IGLU 2016: Wir brauchen eine Wende in der Bildungspolitik

Seit 2001 beteiligt sich Deutschland mit der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) regelmäßig an der international-vergleichenden Schulleistungsuntersuchung Progress in International Reading Literacy Study (PIRLS). IGLU wird im Abstand von fünf Jahren durchgeführt und liefert nicht nur Daten  zum Leseverständnisses, zu Motivation und Leseverhalten  von Schülerinnen und Schülern am Ende der vierten Jahrgangsstufe, sondern auch Informationen zu Faktoren, die Lesekompetenz begünstigen, wie familiäre, schulische, curriculare und unterrichtliche Merkmale. Ferner ist es möglich, Entwicklungstrends zu bestimmen.

Die neuen Ergebnisse sind wenig erfreulich. Sie werden hier nur stichwortartig berichtet. Eine genaue Darstellung aller Ergebnisse enthält das Buch von Anke Hußmann, Heike Wendt, Wilfried Bos,. Albert Bremerich-Vos, Daniel Kasper, Eva-Maria Lankes, Nele McElvany, Tobias C. Stubbe & Renate Valtin (Hrsg.) IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich, Waxmann 2017, das kostenlos aus dem Netz heruntergeladen werden kann.

1. Leseleistung und Leseverhalten

- Der Anteil der Kinder mit schwachen Lesekompetenzen ist von 2001 bis 2016 signifikant auf 18.9 Prozent angestiegen. Für diese Gruppe ist zu erwarten, dass sie in der Sekundarstufe I mit erheblichen Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern konfrontiert sein werden, wenn es nicht gelingt, sie dort maßgeblich zu fördern. Von den meisten europäischen Staaten wird diese Quote signifikant unterschritten, überboten nur von Frankreich, der Französischen Gemeinschaft in Belgien und Malta.

- Zwar ist der Anteil der Kinder, die das höchste  Leseleistungsniveau (Kompetenzstufe V) erreichen, signifikant auf 11 Prozent angestiegen, doch gelingt es einigen unserer europäischen Nachbarstaaten, diesen Anteil auf annähernd 20 Prozent oder mehr zu bringen: nämlich Finnland, Nordirland, Irland, Polen, England und Bulgarien.

- Auch bei der Lesemotivation ist beim Vergleich der Ergebnisse der Jahre 2011 bis 2016 eine ungünstige Entwicklung festzustellen: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit hoher Lesemotivation verringert sich signifikant um 7 Prozentpunkte, und der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit niedriger Lesemotivation erhöht sich um 6 Prozentpunkte.

- Bibliotheksnutzung. Die Antworten auf die Frage „Wie oft leihst du dir Bücher (einschließlich E-Books) aus der Schulbibliothek oder der Bibliothek in deinem Ort aus?“ verweisen auf ungünstige Werte für Deutschland im internationalen Vergleich. 34.7 Prozent der Schülerinnen und Schülern leihen sich nie oder fast nie Bücher aus. In nur 3 Ländern ist dieser Anteil noch höher (Chile, Slowakei und Tschechien). Problematisch ist vor allem der Befund, dass sich zwischen 2011 und 2016 in Deutschland die Anzahl derjenigen, die nie oder fast nie Bücher aus der Bibliothek auszuleihen, um 10 Prozent vergrößert, wobei dies in allen Leseleistungsgruppen zu beobachten ist. Der Deutsche Bibliotheksverband hat kürzlich Deutschland in Sachen Schulbibliotheken als Notstandsgebiet bezeichnet und folgende Ursachen für den unzureichenden Ausbaustand von Schulbibliotheken aller Schularten genannt: das Fehlen klar definierter rechtlicher und finanzieller Zuständigkeiten und verbindlicher Organisationsstrukturen in Bund, Ländern und Kommunen (Deutscher Bibliotheksverband, 2016).

Die IGLU-Befunde zum Leseverhalten der Schülerinnen und Schüler in der Grundschule verweisen auf einen internationalen Trend, demzufolge das Lesen von Büchern im Leben der Kinder an Bedeutung verliert, während andere Medien an Bedeutung gewinnen.

2.    Lehr- und Lernbedingungen

In 4. Klassen wird in Deutschland zu wenig Zeit für expliziten Leseunterricht, auch über Fächergrenzen hinweg, aufgebracht, nämlich hochgerechnet 90 Stunden, eine Zahl, die beträchtlich unter dem internationalen Mittelwert von knapp 160 Stunden liegt. Da in den anderen Staaten Ganztagsschulsysteme bestehen, gibt es vermutlich auch mehr Zeit für Leseunterricht. Dieses Defizit an schulischer Unterrichtszeit wird in Deutschland nicht kompensiert durch häufiges außerschulisches Lesen, denn drei Viertel der befragten Schüler und Schülerinnen geben an, weniger als eine Stunde pro Schultag außerhalb der Schule lesen.

Ein guter Leseunterricht ist durch ein hohes kognitives Anregungspotential, Methodenvielfalt und individualisierte Lernangebote gekennzeichnet. Was die Unterrichtsqualität betrifft, so deuten die neuen ebenso wie die alten Befunde darauf hin, dass Deutschunterricht nur wenig kognitiv anregend ist. Eine Vermittlung von anspruchsvollen Lesestrategien findet nur selten statt. Obwohl seit Jahren in der fachdidaktischen Diskussion die Bedeutung von Lesestrategien betont wird und ihre Vermittlung in den länderübergreifenden Bildungsstandards und den Curricula aller Länder der Bundesrepublik Deutschland verankert ist, wird dies von vielen Lehrkräften vernachlässigt. Dieses Defizit spiegelt sich auch darin, dass bei den Schülern und Schülerinnen eine Differenz von 16 Punkten zwischen den mit dem IGLU-Lesetest gemessenen wissensbasierten und textimmanenten Verstehensleistungen besteht. Aufgaben, die dem tieferen Verständnis eines Textes dienen und bei denen ein Bezug zum eigenen Weltwissen hergestellt werden muss, sollten stärker betont werden.

