Diesen Text schrieb Ute Andresen für das Buch "Schatzkiste Sprache 2", das im Sommer 2002 Wochen erschienen ist. "Schatzkiste Sprache" ist eine gemeinsame Publikation von DGLS und "Grundschulverband - Arbeitskreis Grundschule" (s.u.).

Ute Andresen ist Autorin und Leiterin der Pädagogischen Werkstatt Grundschule an der Universität Erfurt. Sie war Präsidentin der DGLS. Näheres zu ihrer Person und ihren Veröffentlichungen auf ihrer Homepage: www.lin-atelier.de (oder einfach auf den Namen oben klicken!).
Wer mit einer neuen Klasse zu arbeiten beginnt,
hätte gute Gründe, sofort zu erkunden, wie lesefähig die Kinder sind. Nicht nur im ersten Schuljahr, wo das Lesenlernen Programm ist, sondern auch in späteren Jahren. Viele Kinder, die bei Schulbeginn nicht lesen konnten, sind nach sechs bis zwölf Monaten Schule geübte, wendige LeserInnen, mit denen bzw. für die alle Lehrplanaufgaben gut zu schaffen sind. Aber andere Kinder sind zur selben Zeit noch lange nicht so weit.
Ab der zweiten Klassenstufe ist das gefährlich! Denn Kinder, die jenseits der für den elementaren Schriftspracherwerb vorgesehenen ersten Schulzeit nicht sicher und textbewusst lesen können, sind nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch in Mathematik und im Sachunterricht, sogar in Musik, wenn etwa ein Lied mit mehreren Strophen gesungen werden soll, regelrecht behindert. Sie erkennen nur ganz ungefähr, was vor ihnen auf dem Blatt steht. Sie raten, verstummen und verzagen, wenn sie Schriftliches als Informationsquelle benutzen, es vorlesen oder mit eigenen Worten wiedergeben sollen, was da mitgeteilt oder erklärt wird. Sie finden sich in Texten und Aufgaben, in Büchern und Lernmaterialien und schließlich im ganzen Unterricht nicht zurecht. Meist verbergen sie ihre peinliche Unbeholfenheit vor der Lehrerin, oft sogar vor sich selbst. Sie geben sich eher als Verweigerer, denn als Nichtkönner.
So stolpern sie in ein Verhängnis, das sie nicht erkennen können: Die Teilnahme am Unterricht, am Miteinander der lernenden Gemeinschaft entgleitet ihnen.
Doppelt vergebliche Mühe
Ihre LehrerInnen, die eine Lesefähigkeit voraussetzen, die nicht bei allen Kindern gegeben ist, unterrichten ungewollt oder gedankenlos an den Lesemuffeln vorbei, erreichen sie nicht, können ihnen nichts nützen, wo immer Lernen sich auf Lesen müsste stützen können. Das ist jeden Tag der Fall und macht Schule für die Lesemuffel zu einem Ort alltäglicher, sich beständig steigernder Frustration. Vergeblich kommen sie dorthin und versuchen, das zu tun, was man von ihnen erwartet.
Aber auch sich selbst handeln LehrerInnen, die nicht nur ihre Aufgaben abarbeiten, sondern etwas mit den Kindern erreichen wollen, sich tagtäglich Frust und Ärger ein, wenn sie die Leseschwäche mancher Kinder nicht berücksichtigen. Sie versuchen, allen Kindern etwas zu vermitteln, sie etwas lernen zu lassen, was ihnen wichtig werden kann und sie voranbringt. Sie gelangen aber nie so recht ans Ziel. Sie mögen den Kindern, die ihnen den Lohn für all ihre Lehrmühen schuldig bleiben, das dann mit einer schlechten Note quittieren. Aber das entlastet LehrerInnen nicht. Für gehässige Gemüter unter ihnen mag es gelegentlich so befriedigend sein wie ein Akt der Rache oder Macht. Wirklich befriedigend ist aber immer nur das Gelingen aufgrund von Anstrengung, die die Erwachsenen mit den Kindern verbindet.
