Die alarmierenden Befunde der neuen IQB-Studie müssten als „Weckruf“ verstanden werden, schreibt die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) in ihrem aktuellen Gutachten „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. Perspektiven für die Grundschule”. Gefordert wird die Konzentration auf basale Kompetenzen wie Lesen, Schreiben und Mathematik, damit mehr Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik in der Grundschule erreichen können. Dazu werden zahlreiche Maßnahmen empfohlen.
Vergessen ist, dass ein derartiger Weckruf („wake-up call“) schon 10 Jahre zuvor auf europäischer Ebene erfolgte. Besorgt durch den hohen Anteil an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der EU, die nur ein niedriges Lesekompetenzniveau erreichen, hatte die EU-Kommission eine Gruppe Hochrangiger Experten für Schriftsprache (High Level Group of Experts of Literacy) berufen, die 2012 ihren Abschlussbericht vorlegte mit der Hauptbotschaft: Leseförderung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es wurden drei Handlungsfelder aufgezeigt (Schaffung einer schriftreichen Umgebung; Verbesserung des Lernens und des Unterrichts; Chancengerechtigkeit und Inklusion) und es wurde ausführlich dargelegt, welche Maßnahmen unterschiedliche Akteure ergreifen müssten, um die Anzahl leseschwacher Personen zu verringern, wobei zahlreiche Beispiele guter Praxis aufgezeigt wurden, auch für den so wichtigen Bereich der family literacy.
Schon seit Jahren, ja Jahrzehnten wird auf Defizite im Bereich der Grundschulpolitik aufmerksam gemacht und dringende bildungspolitische und didaktische Maßnahmen werden angemahnt. Seit seiner Gründung im Jahr 1969 hat sich der Arbeitskreis Grundschule (nun Grundschulverband) in über 150 Büchern der Reihe „Beiträge zur Reform der Grundschule“ unablässig für eine Verbesserung der Grundschule eingesetzt. Im Frankfurter Manifest von 1989 hieß es: „Die Verantwortlichen in den Parteien sind aufgerufen: Zögern Sie die Verbesserungen der Grundschule nicht hinaus!“
In Vergessenheit geraten ist offenbar auch, dass das deutsche IGLU-Team seit den Erhebungen 2011 und 2016, als sich eine Verschlechterung der Leseleistungen im Vergleich zu 2001 und 2006 ankündigte, bildungspolitische und didaktische Maßnahmen forderte, wie sie ebenfalls im neuen Gutachten der SWK genannt werden.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben hat sich seit ihrer Gründung für die Verbesserung der Lernbedingungen von Kindern eingesetzt, beispielsweise in der Proklamation der „Zehn Rechte des Kindes auf Lesen und Schreiben“ (2000). Verwiesen sei ebenfalls auf die Stellungnahme der DGLS zu den Bildungsstandards 2004, in der es heißt: „Derartige Standards sind als förderdiagnostisches Instrumentarium möglichst für jede Klassenstufe der Grundschule zu entwickeln. Bei Nichterreichung von Mindeststandards sollte das Kind Anspruch haben auf Fördermöglichkeiten bzw. die Schule Anspruch auf weitere Ressourcen (z.B. zusätzliche Finanzmittel und Fachleute) zur Verbesserung der Lernbedingungen. Derartige Standards müssen eingebettet sein in umfassende Konzepte zur Reform des Bildungswesens, der Schulentwicklung und der Lehreraus- und –fortbildung.“
Kurzum: An Weckrufen, Mahnungen, Forderungen und Verbesserungsvorschlägen mangelt es in Deutschland nicht – jedoch an deren Umsetzung.
Weiterführende Links:
Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. Perspektiven für die Grundschule. Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/KMK/SWK/2022/SWK-2022-Gutachten_Grundschule.pdf
Europäische Kommission, Generaldirektion Bildung, Jugend, Sport und Kultur, EU high level group of experts on literacy : final report, September 2012, Publications Office, 2014, https://data.europa.eu/doi/10.2766/34382
Frankfurter Manifest zum Bundesgrundschulkongress 1989https://www.pedocs.de/volltexte/2019/17543/pdf/GSV_1990_Frankfurter_Manifest_zum_Bundesgrundschulkongress_1989.pdf
Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS) zu dem Entwurf der KMK zu Bildungsstandards im Fach Deutsch (Entwurf vom 23.4.2004) https://www.pedocs.de/volltexte/2021/23681/pdf/Valtin_2004_Stellungnahme_der_DGLS.pdf
Christoph Jantzen
Gibt es eigentlich Mitgliederinnen? Geschlechtersensitive Sprache
Hanna Sauerborn
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Erika Altenburg
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Sabine Birck
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Hans Brügelmann
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern