alte, scheinbar allzu gut Bekannte, wieder jünger und fremder klingen. Gleich, ob in 100 Jahren zum Kernbestand aufgerückt oder in einer Fußnote verschwunden, wirken sie der Sakralisierung des Kanons entgegen.

Hier kann, ja hier muss gestritten werden. Muss Hoffmann von Fallersleben mit dem Lied der Deutschen sein? Warum fehlt die Karschin mit ihrem Gedicht von den Kirschen? Sie war doch die erste deutsche Dichterin, die von ihrer Arbeit leben konnte. Warum fehlen Herta Kräftner, Mascha Kaléko, Inge Müller – wo ohnehin so wenig Frauen vertreten sind. Warum fehlen Stephan Hermlin und J. R. Becher, Rudolf Hagelstange, Peter Gan, Wolfgang Weyrauch, Nicolas Born? Je näher wir an die Gegenwart rücken, desto größer wird für uns das Stimmengewirr.

Der Kern des Kanons ist nichts als ein Fundament, von dem aus gesichtet wird. Und auch das nicht, um nur am Vergangenen zu hängen, sondern um Bezugspunkte für das Heutige zu finden. Ausgehend vom Kern, sind wir offen, auch das Fremde, Beunruhigende als Möglichkeit lyrischen Sprechens anzuerkennen. Das gilt besonders für die zeitgenössische Lyrik. Ich habe, wie es die Verabredung der ZEIT-Schülerbibliothek ist, auf Gedichte lebender Autoren verzichtet.

Der Wettstreit um eine Stimme im Kanon dauert an. Diese Sammlung ist nur eine mögliche, ist nur meine Auswahl. Denn, so schrieb Goethe an Karl Friedrich Reinhardt: „Glücklicherweise bleibt uns zuletzt die Überzeugung, daß gar vieles nebeneinander bestehen kann und muß, was sich gerne wechselseitig verdrängen möchte: der Weltgeist ist toleranter als man denkt.“

Ulla Hahn ist eine der bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen der Gegenwart. Sie veröffentlichte zahlreiche Gedichtbände, zuletzt „Galileo und die zwei Frauen“ (1997). Im Herbst erscheint ihr neuer Roman „Unscharfe Bilder“ (DVA)

Stimmen im Kanon

Deutsche Gedichte; ausgewählt von Ulla Hahn; Reclam Verlag, Stuttgart 2003; 368 S., 10,– Euro

(Ab Mitte August im Buchhandel)

(c) DIE ZEIT 17.07.2003 Nr.30

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