Der Schriftspracherwerb ist ein soziales Ereignis – Anmerkungen zu PISA von Ada Sasse

Dr. Ada Sasse ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Erfurt. Sie ist Mitglied im Vorstand der DGLS.

Die Diskussion der Ergebnisse der PISA-Studie lässt sich mit der lakonischen Feststellung zusammenfassen: Vor PISA ist nach PISA. Denn die hier referierten Schieflagen im deutschen Bildungssystem sind in ihren Umrissen lange bekannt. So weisen empirische Bildungsforscher seit Jahren darauf hin, dass sich die Bildungschancen für Schüler/innen aus sozial benachteiligten Lebenslagen seit der expansiven Phase des Bildungssystems vor dreißig Jahren nicht verbessert, sondern weiter verschlechtert haben. Neu ist die empirische Schärfe, mit der diese Verschlechterungen benannt werden. Zunächst ist zu erfahren, dass 10 % der fünfzehnjährigen Schüler/innen in Deutschland nicht über elementare Fähigkeiten verfügen, um einem einfach strukturierten Lesetext die wesentlichsten Informationen zu entnehmen. Weitere 13 % beherrschen zwar diese elementaren, aber keinerlei weiterführende Kompetenzen im Umgang mit Schriftlichem. Damit sind bei fast einem Viertel aller Fünfzehnjährigen solche Fähigkeiten nicht oder nur fragmentarisch vorhanden, wie sie zu einem erfüllten und selbstbestimmten Leben in modernen Gesellschaften unabdingbar sind. Und 42 % aller Fünfzehnjährigen geben an, überhaupt nicht zum Vergnügen zu lesen. Zu diesen referiert die PISA-Studie weitere Befunde, die in der Feststellung gipfeln, dass ein „straffer Zusammenhang“ zwischen der sozialen Herkunft der Schüler/innen und ihren erworbenen bzw. eben nicht erworbenen Kompetenzen besteht. Schwache und starke Leser, so die Studie, finden sich in allen sozialen Lebenslagen; jedoch ist die Gruppe derjenigen Leser, die nur sehr geringe Lesekompetenzen haben, in den unteren sozialen Lebenslagen besonders groß. Da die Beherrschung der Schriftsprache ein wichtiges Kriterium bei Schullaufbahnentscheidungen darstellt, erscheinen die Angaben zur sozialen Herkunft der Schülerschaft verschiedener Schultypen nur folgerichtig: Während 50 % der fünfzehnjährigen Gymnasiasten in Familien der oberen Dienstklasse leben, kommen nur 10 % der Gymnasiasten dieser Altersgruppe aus Familien von ungelernten oder angelernten Arbeitern. Dieses Verhältnis kehrt sich in der Hauptschule um, denn 10 % ihrer fünfzehnjährigen Schüler kommen aus Familien der oberen Dienstklasse und 40 % aus Familien von ungelernten Arbeitern. Mögen sich diese empirischen Daten auch herumsprechen bis zu den Fachleuten, die Probleme im Schriftspracherwerb noch immer (oder wieder) bevorzugt auf die Hirnphysiologie, auf Teilleistungsstörungen, auf mangelnde Blickfixierungen u.ä. zurückführen!  
Die amtlichen Reaktionen lassen nun jedoch ahnen, dass die Bildungsbenachteiligung von Schülern aus prekären Lebenslagen nicht als ein sofort zu beseitigender Notstand aufgefasst wird. Es ist auch weiterhin damit zu rechnen, dass entscheidende Rahmenbedingungen zu einem erfolgreichen Schriftspracherwerb durch alle Kinder, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, nicht gesichert sein werden. So beginnt die zum Erscheinen der Studie herausgegebene KMK-Pressemitteilung vom 04.12.2001 mit dem Satz: „Eine Diskussion um die Unterrichtsinhalte schulischer Bildung wird die unmittelbare Konsequenz der Ergebnisse der PISA-Studie ... sein“ (Hervorh. A.S.). Die Vermeidung des potenziellen oder tatsächlichen Ausschlusses von Schüler/innen aus benachteiligten Lebenslagen verlangt aber weitaus mehr als ausgerechnet die Revidierung von Unterrichtsinhalten! Hier entsteht der Eindruck, dass der fünfte vor dem ersten Schritt unternommen werden soll. Dieser Eindruck verstärkt sich bei der Lektüre der KMK-Pressemitteilung, die bereits einen Tag später, am 05.12.2001, erschien. Sie beinhaltet „vorrangig einzuleitende Maßnahmen“, auf die sich in einem Gespräch die Kultusministerkonferenz, Lehrerverbände und die GEW geeinigt hatten. Als erste einzuleitende Maßnahme gilt: „Lernschwache Schülerinnen und Schüler im unteren Leistungsbereich müssen besonders gefördert werden, insbesondere auch durch Entwicklung neuer Konzepte für das Lernen in Hauptschulen und Förderschulen“. Zu dieser Empfehlung ist anzumerken: Das Lernen von Haupt- und Förderschülern unterscheidet sich nicht grundlegend vom Lernen der Grundschüler oder der Gymnasiasten. Von qualitätvollen Konzepten profitieren grundsätzlich alle Schüler.   Zu fragen ist also nicht nach neuen Konzepten für Schularten, in denen sozial benachteiligte Schüler/innen ohnehin schon überrepräsentiert sind, sondern nach Konzepten, die es diesen Schülern ermöglichen, sich in den anderen, insbesondere in den weiterführenden Schularten zu behaupten! Eine gute Schule, so die Schlussfolgerung, ist eine Schule, der es gelingt, auch langsam lernende und sozial benachteiligte Schüler erfolgreich zu integrieren. Dieser Gedanke klingt in einer KMK-Pressemitteilung an, die einen weiteren Tag später, am 06.12. 2001, erschien, wenigstens vorsichtig an. Hier werden erste Konsequenzen der Kultusministerkonferenz aus der PISA-Studie in Form von sieben Handlungsfeldern vorgestellt. Immerhin das letzte, das siebte Handlungsfeld umfasst „Maßnahmen zum Ausbau von schulischen und außerschulischen Ganztagsangeboten mit dem Ziel erweiterter Bildungs- und Fördermöglichkeiten, insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit Bildungsdefiziten und besonderen Begabungen“. Endlich, denkt man bei sich, rückt das Schulsystem als Ganzes ins Blickfeld.  Fehlt nur noch, dass dieses Handlungsfeld in der Prioritätenliste an die erste Stelle rückt und sie so vom Kopf auf die Füße stellt.

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