Für die Kinder ist eine schlechte Note aufgrund von Leseversagen alles andere als hilfreich. Es bürdet ihnen die Verantwortung für ein Versagen auf, das sie in der Regel nicht selbst verschuldet haben und nicht aus eigener Macht überwinden können. Kinder, die nicht rechtzeitig, d.h. lehrplangerecht lesen gelernt haben, sitzen fest in einer Falle. Lesen bedeutet ihnen Peinlichkeit und Qual. Aber sie können der täglichen Kränkung, der Behinderung und Verwirrung durch ihre Schwäche und deren Offenbarwerden nicht entkommen. Jeder nächste Schultag hält neues Versagen bereit. Das lässt sie verzweifeln, lässt sie sich depressiv zurückziehen oder aggressiv behaupten. Wie sollen sie die Kraft finden, sich trotzdem selbständig im Lesen zu üben? Sie müssten es in Kauf nehmen, sich bloßzustellen – zumindest vor sich selbst. Scham und Hoffnungslosigkeit bewegen sie, allem Lesenmüssen aus dem Wege zu gehen, womit sich das Problem tiefer in ihr Lebens frisst.
Lesenot: Woher? Wohin?
Das alles kann man schon mit ein wenig liebevollem Hinsehen und Nachdenken erkennen. Man findet aber auch in der wissenschaftlichen Literatur bereits vor Jahrzehnten Aussagen zu den dramatischen Folgen des Leseversagens, das Elfriede Höhn 1967 eine "besonders spektakuläre Form schulischen Misserfolgs" nennt. Sie dreht vor vierzig Jahren die heute immer noch vielfach übliche Schuldzuweisung entschlossen um: "… bei Misserfolg sind in allen Fällen, wo er durch Liebesentzug, Bloßstellung, Strafen und Verzichte, die er im Gefolge hat, als Frustration empfunden wird, aggressive Reaktionen zu erwarten. Wenn also ein schlechter Schüler widersetzlich, böse und unverträglich ist, so ist dies nach tiefenpsychologischer Interpretation nicht die Ursache seines Schulversagens, auch nicht eine Begleiterscheinung, die zeigt, dass er >schlecht< in jedem Sinne des Wortes ist, sondern die unmittelbare Folge seines Misserfolgs. Auch die ängstliche Resignation, die die Anspruchs-Niveau-Forschung als charakteristische Reaktion auf länger anhaltende Misserfolge fand, kann als sekundäre Frustrationsfolge angesehen werden, die dann auftritt, wenn die Aggression verdrängt wird. Letzten Endes führt die Frustration zur Neurose. So zählen Gates und Bond (1936) bei Kindern, die dauernd im Lesen versagen - eine besonders spektakuläre Art schulischen Misserfolgs - nicht nur aggressive Verhaltensweisen auf wie Lärmen, Trotz, Ablehnung normaler sozialer Kontakte, Zerstörungswut und Grausamkeit, bzw. solche der Resignation wie Angst, Gehemmtheit, Introversion, verbunden mit Tagträumereien, sondern auch nervöse Verkrampfung, Stottern, Nägelbeißen und Schlafstörungen, also ausgesprochen neurotische Symptome. Dass es sich wirklich um Folgen des Misserfolgs handelt und nicht etwa um seine Ursachen, belegen die Autoren damit, dass nach einem Jahr Sonderunterricht, der Frustrationen vermied und den Kindern Erfolge brachte, die Symptome der Fehlanpassung verschwunden waren. Der Misserfolg kann also geradezu zum pathogenen Faktor werden."
Seit das geschrieben wurde, sind vielfältige Sonder- zu Förderschulen eingerichtet und mehrfach reformiert worden. Und neben den Schulen hat sich eine rührige Nachhilfe- und Therapie-Szene für Leseversager eingerichtet. Und im Gegenzuzug sind Wissen über und Verständnis und Verantwortung für Kinder mit Schwierigkeiten beim Lesenlernen weitgehend aus der Aus- und Fortbildung der LehrerInnen, die nicht in Sonder- und Förderschulen unterrichten, herausgenommen worden.
