Förderung von Kindern mit Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb (LRS)
Kritische Bemerkungen zur hessischen Verordnung vom 18.5.20061
Die
deutsche Schule tut sich schwer mit der Förderung aller Kinder. Das
belegen auch die internationalen Schulleistungsstudien in
eindrucksvoller, d.h. schonungsloser Weise:
1.Auf Leistungsversagen
der Schülerinnen und Schüler reagiert die Schule nicht mit verstärkten
Förderbemühungen, sondern mit Auslesemechanismen. Anstelle der Förderung
nimmt die Auslese einen hohen Stellenwert ein. Es besteht eine starke
interne Auslese (Zurückstellung vom Schulbesuch, Sitzen bleiben,
Abstufung und Überweisung an eine untere Schulform). Wie PISA gezeigt
hat, sind 40 Prozent der Jugendlichen in Deutschland von solchen
Selektionsmaßnahmen betroffen.
2.Ferner gibt es eine externe Auslese
(in ein viergliedriges Schulsystem, da die Sonderschulen mitzuzählen
sind) mit einer – im internationalen Vergleich – sehr frühen Aufteilung
der Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche Schulformen der
Sekundarstufe, bei gleichzeitig geringer Durchlässigkeit (für
Aufsteiger, nicht für Absteiger). Vor vielen Jahren schon hat Hartmut v.
Hentig das dreigliedrige Schulsystem als die heilige Kuh der deutschen
Bildungspolitik bezeichnet – und dort steht sie weltweit fast
einzigartig herum.
3.Während die meisten Länder – zumindest in der
Grundschule – ohne Noten auskommen, spielt die Zensurengebung in
Deutschland eine große Rolle. Zensuren sind deshalb in unserem
Schulsystem unverzichtbar, weil sie die Ausleseentscheidungen
legitimieren müssen (gegenüber den betroffenen Eltern und ihren
Kindern). In vielen Studien ist indessen belegt, dass Noten nicht
vergleichbar sind, weil sie sich am klasseninternen Bezugsmaßstab
orientieren. „Eine Zwei ist eine Drei ist eine Vier“, so lautete das
Ergebnis meiner Studien zur Leistungsbeurteilung (Thiel/Valtin 2002).
Auch IGLU belegt, dass der Zusammenhang zwischen
Note/Grundschulempfehlung und Leistung in den IGLU-Tests nicht sehr
überzeugend ist (Bos u.a. 2003, 2004). Noten können schon deshalb nicht
ihrem gesellschaftlichen Anspruch der Legitimation von
Ausleseentscheidungen gerecht werden (und werden auch ihrem
pädagogischen Anspruch der differenzierten Rückmeldung über den
Leistungsstand nicht gerecht).
4.IGLU befragte die Schulleiter nach
der Zuständigkeit der Lehrpersonen für den Lernerfolg der Schülerinnen
und Schüler. Dass Misserfolge an ihrer Schule den Lehrkräften angelastet
werden, bejahen nur 3 Prozent der Befragten, die übrigen lehnen dies
eher oder vollständig ab. Nur 12,3 Prozent der Schulleitungen stimmten
der Aussage zu: „Schulversagen wird bei uns als Problem der Schule und
weniger des Schülers bzw. der Schülerin gesehen“ (Valtin 2004). Die
Ergebnisse verweisen auf ein geringes Verantwortungsbewusstsein. Dem
entspricht der Befund aus PISA:
5.PISA fragte die Jugendlichen, ob
sie sich von den Lehrkräften unterstützt fühlen. Der Wert für die
wahrgenommene Lehrerunterstützung lag für Deutschland im Minusbereich
(In der Grundschule sind die Zahlen allerdings sehr viel günstiger, s.
Valtin/Wagner/Schwippert 2005).
Dass viele Lehrkräfte sich nicht
zuständig fühlen für das Lernversagen der SchülerInnen, kann auf
Begabungsmythen und subjektive Theorien vom Lernen zurückgeführt werden,
die auch von vielen Bildungspolitikern geteilt werden. Viele Verfechter
des dreigliedrigen Schulsystems scheinen nach wie vor von den
theoretischen, besser ideologischen Grundlagen dieses Systems überzeugt
zu sein, nämlich von dem Gedanken der Dreifaltigkeit der Begabung (der
praktischen, der technischen und der abstrakten), wobei erschwerend
hinzukommt, dass diese Begabungen als bildungsresistent angesehen
werden, vor allem die praktischen Begabungen. Diese Auffassung und diese
Schulstruktur waren funktional im 19. Jahrhundert für die Reproduktion
des Ständestaates, sind aber ungeeignet für eine demokratische
Wissensgesellschaft.
