Die PISA-Misere folgt auf die IGLU-Misere

Die neuen PISA 2018 Daten bescheinigen Deutschland ein Zurückfallen in den Leseleistungen, eine Zunahme der Risikogruppe mit unzureichenden Lesefähigkeiten und eine Abnahme der Lesemotivation. Diese Ergebnisse der fünfzehnjährigen Jugendlichen verwundern nicht angesichts der beunruhigend-negativen Befunde der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU von 2016,  in der Schülerinnen und Schüler der vierten Klasse einbezogen waren. Denn die Grundschule ist Fundament für weiterführendes Lernen – und dieses Fundament ist in Deutschland sehr gebrechlich geworden. Dies betrifft nicht nur die Leseleistung, sondern auch Motivation und Schulklima. Laut IGLU 2016 ist der Anteil der Kinder mit schwachen Leseleistungen in den letzten 15 Jahren signifikant auf 19 Prozent angestiegen. Für diese Gruppe ist zu erwarten, dass sie in der Sekundarstufe I mit erheblichen Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern konfrontiert sein wird, wenn es nicht gelingt, sie dort maßgeblich zu fördern – Und PISA 2018 dokumentiert, dass eine derartige Förderung nicht gelungen ist, denn der Prozentsatz der Jugendlichen auf den untersten Lesekompetenzstufen beträgt 20 Prozent.

Auch bei den Grundschulkindern lässt sich eine negative Entwicklung in Bezug auf Motivation und Leseverhalten feststellen. Was die tägliche Lesedauer betrifft, so lesen in Deutschland 40 Prozent der Kinder weniger als 30 Minuten pro Tag. Nur Kasachstan und Malta haben hier ähnlich ungünstige Werte. Außerhalb der Schule – so zeigt IGLU im internationalen Vergleich – wird von den Schülerinnen und Schülern in Deutschland also wenig gelesen. Hinzu kommt, dass auch in der Schule wenig Leseunterricht erteilt wird. In 4. Klassen wird etwa 90 Stunden Zeit für expliziten Leseunterricht, auch über Fächergrenzen hinweg, aufgebracht. Diese Zahl liegt beträchtlich unter dem internationalen Mittelwert von knapp 160 Stunden. Zudem wird im Leseunterricht zu wenig Wert gelegt auf die Vermittlung von anspruchsvolleren Lesestrategien, also Methoden der Texterschließung und  -verarbeitung. Besonders beklagenswert ist das geringe Ausmaß der Förderung für leseschwache Schülerinnen und Schüler.Wie schon in IGLU 2006 zeigt sich, dass von den Leseschwachen nur jedes dritte Kind eine besondere schulische Förderung erhielt. In erfolgreichen Ländern stehen Fachspezialisten (z.B. Leseexperten, Sprachtherapeuten, Beratungslehrer) zur Verfügung, mit dem Ziel, die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern zu optimieren und die Belastung für Lehrkräfte zu kompensieren, was auch im Hinblick auf die angestrebte Inklusion von Bedeutung ist. Deutschland hat hier EU-weit die ungünstigsten Verhältnisse: Für 84 Prozent der Schülerinnen und Schüler (2011 waren es noch 78 %) stehen keine Fachspezialisten im Leseunterricht zur Verfügung.

Wie PISA haben auch alle bisherigen IGLU-Erhebungen die Abhängigkeit der schulischen Leistungen von der sozialen Herkunft (Berufsstatus der Eltern, Migrationshintergrund) gezeigt, die in Deutschland besonders groß ist. Und diese Kluft hat sich in den letzten 15 Jahren tendenziell sogar etwas vergrößert. Das zeigt sich auch an einer zentralen Gelenkstelle für das Entstehen von Bildungsbenachteiligung in Deutschland,  dem Übergang in die Sekundarstufe. Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern haben eine 3,5mal höhere Chance auf eine Gymnasialempfehlung als Kinder aus bildungsfernen Familien, und dies unter Kontrolle der Lesekompetenz und der kognitiven Fähigkeiten. 2001 war diese Chance nur 2,5mal so groß.