Die Förder- und Therapieszene geht in der Regel davon aus, dass das im Lesen versagende Kind ungenügend dafür entwickelt oder ausgerüstet war, auf die Weise geläufig lesen zu lernen, die die Grundschule für alle ihre Kinder vorgesehen hat. Man bietet nun an, bei den im regulären Unterricht versagenden Kindern durch gezielte Trainings individuelle Mängel zu beseitigen oder zu kompensieren und die Kinder dem Unterricht anzupassen.
Diese - oft einträgliche und darum aufdringliche - Hilfsbereitschaft hat der Grund- und Sekundarschule die Aufgabe abgenommen, bei sich selbst zu erkennen, wo ihre Erwartungen falsch und ihre Unterrichtsmethoden wenig nützlich oder sogar unsinnig oder schädlich sind, wo die Forderungen des Unterrichts die Kinder unnötig hemmen oder belasten, wo die Schule Kinder vernachlässigt oder im Stich lässt. Nach wie vor denkt man eher: "Es ist kein Wunder, dass ein verhaltensauffälliges Kind auch nicht gut lesen lernt oder gelernt hat!", als dass man erkennt: Ein Kind, das nicht so gut lesen kann wie die andern ringsum, hat keinen sicheren und geachteten Platz in der lernenden Gemeinschaft der Klasse hat und muss sich darum auffällig verhalten, wenn es sich selbst nicht ganz aufgeben will!
Und bei all dem Elend sind die vielen hochbezahlten LesedidaktikerInnen in unseren Universitäten sich beileibe nicht darin einig, dass sie mit ihrem gesammeltem Sachverstand offenbare Kunstfehler der von ihnen verkündeten Lesedidaktik und des Leseunterrichts – d.h. eindeutig nachlässige, einseitige, dogmatisch überspitzte oder erstarrte und schlicht schädliche Verfahren – miteinander erkennen sollten und könnten, und dass man sie benennen darf und muss, um deutlich davor zu warnen, Kinder ins Abseits des Analphabetismus irren zu lassen. Solche Zusammenarbeit müsste den Hang zu Rechthaberei und Richtungsstreit unter Akademikern bekennen und überwinden. Denn das steht fest: weder gleichschrittiger Unterricht nach der Fibel noch Offener Unterricht mit üppigem Materialbuffet, weder Lesen durch Schreiben noch Schreiben durch Lesen oder sonst ein theoretisch vielleicht überzeugendes Konzept kann zuverlässig garantieren, dass alle Kinder rechtzeitig, d.h. bis spätestens Mitte des zweiten Schuljahres, das Lesen so gut beherrschen, dass sie es künftig als ein Werkzeug zur Texterschließung selbstverständlich nützen können.
Freiheit und Verantwortung
Solchen Erfolg bringt keins der gängigen Konzepte oder Lehrwerke zuverlässig mit sich. Er tritt nur dann ein, wenn LehrerInnen am Werke sind, die sich jenseits aller didaktischen Verordnungen den Kindern und ihren Freuden und Nöten, ihren Ängsten und Interessen zuwenden. Die von Fall zu Fall für sie oder mit ihnen den richtigen Weg suchen und sie mit Ermutigung, Vertrauen und gelegentlich auch mit Entschiedenheit, sogar Strenge auf dem Weg und im Lerngang halten. Die wissen, dass Kinder nicht nur ein Recht auf Freiheit, sondern auch eins auf liebevoll kritischen Halt haben. Die für die Kinder das ihnen Notwendige erkennen und durchsetzen, wo die Kinder noch nicht ermessen können, was das ist.
"Freiheit und Verantwortung sind Zwillinge." Dieses Sprichwort hat uns einmal im ersten Schuljahr in einem langen Gespräch beschäftigt. Erklären oder begründen musste ich es nicht. Die Kinder zeigten in immer neuen Beispielen, wo es in ihrem Leben in Kraft ist: Ihre Freiheit reicht so weit, wie sie fähig sind, auf sich selbst aufzupassen, über ihr Tun und Lassen verantwortungsbewusst zu entscheiden und sich dann auch an diese Entscheidung zu halten. Wo sie das nicht können oder nicht wollen, tritt die Verantwortung der für sie zuständigen Erwachsenen ein und sind die nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, ihnen Aufgaben zu stellen und Grenzen zu setzen. So einfach ist das!