Lernen - das wissen wir heute – ist ein
konstruktiver Prozess und ein Produkt der Eigentätigkeit des Lernenden,
der sich aktiv mit dem Lerngegenstand auseinandersetzt und ihn
„konstruieren“ muss. In Deutschland wird Lernen jedoch vorwiegend als
Funktion von Anlage oder Begabung angesehen, die „entfaltet“ werden
muss. Lernmisserfolge sind dann Ausdruck mangelnder Begabung oder
Ausdruck von Teilleistungsstörungen. Und das deutsche Kind – so erfährt
die Öffentlichkeit immer wieder – ist in höchstem Grade gefährdet. 5 bis
25 Prozent leiden an schwerer oder leichter Legasthenie, ebenso viele
an Dyskalkulie, hinzu kommen alle Fälle von ADS, AHD, Hyperaktivität,
MCD (nein, das ist wieder out) oder wie die modischen Etiketten der
Pathologisierung von Kindern gerade heißen. Nicht zu vergessen die
Sprachstörungen und die Defizite in der Fein- und Grobmotorik. Die
Pathologisierung der Kinder ist für mich die Kehrseite der schulischen
Auslesebestrebungen. Die gegenwärtig so populären Erklärungsmuster mit
den fragwürdigen Teilleistungsstörungen (das Geschäft mit der
Legasthenie) liefern Eltern und Lehrerinnen ein Alibi, um sich aus der
Verantwortung für die Lernprozesse der Kinder zu stehlen.
Dass
Förderung nicht als genuine Aufgabe des gesamten Schulsystems gesehen
wird, lässt sich daran ablesen, dass der Ausdruck „Förderschule“ (in
meinen Augen ein Pleonasmus) für Schulen reserviert ist, die Kinder „mit
sonderpädagogischem“ Förderbedarf besuchen, wie es heute politisch
korrekt heißt. Das rückt den Ausdruck „fördern“ schon semantisch in die
Ecke von etwas nicht Normalem oder gar Abartigem. Dass in der
öffentlichen Diskussion der Gedanke der Auslese vor der Förderung
rangiert, lässt sich auch in den Internet-Suchmaschinen ablesen. Google
verzeichnet (am 23.5.2006) 73.500 Eintragungen für „Leistungsförderung“,
aber über 680.000 für „Leistungsbeurteilung“. Unter „fördern“ findet
man an zweiter Stelle „Begabung fördern“. Zudem finden sich hier viele
Hinweise auf Elterninitiativen, die ihr Kind fördern wollen, da die
Schule offenbar dieser Aufgabe nicht gewachsen ist, und auf
außerschulische Institutionen, die an der Förderung von Kindern
verdienen.
Internet-Suchmaschinen halte ich für sehr geeignet, um
den „Zeitgeist“ zu erschließen. Gibt man bei Google „Funktionen von
Schule“ ein, so findet man bei den ersten Treffern nach wie vor die drei
klassischen, von Fend in den 70er Jahren herausgestellten Bereiche:
Qualifikation, Selektion (Berechtigung), Integration. Diese Aufgaben
sind funktional für das mehrgliedrige Schulsystem, nicht für eine Schule
ohne Aussonderung, in der alle Kinder gefördert werden und nicht erst
einen Förderanspruch bescheinigt bekommen müssen.
Was sagt uns das?
Förderanspruch haben nicht alle Kinder, sondern nur solche, die
irgendwie „anders“ sind (Der Legasthenie-Verband hat dies erkannt und
wird nicht müde - auch wider alle empirischen Belege - auf „genetische“
Defekte oder Teilleistungsstörungen des Kindes zu verweisen, um
Förderprivilegien für Legastheniker zu erkämpfen. Nur diese –
intelligenten – Kinder sollen besondere Privilegien bei der
Leistungsbeurteilung erhalten, wie „Notenschutz“ oder günstige
Bedingungen bei Prüfungen). In deutschen Kultusministerien wird ein
zeitraubender und mühsamer bürokratischer Aufwand getrieben, um solche
Regelungen zu fassen und zu verordnen. So erhalten in Bayern Kinder mit
Legasthenie besondere Förderprivilegien, allerdings müssen sie erst von
einem Kinderarzt als „Legastheniker“ diagnostiziert werden.