Beunruhigend sind auch die Befunde von IGLU 2016 zum Schulklima. Viele der Zahlen, die aus dem internationalen Datensatz vorliegen, wurden  bisher in Deutschland nicht rezipiert. Das ist deshalb erstaunlich, weil das Schulklima neben der Leistungsfähigkeit ein wichtiges Merkmal für Schulqualität darstellt und auch für die Entwicklung schulnaher Persönlichkeitsmerkmale wie Ich-Stärke und Leistungsvertrauen bedeutsam ist. Sucht man in den internationalen IGLU-Tabellen nach Deutschland, ist es zeitsparend, gleich am unteren Ende der Verteilungen zu beginnen. Berichtet wird in den Tabellen jeweils der Anteil der betreffenden Schüler. Nur bei knapp der Hälfte der Schüler äußern die Eltern eine hohe Zufriedenheit mit der Schule ihrer Kinder, international sind es zwei Drittel. Nur 38 Prozent der Schüler haben Lehrkräfte, die eine hohe Berufszufriedenheit zeigen, international sind es 67 Prozent. In einer früheren IGLU-Erhebung lag der Wert für die hohe Berufszufriedenheit der Lehrkräfte in Deutschland noch bei 57 Prozent,  hier ist also ein erheblicher Rückgang zu verzeichnen. Auch die Ergebnisse der Schüler und Schülerinnen in Bezug auf das Wohlbefinden in der Schule liegen unter dem internationalen Durchschnitt. Gefragt wurde danach, ob die Kinder gern zur Schule gehen und sich dort sicher und zugehörig fühlen. Nur knapp die Hälfte der Viertklässler (47%) bekundet ein großes Wohlbefinden, international sind es hingegen 59 Prozent. Ferner gaben die Schulleitungen Auskunft über die Disziplin an der Schule, erfasst in Bezug auf verbale und körperliche Gewalttaten, Vandalismus oder Schwänzen. Für 43 Prozent der Schüler und Schülerinnen in Deutschland gibt es in diesem Bereich so gut wie keine Probleme, international sind es jedoch 62 Prozent. Auch das Urteil der Lehrkräfte über Sicherheit und Ordnung an ihrer Schule fällt verhalten aus. Der internationale Wert liegt hier bei 62 Prozent, in Deutschland sind es nur 48 Prozent. 

Es besteht also ein großer Handlungsbedarf für die Grundschule und die weiterführenden Schulen (angesichts der PISA-Ergebnisse möchte man „weiterführend“ in Anführungszeichen setzen). Da Lesenkönnen die Schlüsselkompetenz ist für schulisches und lebenslanges Lernen, für gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe, geht es zunächst einmal um die Sicherung eines qualitativ hochwertigen Leseunterrichts (deutliche Erhöhung des zeitlichen Anteils von Leseunterricht, der motivierender und kognitiv anregender werden muss), eine konsequente Förderung von Kindern mit schwacher Lesekompetenz und eine Verbesserung der Lehrerausbildung. Angesichts des heute schon bestehenden Lehrermangels ist es fraglich, ob die Grundschule diesen Aufgaben in Zukunft besser gerecht werden kann.

Ferner geht es um umfassende Maßnahmen, die darauf abzielen müssen, die gravierende Bildungsbenachteiligung in Deutschland abzubauen. Diese Maßnahmen betreffen institutionelle, schulstrukturelle und unterrichtliche Faktoren:

  • Gezielte Elternarbeit (Family Literacy) und Sicherung einer qualitativ hochwertigen Bildung und Erziehung im Elementarbereich
  • Frühzeitige Sprachstandserhebungen und verpflichtende Förderung von Kindern mit entsprechendem Bedarf schon vor Schuleintritt.
  • Verbriefter Anspruch auf gezielte schulische Unterstützung und Förderung für Schülerinnen und Schüler auf den unteren Stufen der Lesekompetenz. Immer wieder berichten Eltern, dass sie erst eine Legasthenie-Bescheinigung vorlegen müssen, damit die Schule aktiv wird.
  • Verlängerung des gemeinsamen Lernens und Erhöhung der Durchlässigkeit im Schulsystem. Deutschland ist weltweit das einzige Schulsystem, das Kinder schon nach vier Schuljahren in unterschiedliche Schularten aufteilt. Die OECD-Analysen belegen, dass eine frühe Aufteilung nicht der Förderung der Leistungen dient, sondern die soziale Auslese verstärkt.
  • Flächendeckender Ausbau von Ganztagsschulen. Während in anderen Ländern Ganztagsschulen selbstverständlich sind (und der Ausdruck Ganztags-Schule ein Pleonasmus ist),  besuchen in Deutschland nur 6 Prozent eine Ganztagsschule mit rhythmisiertem Angebot, also einen Schultyp, von dem besonders günstige Wirkungen auf die Lern- und Persönlichkeitsentwicklung zu erwarten sind.

Diese Forderungen haben wir in unserem IGLU-Team von der ersten Erhebung 2001 bis zur gegenwärtig letzten Erhebung 2016 fast schon gebetsmühlenartig wiederholt – ohne dass eine dieser Forderungen realisiert worden wäre.  Und ohne eine Erhöhung der Bildungsausgaben, die mit gegenwärtig 4,3 Prozent des Bruttosozialprodukts weit unter dem OECD-Durchschnitt von 5, 2 Prozent liegen, sind diese Vorhaben nicht zu finanzieren. Da war doch noch was? Auf dem Dresdner Bildungsgipfel 2008 hatten Angela Merkel und die Ministerpräsidenten vereinbart, dass die Bildungsausgaben bis 2015 auf 7 Prozent steigen würden.

Die Autorin, Prof. für Grundschulpädagogik (i.R.) an der Humboldt Universität, warMitglied im deutschen IGLU-Team 2001 - 2016 und ist Vizepräsidentin der Europäischen Lesegesellschaften (FELA). 

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