Dass diese Selbstverständlichkeit im Verhältnis der Generationen von manchen Verfechtern des Offenen Unterrichts in Frage gestellt oder gar entschieden verneint wird, ist unentschuldbar. Als LehrerIn nicht dafür zu sorgen, dass alle Kinder in ausreichendem Maße, d.h. frühzeitig bis zur Geläufigkeit, in der Schule und an von ihr gestellten Aufgaben lesen üben, ist ein Frevel an den Kindern. Sich als LehrerIn die Mühe zu sparen, Kindern unbequem zu sein, die nicht genügend, d.h. gründlich lesen üben oder sich anderen grundlegenden Notwendigkeiten des Lernens in der Schule nicht stellen mögen oder können, ist schlicht Berufsschwänzerei. Wer seine Schulkinder nicht herausfordert, wenn sie sich nichts zutrauen, ihren Ärger nicht ertragen mag, wenn sie maulen, es nicht stärkend bei ihnen aushält, wenn sie verzagen wollen, sie nicht ermutigt, wenn ihnen ihre Unbeholfenheit peinlich ist, tut nicht, was die besondere Menschenpflicht und die Ehre von LehrerInnen verlangt. Wenn die Eltern unserer Schulkinder, das nicht für sie leisten, muss die Schule ihnen die Erfüllung ihrer Übungspflichten zur lieben Gewohnheit werden lassen. Zunächst aber muss man sich endlich wieder einig werden: Lesen muss wie Geigenspiel und Toreschießen, Breakdance und Aquarellmalen über eine lange Zeit schlicht und stetig geübt werden, sonst wird nichts draus!
Kindern unter dem Banner des Offenen Unterrichts eine so lange Leine zu lassen, dass sie sich darin verheddern, problemscheu werden und am Ende die rechte Zeit für bescheidenes und beständiges Üben versäumt haben, ist nicht vernünftiger und nicht edler, als sie beim "Fehlerlesen" zum lauten Vorlesen zu zwingen und die übrigen Kinder der Klasse als Wächter auf sie zu hetzen, dass ihnen der Atem stockt und die Zunge schwillt. Dies beklemmende Prüfungslesen hat das Vorlesenlassen so in Verruf gebracht, dass manche DidaktikerInnen es ganz aus der Schule verbannen wollen und manche LehrerInnen es sich daraufhin guten Gewissens einfach ersparen.
Lies mir, lies uns doch vor! Uns werden bald im Gefolge des PISA-Schocks vielfältige, teure Produkte der Lehrmittelverlage überschwemmen, mit denen Kinder Lesen üben sollen, ohne ihre Stimme zu benutzen und ohne dass ihnen jemand zuhören muss: Kopiervorlagen, Karteien, Übungshefte, CD-Roms zum Ankreuzen, Einfüllen, Wegklicken, vielleicht sogar extra Videofilme mit Untertiteln. Werbeslogan: Trainiere wie die Finnen! Dabei bleibt das Vorlesen in der Klasse – für die Ohren aller, einer Gruppe, eines anderen Kindes oder der Lehrerin – immer noch die vernünftigste, stets verfügbare Übungsaufgabe. Literatur und pragmatische Texte im Überfluss liegen dafür bereit, vielfältig, interessant und so gut wie kostenlos für alle, die den Gang in Bibliotheken oder die Bücherkammer der Schule nicht scheuen. Lesen im Reichtum könnte morgen überall beginnen, wenn man nur dem Vorlesen die Hetze und Häme nimmt, die Angst und die Demütigung, die mit dem "Fehlerlesen" und verwandten Gemeinheiten verbunden und in viel zu vielen Klassen Alltag sind! Dazu kommt: Wer lernt, einem anderen Menschen beim noch unbeholfenen Vorlesen interessiert, geduldig und ermutigend zuzuhören, übt sich in Güte. Soziale Erziehung im Nebenbei für Klein und Groß! Kinder brauchen in ALLEN Schuljahren LehrerInnen, die damit rechnen, dass noch nicht jedes Kind so gut lesen kann, wie es der Lehrplan und die Schulbücher möchten, und sich um dreierlei bemühen:
- sich zu vergewissern, welche Lesefähigkeiten sie voraussetzen können
- die Leseanforderungen den Fähigkeiten der Kinder anzupassen
- sich nicht abzufinden mit Rückständen, sondern für die Entwicklung der Lesefähigkeiten zu sorgen.
Und das alles, ohne sich selbst zu überfordern oder die lernende Gemeinschaft Klasse zu gefährden. Das Folgende soll nur einige Hinweise geben und vielleicht Ideen anregen, wie das zu bewerkstelligen ist.
Wie also kann man sich in einer Klasse, die man noch nicht kennt, ein Bild von der Lesefähigkeit der Kinder machen? Gibt es da Tests, die man ihnen vorlegen kann, um sie anschließend einzustufen? - Vielleicht gibt es sie. Ich kenne sie nicht. Es ist wohl auch nicht sinnvoll, sie als LehrerIn zu benützen. Was wir als PädagogInnen brauchen, sind von allen einzelnen Kindern Bilder ihres Könnens mit seinen Besonderheiten und Grenzen. Bilder, mit denen die Kinder selbst einverstanden sind, in denen sie sich wiedererkennen, die sie selbst gelten lassen (eine Wendung mit schönem Doppelsinn). In solchen Bildern steckt für sie ein direkter Impuls, ihr Können zu erweitern, zu vertiefen, zu festigen, um nach einiger Zeit ein schöneres, ein befriedigenderes Bild ihres Könnens abzugeben.
Wenn wir die Kinder selbst uns zeigen lassen, was sie lesen können, wie sie es lesen und wo sie Schwierigkeiten haben, dann sollte das eine Aufforderung zur Zusammenarbeit sein, die etwa so in Worte zu fassen wäre: "Ich frage dich, was du kannst und wo du Schwierigkeiten hast, weil ich mich mit dir an deinen Stärken freuen und dir beim Anerkennen und bei der Überwindung deiner Schwächen beistehen will." In diesem Sinne sollten die "Tests" ausgeschrieben und die Ergebnisse festgehalten werden. Tests, bei denen wir die Kinder kennen lernen und jedes einzelne Kind wahrnehmen können. Die Kinder sollten es in der Hand nehmen können, uns zu zeigen, wie sie wahrgenommen werden möchten. Damit kann eine vertrauensvolle dialogische Beziehung zwischen Lehrerin und Kindern begründet werden.
Es könnte ganz einfach sein: Jedes Kind sucht sich einen Text, den es vorlesen, wenn nötig auch dafür üben mag, und liest daraus fünf Minuten lang vor, während die andern ihm achtsam und zuversichtlich, nicht aber lauernd zuhören. Für besonders Interessierte könnte es den ganzen Text bereithalten. Mit seinem Text kann es den anderen Kindern und seiner Lehrerin zeigen, wofür es sich interessiert und dieses sein Interesse mit ihnen teilen. Es müsste nicht einmal ein zusammenhängender Text, es könnte auch eine Sammlung ausgesuchter Wörter sein: bedeutungsvoll oder witzig, besonders lang oder kurz, alltäglich oder fremd, einfach oder schwierig, voller Klang oder Geheimnis. Auch eine Sammlung ausgesuchter Sätze ließe sich vorlesen. Und natürlich wären Gedichte geeignet, mit ihnen hörbar zu werden.
Entscheidend ist: Das Kind kann mit dem Vorgelesenen sich selbst zeigen. Genau das ist seine Aufgabe. Die Lehrerin hilft ihm im Vorlauf, diese Aufgabe zur eigenen Zufriedenheit zu bewältigen. Am Ende weiß sie mehr von den Interessen des Kindes und von seiner Lesefähigkeit und hat mit ihm eine Arbeitsbeziehung begründet. Die Leistung mag am Ende auch bewertet werden, wenn auch nicht schnöde mit einer Note, sondern mit einer Benennung und Beschreibung der Stärken und der Schwächen und der vorausgegangenen Entwicklung, wenn die erkennbar ist. Das Ziel: ein Einverständnis über das Lesenkönnen zu erreichen, das künftig die Verständigung erleichtert und Mut zu weiterer Anstrengung stiftet. Anders gesagt: der Atem soll freier werden. Man kann nicht gut lesen, wenn Angst den Atem einklemmt.