Ein
Verständnis von Schule, wie es zum Beispiel den skandinavischen Ländern
zugrunde liegt, kann auf derartige Regelungen verzichten: Alle Kinder
haben einen Anspruch auf Förderung und erhalten diese auch, zum Beispiel
durch Heranziehen von Experten (BeratungslehrerInnen,
LesespezialistInnen oder Fachleute aus Sozialpädagogik und
Schulpsychologie). Da es keine Selektion gibt, braucht man keine
aufwändigen Maßnahmen zur Legitimierung derartiger
Ausleseentscheidungen. Man kann auf Zensuren verzichten und auch auf
Regelungen, welchen Kindern wann welche besonderen Maßnahmen als
Nachteilsausgleich in Prüfungssituationen zu gewähren sind. (Mir lag
auch die hessische Verordnung vor: „Nachteilsausgleich für Schülerinnen
und Schüler mit Funktionsbeeinträchtigungen, Behinderungen oder für
Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen,
Rechtschreiben oder Rechnen“, Erlass vom 18. Mai 2006). Die etwas
unbeholfene syntaktische Fassung dieses Titels verweist auf die
Notwendigkeit, auch Schwierigkeiten beim Schreiben in die Verordnung
aufzunehmen. Zu erfahren ist dort, dass der Geltungsbereich sich auch
erstreckt auf „vorübergehende Funktionsbeeinträchtigungen (z. B.
Armbruch)“. Hier fehlt der entscheidende Hinweis, dass dies nur gilt für
einen rechtsseitigen Armbruch bei Rechtshändern, einen linksseitigen
Armbruch bei Linkshändern und einen beidseitigen Armbruch bei
Beidhändern. Ironie beiseite: Dass es Personen in unserer Bürokratie
gibt, die ernsthaft meinen, Verordnungen erlassen zu müssen, damit
Kinder bei einem Armbruch Rücksichtnahmen erfahren, die nicht nur für
Pädagogen, sondern schon den schlichten gesunden Menschenverstand
selbstverständlich sind, - dieser Gedanke ärgert mich als Steuerzahlerin
maßlos. Auch dass sich 16 Bundesländer aufmachen, an regionalen
Erlassen für Kinder mit LRS oder Rechenschwierigkeiten zu arbeiten
(genauer: 15, denn die Bayern haben ihren umstrittenen
LRS/Legasthenie-Erlass ja schon verabschiedet), finde ich unerträglich.
Statt neue Erlasse zu erarbeiten, wäre es sinnvoller, günstige
Rahmenbedingungen für die Realisierung der KMK-Grundsätze von 1978 und
2003 zu schaffen. Ich zitiere Ingrid Naegele: Die Grundsätze der KMK
sind auch „nach fast einem Vierteljahrhundert noch brandaktuell. Was
dringend notwendig ist, sind veränderte Rahmenbedingungen, die eine
Durchsetzung dieser Grundsätze sicherstellen“ (Naegele 2003, S. 30).
Wenn sich die Länder an die Herstellung günstiger Rahmenbedingungen und
die Realisierung dieser Grundsätze machten, wären weitere regionale
Regelungen überflüssig.
Dies alles sollte man im Hinterkopf
haben, wenn man sich an die Lektüre der hessischen Verordnung macht. Da
mir verschiedene Entwürfe vorliegen, beziehe ich mich auf die Fassung,
die mir vom Hessischen Kultusministerium für die heutige Veranstaltung
zur Verfügung gestellt wurde. Sie lautet:
Verordnung über die
Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten
beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen (VOLRR) und stammt vom
18.5.2006.
Schon vom Aufbau her zeigt sich, dass der Auslesegedanke
im Vordergrund steht und den Schwerpunkt bildet. Mit Selektionsmaßnahmen
(Leistungsfeststellung, -bewertung, Vergünstigungen bei der
Leistungsfeststellung, Zeugnis und Abschlüssen) befassen sich vier
Paragraphen (§ 6 bis 9). Mit Förderung befassen sich vier Paragraphen,
(§ 2 bis 5), wobei zu bemerken ist, dass in Paragraph 2, Absatz 2, sechs
„Fördermaßnahmen“ genannt werden, von denen nur zwei etwas mit
Förderung zu tun haben: Unterricht in besonderen Lerngruppen (auch dies
wieder ein Auslesegesichtspunkt) sowie Binnendifferierung. Die übrigen
vier in diesem Absatz genannten Maßnahmen haben mit Förderung nichts zu
tun: Es handelt sich um Nachteilsausgleich und um besondere Regelungen
für Leistungsfeststellung und –bewertung, für die Zeugniserstellung und
für die Erteilung von Abschlüssen, d.h. um Abmilderung von
Selektionsmaßnahmen. Würde es sich um einen Schüleraufsatz handeln, wäre
die Bemerkung: „Thema verfehlt“ sicherlich angebracht.