Besonders beklagenswert ist das geringe Ausmaß der Förderung für leseschwache Schülerinnen und Schüler. Wie schon in IGLU 2006 zeigt sich, dass von den Leseschwachen (Kompetenzstufe I und II) nur jedes dritte Kind eine besondere schulische Förderung erhielt. In erfolgreichen Ländern stehen Fachspezialisten (z.B. Leseexperten, Sprachtherapeuten, Beratungslehrer) oder zusätzliches pädagogisches Personal, wie Hilfsassistenten, zur Verfügung, mit dem Ziel, die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern zu optimieren und die Belastung für Lehrkräfte zu kompensieren, was auch im Hinblick auf die angestrebte Inklusion von Bedeutung ist. Deutschland hat EU-weit die ungünstigsten Verhältnisse: Für 84 Prozent der Schülerinnen und Schüler (2011 waren es noch 78 %) stehen keine Fachspezialisten und für 66.6 Prozent keine Hilfslehrkräfte im Leseunterricht zur Verfügung.

3. Soziale Disparitäten

In Deutschland sind die Leistungsunterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen besonders hoch. Anbei eine Auflistung der Differenzen im Lesetest bei verschiedenen Indikatoren:

Berufsstatus der Eltern: 74

Bücher im Haushalt: 58

Deutsch als Familiensprache: 40

Migrationshintergrund: 49 (beide Elternteile im Ausland geboren), 24 (ein Elternteil im Ausland geboren).

Eine zentrale Gelenkstelle für das Entstehen von Bildungsbenachteiligung in Deutschland ist der Übergang in die Sekundarstufe. Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern haben eine 3.5mal höhere Chance auf eine Gymnasialpräferenz als Kinder aus bildungsfernen Familien, und dies unter Kontrolle der Lesekompetenz und der kognitiven Fähigkeiten. 2001 war diese Chance nur 2,5mal so groß.

4     Handlungsbedarf

Die IGLU Befunde verweisen auf drei Schwachstellen der Bildungspolitik. Einerseits geht es um die Sicherung eines qualitativ hochwertigen Leseunterrichts (deutliche Erhöhung des zeitlichen Anteils von Leseunterricht, Verstärkung des kognitiven Anregungspotentials des Leseunterrichts), wobei die Lehrerfortbildung in den Blick gerät. Zum anderen ist dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass das Lesen von Büchern international und national im Leben der Kinder an Bedeutung verliert, während digitale Medien wichtiger werden. Die Kultusministerkonferenz hat mit ihrer 2016 beschlossenen Strategie „Bildung in der Digitalen Welt“ anspruchsvolle Ziele gesetzt: Schon in den nächsten zwei Jahren soll der vorgeschlagene Kompetenzrahmen in die Lehrpläne integriert und Bestandteil des Curriculums für jedes Fach sein. Ferner sollen für alle Schülerinnen und Schüler digitale Lernumgebungen geschaffen werden. Zeitgleich mit IGLU 2016 wurde mit ePirls (Mullis & Marzin, 2015) untersucht, wie Schüler und Schülerinnen beim Lesen elektronischer Texte abschneiden. Leider hat Deutschland nicht an dieser Studie teilgenommen und somit auf hilfreiches Datenmaterial verzichtet.

Ferner geht es um umfassende Maßnahmen, die darauf abzielen müssen, die gravierende Bildungsbenachteiligung in Deutschland abzubauen. Diese Maßnahmen betreffen institutionelle, schulstrukturelle und unterrichtliche Faktoren:

  • Gezielte Elternarbeit (Family Literacy)
  • Sicherung einer qualitativ hochwertigen Bildung und Erziehung im Elementarbereich
  • Frühzeitige Sprachstandserhebungen und verpflichtende Förderung von Kindern mit entsprechendem Bedarf schon vor Schuleintritt
  • Verbriefter Anspruch auf gezielte schulische Unterstützung für Schülerinnen und Schüler auf den unteren Kompetenzstufen. Eltern berichten mir, dass sie erst eine Legasthenie-Bescheinigung vorlegen müssen, damit die Schule aktiv wird.
  • Flächendeckender Ausbau von Ganztagsschulen. Während in anderen Ländern Ganztagsschulen selbstverständlich sind (und der Ausdruck Ganztags-Schule ein Pleonasmus ist), besuchen in Deutschland nur 6 Prozent eine Ganztagsschule mit rhythmisiertem Angebot, also einen Schultyp, von dem besonders günstige Wirkungen auf die Lern- und Persönlichkeitsentwicklung zu erwarten sind
  • Verlängerung des gemeinsamen Lernens und Abschaffung der frühen Aufteilung von Schülerinnen und Schülern in unterschiedliche Schularten. Dies entspricht auch den Wünschen der Eltern. In der JAKO-O Elternbefragung sprechen sich 58 Prozent für eine Aufteilung nach Klasse 6, 17 Prozent sogar für eine Aufteilung nach Klasse 9 aus. IGLU hat wiederholt gezeigt, dass bei der Aufteilung der Schülerinnen und Schüler nach Klasse 4 eine erhebliche Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern festzustellen ist.

 

Eine Einordnung dieser Befunde in ein europäisches Rahmenkonzept von Leseförderung findet sich unter diesem link: https://www.waxmann.com/?eID=texte&pdf=3700Volltext.pdf&typ=zusatztext

 

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