Ein Kunststückchen muss die Lehrerin schaffen: ein Bild von der Lesefähigkeit der Kinder erlangen, ohne dass die sich geprüft fühlen. Wohl aber wissen, dass sie sich zeigen und beweisen dürfen. Kurz: dass es jetzt darauf ankommt, seine Sache gut zu machen. Dabei hilft die Gewissheit, dass man in seinen Schwächen nicht sitzengelassen wird, dass man Zeit, Unterstützung und neue Aufgaben und schließlich Gelegenheit bekommen wird, sich später einmal erneut zu beweisen, ein neues Bild des eigenen Könnens abzugeben.
- sich nicht abzufinden mit Rückständen, sondern für die Entwicklung der Lesefähigkeiten zu sorgen.
Und das alles, ohne sich selbst zu überfordern oder die lernende Gemeinschaft Klasse zu gefährden. Das Folgende soll nur einige Hinweise geben und vielleicht Ideen anregen, wie das zu bewerkstelligen ist.
Wie also kann man sich in einer Klasse, die man noch nicht kennt, ein Bild von der Lesefähigkeit der Kinder machen? Gibt es da Tests, die man ihnen vorlegen kann, um sie anschließend einzustufen? - Vielleicht gibt es sie. Ich kenne sie nicht. Es ist wohl auch nicht sinnvoll, sie als LehrerIn zu benützen. Was wir als PädagogInnen brauchen, sind von allen einzelnen Kindern Bilder ihres Könnens mit seinen Besonderheiten und Grenzen. Bilder, mit denen die Kinder selbst einverstanden sind, in denen sie sich wiedererkennen, die sie selbst gelten lassen (eine Wendung mit schönem Doppelsinn). In solchen Bildern steckt für sie ein direkter Impuls, ihr Können zu erweitern, zu vertiefen, zu festigen, um nach einiger Zeit ein schöneres, ein befriedigenderes Bild ihres Könnens abzugeben.
Wenn wir die Kinder selbst uns zeigen lassen, was sie lesen können, wie sie es lesen und wo sie Schwierigkeiten haben, dann sollte das eine Aufforderung zur Zusammenarbeit sein, die etwa so in Worte zu fassen wäre: "Ich frage dich, was du kannst und wo du Schwierigkeiten hast, weil ich mich mit dir an deinen Stärken freuen und dir beim Anerkennen und bei der Überwindung deiner Schwächen beistehen will." In diesem Sinne sollten die "Tests" ausgeschrieben und die Ergebnisse festgehalten werden. Tests, bei denen wir die Kinder kennen lernen und jedes einzelne Kind wahrnehmen können. Die Kinder sollten es in der Hand nehmen können, uns zu zeigen, wie sie wahrgenommen werden möchten. Damit kann eine vertrauensvolle dialogische Beziehung zwischen Lehrerin und Kindern begründet werden.
Es könnte ganz einfach sein: Jedes Kind sucht sich einen Text, den es vorlesen, wenn nötig auch dafür üben mag, und liest daraus fünf Minuten lang vor, während die andern ihm achtsam und zuversichtlich, nicht aber lauernd zuhören. Für besonders Interessierte könnte es den ganzen Text bereithalten. Mit seinem Text kann es den anderen Kindern und seiner Lehrerin zeigen, wofür es sich interessiert und dieses sein Interesse mit ihnen teilen. Es müsste nicht einmal ein zusammenhängender Text, es könnte auch eine Sammlung ausgesuchter Wörter sein: bedeutungsvoll oder witzig, besonders lang oder kurz, alltäglich oder fremd, einfach oder schwierig, voller Klang oder Geheimnis. Auch eine Sammlung ausgesuchter Sätze ließe sich vorlesen. Und natürlich wären Gedichte geeignet, mit ihnen hörbar zu werden.
Entscheidend ist: Das Kind kann mit dem Vorgelesenen sich selbst zeigen. Genau das ist seine Aufgabe. Die Lehrerin hilft ihm im Vorlauf, diese Aufgabe zur eigenen Zufriedenheit zu bewältigen. Am Ende weiß sie mehr von den Interessen des Kindes und von seiner Lesefähigkeit und hat mit ihm eine Arbeitsbeziehung begründet. Die Leistung mag am Ende auch bewertet werden, wenn auch nicht schnöde mit einer Note, sondern mit einer Benennung und Beschreibung der Stärken und der Schwächen und der vorausgegangenen Entwicklung, wenn die erkennbar ist. Das Ziel: ein Einverständnis über das Lesenkönnen zu erreichen, das künftig die Verständigung erleichtert und Mut zu weiterer Anstrengung stiftet. Anders gesagt: der Atem soll freier werden. Man kann nicht gut lesen, wenn Angst den Atem einklemmt.
Ein Kunststückchen muss die Lehrerin schaffen: ein Bild von der Lesefähigkeit der Kinder erlangen, ohne dass die sich geprüft fühlen. Wohl aber wissen, dass sie sich zeigen und beweisen dürfen. Kurz: dass es jetzt darauf ankommt, seine Sache gut zu machen. Dabei hilft die Gewissheit, dass man in seinen Schwächen nicht sitzengelassen wird, dass man Zeit, Unterstützung und neue Aufgaben und schließlich Gelegenheit bekommen wird, sich später einmal erneut zu beweisen, ein neues Bild des eigenen Könnens abzugeben.
- die Leseanforderungen den Fähigkeiten der Kinder anzupassen
Wirksam, weil regelmäßig und wahrgenommen
In meinen Klassen in allen Jahren der Grundschule gehörte an den vier Tagen der Woche, an denen es Hausaufgaben gab, immer eine Leseaufgabe dazu. In der Regel hatten alle Kinder den gleichen Text zu üben. Meistens mussten sie ihn daheim mindestens dreimal mit Stimme lesen, um ihn dann am nächsten Tag im Kreis oder in der kleinen Gruppe vorzulesen. Ziel war, zunächst einmal alle Wörter möglichst mühelos richtig abzulesen und sich selbst dabei auch zuzuhören: Verstehe ich, was ich lese? Ist es für mich sinnvoll? Wenn andere mir dann auch gerne zuhören, bin ich einen Schritt weiter. Wenn sie den von mir gelesenen Text genießen, bin ich am Ziel.
So etwa mag man sich die Übungsschritte denken. Nach jedem Vorlesen gab es einen Kommentar aus der Runde der ZuhörerInnen, möglichst anerkennend, auf jeden Fall mit Achtung und im Bemühen, dem Kind gerecht zu werden. Entwicklungen wurden beobachtet und gewürdigt, Versäumnisse heute waren morgen oder übermorgen schon nicht mehr erwähnenswert. Wenn ein Kind sich ungerecht beurteilt sah, durfte es widersprechen, seine Situation erklären. Vielleicht war die wichtigste Botschaft des ganzen Rituals: Was du tust, ob du übst, das ist es, was zählt! – Ist das altmodisch? Oder gar überholt?
Meine Aufgabe war vorher, für Texte zu sorgen, die das häufige Lesen auch aushielten und wert waren. Wenn sie mit unseren gemeinsamen Erfahrungen oder Fragen zu tun hatten, war das nicht schwer zu erreichen. Das wiederholte Lesen und Hören war dann Wiederbegegnung, sprachliche Fassung, Vertiefung. Vielleicht war es auch einmal langweilig oder brauchte man etwas Selbstbeherrschung, um zuzuhören, auch mitzulesen und wenigstens still zu sein. Ich meine, das Ganze war aber doch sinnvoll und den Kindern alles andere als eine beständige Qual, wie eine Lesedidaktik wohl urteilt, die das Lesenlernen in der Schule ganz am privaten, stillen Tun des geübten Lesers ausrichten möchte.
Die schönste Bestätigung für mich: Wenn ich ein neues Leseblatt in die Mitte des Kreises legte, griffen ausnahmslos alle Kinder rasch zu, neugierig, und lasen, ohne dass sie das sollten und bevor sie hören mochten, was mit dem Text zu tun sei. Der Übungspflicht war nicht auszuweichen, das wussten sie. Aber sie wussten auch, dass sie immer Texte zu üben bekamen, die ich speziell für sie und für den jeweiligen Moment ausgesucht oder geschrieben hatte. Jedes Leseblatt war auch ein Symbol der Zusammengehörigkeit und des Zusammenwirkens in der Klasse und der Kinder mit mir, der für sie verantwortlichen Erwachsenen. An solche Blättern übt man wohl lieber und leichter als an einem Text in einem Buch, das man täglich hin und her schleppt und längst kennt und dessen Inhalt und Form von fremden Menschen für eine anonyme Unterrichtssituation vorgesehen wurde.
Gesellige Übung
Das Lesebuch haben wir auch benutzt, am Ende des zweiten Schuljahres sogar rauschhaft. Es standen ja viele schöne Texte in diesem Buch, das für alle Kinder von der Schule bereitgestellt worden war. Sollten wir es ganz ungelesen lassen? – Ich hab den Kindern das Inhaltsverzeichnis kopiert und es mit einer Spalte für Noten versehen. Die Kinder würden bald die ersten Zeugnisnoten bekommen. Da tat es ihnen gut, selbst auch Urteile zu fällen. Jeden Tag lasen sie nun irgendein Stück aus dem Buch nach eigener Wahl und gaben ihm eine Note. Manchmal fragte ich ringsum: Was hast du gestern gelesen? Das Pflichtbewusstsein sollte nicht durch mein Desinteresse bröselig werden. Gelegentlich meldete sich ein Kind mit dem Wunsch, einen besonders geschätzten Fund auch im Kreis vorzulesen. Aber meist verständigten sie sich informell über ihre Entdeckungen und verglichen die Noten, die sie ausgeteilt hatten. Da gab es dann manche Fachsimpelei unter LeserInnen. Das viele pflichtgemäße Üben hatte das individuelle Lesen aus eigenem Interesse nicht etwa erstickt, sondern stark werden lassen.
Aber natürlich war die "tägliche Übung daheim" nur ein Teil unseres Programms. Wir hatten eine reichhaltig ausgestattete Leseecke im Klassenzimmer, hatten Kinderzeitschriften abonniert und es gab häufig "Stilles Lesen" und zeitweilig geliebte Ranzenbücher.
Die vielfältige Leselandschaft stand allen Kindern so selbstverständlich zur Verfügung, wie ihnen allen die tägliche Übung Pflicht war, auch wenn sie sie eigentlich nicht mehr nötig hatten. Es ist eine geringe Mühe für die starken LeserInnen, die noch schwachen LeserInnen in der lernenden Gemeinschaft der Klasse dadurch zu ermutigen und zu stärken, dass sie dieselben Übungspflichten annehmen, wie alle andern auch. An der Stelle des förderpädagogisch begründeten "Du bekommst diese Übung, weil du sie in Deiner Schwäche brauchst." steht dann das ausgleichende, verbindende Prinzip: "Wir alle machen diese Übung , weil sie uns allen gut tut. Wir sind jeder bei sich und durch die gemeinsame Übung doch verbunden."
Es ist an der Zeit, dass wir den ehrwürdigen Begriff von >Übung< wieder neu entdecken, der nicht nur eine Maßnahme zur individuellen Leistungsoptimierung meint, sondern Menschwerdung in gemeinschaftlicher Achtsamkeit.
"Schatzkiste Sprache"
ist ein Gemeinschaftsprojekt des Grundschulverbandes und der DGLS.
Rechts ist der - noch erhältliche und nach wie vor empfehlenswerte 1. Band abgebildet.
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Christoph Jantzen
Gibt es eigentlich Mitgliederinnen? Geschlechtersensitive Sprache
Hanna Sauerborn
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
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