Es
kommt aber noch schlimmer. Paragraph1, Absatz 1 („Grundsätze“)
definiert, für welche Kinder diese Verordnung gedacht ist: „Schüler und
Schülerinnen sind diejenigen, die trotz Förderung andauernde
Schwierigkeiten beim Erlernen und beim Gebrauch der Schriftsprache und
im Bereich des Rechnens haben“. Mit dieser Definition kann man sich
zumindest teilweise anfreunden, da hier Schriftsprache genannt wird, die
erheblich umfassender ist als Lesen und Rechtschreiben, die beiden in
der Verordnung genannten Bereiche, während das Schreiben im Sinne von
Texte verfassen nicht genannt wird. Erklärungsbedürftig ist allerdings,
was hier unter „Förderung“ zu verstehen ist: der normale schulische
Unterricht oder spezifische Fördermaßnahmen im Sinne der Verordnung?
Völlig unverständlich ist jedoch §1, Absatz 2: „Ausgenommen sind
hierbei Schülerinnen und Schüler, bei denen eine umfassende
Lernbehinderung oder eine geistige Beeinträchtigung vorliegt, deren
besondere Sinnes-, Sprach- oder Körperbehinderung einen hinreichenden
Schriftspracherwerb erschwert.“
Was heißt „hierbei“? Bei den
Grundsätzen, d.h. der Definition? Oder gar bei der Förderung?
Tatsächlich heißt es in Absatz 4: „Schülerinnen und Schüler mit
besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben und Rechnen haben
in allen Schulformen Anspruch auf individuelle Förderung“. Sollen also
alle anderen, insbesondere Kinder mit “einer umfassenden Lernbehinderung
oder einer geistigen Beeinträchtigung“ keinen Anspruch auf Förderung
haben; oder sollen sie keinen Anspruch auf „individuelle“, aber
vielleicht auf allgemeine Förderung haben? Hier ist dringend Klarheit zu
schaffen. Weiter stellen sich die Fragen: Wer soll hier die
Differentialdiagnosen vornehmen? Was ist die Legitimation dieser
Differenzierung? Bisherige Erfahrungen zeigen, dass auch Kinder mit
niedrigem IQ, und auch solche mit Down Syndrom, lesen und schreiben
lernen können. Mein Vorschlag: ersatzlose Streichung dieses skandalösen
Absatzes.
Im §2 über Förderdiagnostik heißt es: „Voraussetzung
für das Erkennen dieser Lernschwierigkeiten ist die Erhebung der
Lernausgangslage, insbesondere in der Jahrgangsstufe 1. Dieses geschieht
unter anderem durch die Beobachtung des sprachlichen, kognitiven,
emotional-sozialen und motorischen Entwicklungsstandes und der
Lernmotivation. Auch die Fähigkeiten der optischen und akustischen
Wahrnehmung und Differenzierung, das Symbolverständnis und die
feinmotorischen Fertigkeiten sowie das individuelle Lernverhalten und
–tempo werden bei der Einschätzung der Lernausgangslage berücksichtigt.“
Angeführt werden ferner die Sprach- und Sprechfähigkeiten.
Gegen diesen Passus habe ich zwei Einwände:
1.Selbst versierte KinderpsychologInnen würden Wochen brauchen, um eine
derartig umfassende Diagnose zu erstellen, zumal wenn man sich dabei
auch auf Beobachtungen beziehen soll (Wie lässt sich Lernmotivation
beobachten? Höchstens erschließen). Lehrkräfte sind hier heillos
überfordert. Sie sind schon überfordert, wenn sie – wie in § 1, Absatz 3
vorgesehen – prüfen sollen, ob bei Schülerinnen und Schülern mit
nichtdeutscher Erstsprache und Schülerinnen und Schüler, deren
Sprachentwicklung nicht altersgemäß ist, die „Schwierigkeiten beim
Erwerb der Schriftsprache aus zu geringer Kenntnis der deutschen Sprache
herrühren“. Wie sollte man das feststellen? Derartige
differentialdiagnostische Kompetenzen gehören nicht zum professionellen
Wissen von Lehrkräften. Außerdem ließe sich eine solche Frage nur
mithilfe eines Experiments beantworten.
2.Warum soll man überhaupt
diesen ganzen Aufwand der Feststellung der Lernausgangslage betreiben?
Nur wenn man der Auffassung ist, dass die Lernausgangslage die
Lernergebnisse determiniert (dass Lehren also pädagogisch wenig
wirkungsvoll ist), wäre solch eine Vorgehensweise sinnvoll. Dieser
Auffassung liegt das veraltete Funktionsmodell vom Lesen- und
Schreibenlernen zugrunde, dass nämlich der Lernprozess dann ungestört
verläuft, wenn Kinder in kognitiven Funktionen wie visueller
Wahrnehmung, auditiver Wahrnehmung, Gedächtnis und Symbolverständnis
keine „Funktions- oder Teilleistungsstörungen“ aufweisen. Das
Funktionsmodell wird seit Jahrzehnten kritisiert, weil es die Spezifität
der visuellen und auditiven Leistungen nicht berücksichtigt. Beim
Schriftspracherwerb geht es nicht um den Ausbau von Funktionen wie
visueller und auditiver Wahrnehmung, sondern um den Erwerb von
Einsichten in Funktion und Aufbau des Lerngegenstands Schriftsprache.
Sinnvoll ist es dann, den Lernstand des Kindes zu erheben: Was weiß es
schon von Schriftsprache? Über welche Kenntnisse in Bezug auf
Buchstaben, Buchstaben-Lautbezug und andere sprachliche Einheiten (Was
ist ein Wort? Was ist ein Satz?) verfügt es? Welche Strategien verfolgt
es, wenn es mit unbekannten Wörtern konfrontiert wird? Derartige
Kenntnisse lassen sich relativ leicht erfragen bzw. beim Lesen
beobachten und durch freie Schreibungen von Kindern feststellen.
Kurzum: Voraussetzung für das Erkennen der Lernschwierigkeiten ist die
Feststellung des Lernstands, nicht die Feststellung fragwürdiger
Lernvoraussetzungen.
Würde die Lehrkraft ernsthaft alle die in der
Verordnung angesprochenen Aufgaben erledigen, wäre sie fast
ununterbrochen beschäftigt mit der Beobachtung der Kinder zwecks
Feststellung der Lernvoraussetzungen in den 13 genannten Dimensionen,
der Prüfung ihrer Sprachfähigkeiten und des Einflusses der Sprache auf
den Schriftspracherwerb, der Information von Eltern, dem Besuch von
Klassenkonferenzen, die laut §4, Absatz 2, für die Feststellung
besonderer Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens, Rechtschreibens und
Rechnens zuständig ist (warum eigentlich?), der Erörterung des
individuellen Förderplans in der Klassenkonferenz sowie der
Dokumentation des Lernfortschritts. Ich frage mich: Wann kommt die
Lehrerin eigentlich dazu, Unterricht im Lesen, Schreiben und
Rechtschreiben durchzuführen?
Abschließend lautet meine Stellungnahme zur hessischen Verordnung:
Erstens: Die neue Verordnung ist schädlich. Sie zeugt von einem
veralteten Verständnis von Schule, das das selektive Schulsystem
legitimiert, in dem eine vermeintlich gerechte Leistungsbewertung eine
größere Rolle spielt als Leistungsförderung, wie es die Karikatur von
Traxler (2004) zeigt: „Zum Ziele einer gerechten Auslese lautet die
Prüfungsaufgabe für alle gleich: Klettern Sie auf den Baum!“ Die
hessische Verordnung ringt noch mit der Bestimmung der Teilgruppen,
welche Anspruch auf individuelle Förderung haben.
(Abbildung kann aus dem Internet heruntergeladen werden).
Zweitens: Der Erlass ist ein Rückschritt gegenüber den KMK-Grundsätzen
zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit LRS. Ursprünglich 1978
verabschiedet, wurden sie 2003 in einer modifizierten Fassung
herausgegeben. Sie enthalten drei Vorzüge gegenüber der neuen hessischen
Verordnung:
Alle Kinder werden gefördert, nicht nur eine besondere Teilgruppe.
Verwiesen wird auf die Bedeutsamkeit eines guten Erstunterrichts im Lesen und Schreiben, sozusagen als vorbeugende Maßnahme.
In den KMK-Grundsätzen von 1978 hieß es: „Ein sorgfältig durchgeführter
Erstlese- und Schreibunterricht, in dem die einzelnen Stufen und Phasen
des Lese- und Schreiblehrgangs gründlich abgesichert sind, ist die
entscheidende Grundlage, ein Versagen im Lesen und Schreiben zu
verhindern“ (in Naegele/Valtin 2003, S. 16).
2003 heißt es: „Ein
Lese- und Schreibunterricht, der am jeweiligen Lernentwicklungsstand des
Kindes ansetzt, ausreichend Lernzeit gibt und die Ergebnisse gründlich
absichert, ist die entscheidende Grundlage für den Erwerb der Fähigkeit
zum Lesen und Rechtschreiben“.
Die KMK-Grundsätze verweisen darauf,
dass Lehrkräfte erst die förderdiagnostische Kompetenz erwerben müssen,
bevor besondere Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb erkannt und
Förderpläne erstellt werden können. „Besonderes Gewicht legen die
Kultusminister auf die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte. Dazu gehören
die Ausbildung in der Didaktik und Methodik des Erstlese- und
Erstschreibunterrichts, die Diagnosefähigkeit, die Ableitung von
Förderschwerpunkten und die Erarbeitung von Förderplänen.“ (KMK 2003).
Auch in den KMK-Grundsätzen, das sei nicht verschwiegen, überwiegen die
Ausführungen zu Leistungsbewertung und Zeugnissen diejenigen zu den
Fördermaßnahmen. Zumindest wird jedoch auf Rahmenbedingungen der
Förderung verwiesen: den guten Anfangsunterricht und die Ausbildung der
Lehrkräfte. In der hessischen Verordnung gerät nur das Kind als
„Verursacher“ der Lernschwierigkeiten in den Blick.
Drittens:
Der neue hessische Erlass ist völlig überflüssig. Es existiert nämlich
in Hessen seit dem 1. August 2005 die Verordnung zur Ausgestaltung der
Bildungsgänge und Schulformen der Grundstufe (Primarstufe) und der
Mittelstufe (Sekundarstufe I) und der Abschlussprüfungen in der
Mittelstufe (VOBGM)2. In Absatz 1 von § 2, Fördermaßnahmen und
Lernförderung, ist alles gesagt, was zu diesem Thema relevant ist
„(1) Die Förderung der einzelnen Schülerin und des einzelnen Schülers
ist Prinzip des gesamten Unterrichts und Aufgabe der gesamten
schulischen Arbeit. Jedes Kind soll mit anderen Kindern zusammen und
auch durch sie gefördert werden. Die individuelle Förderung ist in den
Gesamtzusammenhang schulischer Lernförderung zu stellen. Im Fall
drohenden Leistungsversagens ist als Maßnahme nach § 3 Abs. 6 Satz 2 des
Hessischen Schulgesetzes ein individueller Förderplan zu erstellen“.
Im Folgenden werde ich mich mit Fördermaßnahmen befassen. Deshalb ist
es notwendig, zunächst einen theoretischen Rahmen aufzuzeigen, denn eine
Förderung kann nur angemessen und sinnvoll sein, wenn die Lehrenden die
Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb kennen und erkennen können.
Schlussbemerkungen
Die Frage der heutigen Fachtagung lautet: Fördern statt Auslesen – können Förderpläne das leisten?
Meine Antwort lautet:
Ja, sie können es leisten, allerdings sind zwei Voraussetzungen zu erfüllen:
Erstens: Wir brauchen einen Mentalitätswandel: weg von naiven,
nativistischen Begabungstheorien, die Kinder pathologisiert und
Lehrkräfte aus ihrer Verantwortung entlässt. Während in vielen Ländern
bildungspolitisch ein universaler Optimismus in Bezug auf die
Bildungsfähigkeit der heranwachsenden Generation besteht (Lenhardt 2002)
und beispielsweise im PISA-Siegerland Finnland die Lehrpersonen und
Eltern die Meinung vertreten, jedes Kind könne lesen, schreiben, rechnen
und eine dritte (!) Sprache erlernen, herrscht in Deutschland noch
vielfach die Meinung, die Begabung sei „bildungsresistent“ (Lenhardt
2002). Die Daten aus IGLU-E zeigen, dass zwar die schulischen Leistungen
mit dem kognitiven Fähigkeitsniveau korrelieren, jedoch in mäßiger Höhe
(r = -.42 mit der Note in Deutsch und -.38 mit der Note in der
Rechtschreibung), so dass noch viel Raum bleibt für pädagogischen
Optimismus. Wir brauchen „finnisches Denken“: mit den Grundsätzen: Kein
Kind beschämen, kein Kind zurücklassen (siehe die Initiative
„PISA-LUPE“).
Zweitens: Wir brauchen günstigere Rahmenbedingungen in der Schule und im Bildungssystem, beispielsweise
mehr Lehrerstunden, damit bei zeitweiliger Doppelbesetzung intensiver
auf die unterschiedlichen Förderbedürfnisse und Schwierigkeiten der
Kinder eingegangen werden kann
Heranziehen von Expert/inn/en mit
besonderen Förderkompetenzen, z. B. aus der Sprachheilpädagogik und der
Schulpsychologie sowie Ausbildung von Lehrkräften zu Beratungs- oder
Förderlehrer/inne/n bei schulischen Problemen
Verbesserung der Ausstattung der Schulen mit Bibliotheken und Computern.
Erweiterung der Unterrichtszeit, damit jedes Kind seinen Weg zur Schriftsprache finden kann
Und - last not least - eine verbesserte Lehreraus- und -fortbildung.
Literatur
Bos, W./Lankes, E.-M./Prenzel, M./Schwippert, K./Valtin, R. &
Walther, G.(Hrsg.) (2004): IGLU. Einige Länder der Bundesrepublik
Deutschland im nationalen und internationalen Vergleich. Münster/New
York/München/Berlin
Bos, W./Lankes, E.-M./Prenzel, M./Schwippert,
K./Walther, G. & Valtin, R. (Hrsg.) (2003): Erste Ergebnisse aus
IGLU. Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im
internationalen Vergleich. Münster/New York/München/Berlin
Lenhardt, G. (2002). Die verspätete Entwicklung der deutschen Schule. Unveröffentlichtes Manuskript
Naegele, I.M. (2003): Wie hilfreich sind die LRS-Erlasse und
Richtlinien der Bundesländer? In: Naegele, I.M./Valtin, R. (Hrsg.): LRS –
Legasthenie – in den Klassen 1-10. Handbuch der
Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Band 1. Weinheim: Beltz, S. 21-30
Naegele, I./Valtin, R. (Hrsg.) (2003): LRS – Legasthenie in den Klassen
1 – 10. Handbuch der Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Band 1:
Grundlagen und Grundsätze der Lese-Rechtschreib-Förderung. Weinheim:
Beltz. 6. Auflage
Thiel, O./Valtin, R. (2002): Eine Zwei ist eine
Drei ist eine Vier. In: Valtin, R. u.a.: Was ist ein gutes Zeugnis?
Noten- und Verbalbeurteilung auf dem Prüfstand. Weinheim/München:
Juventa, S. 67-76.
Valtin, R.(2004): IGLU gut – alles gut?
Anmerkungen zu wenig beachteten Problemzonen in Grundschule und
Bildungspolitik. In: Dräger, M./Gräser, H./Hecker, U./Sengelhoff, G.
(Hrsg.): Lesen ist Verstehen. Schriften auf Wegen zu Kindern. Deutsche
Gesellschaft für Lesen und Schreiben, Beiträge 1, S. 9-24
Valtin,
R./Wagner, C.& Schwippert, K. (2005): Schülerinnen und Schüler am
Ende der vierten Klasse – schulische Leistungen, lernbezogene
Einstellungen und außerschulische Lernbedingungen. In: Bos, W./Lankes,
E.-M./Prenzel, M./Schwippert, K./Valtin, R. & Walther, G. (Hrsg.):
IGLU.
Verordnung zur Ausgestaltung der Bildungsgänge und
Schulformen der Grundstufe (Primarstufe) und der Mittelstufe
(Sekundarstufe I) und der Abschlussprüfungen in der Mittelstufe (VOBGM)
v. 1.8.2005
Christoph Jantzen
Gibt es eigentlich Mitgliederinnen? Geschlechtersensitive Sprache
Hanna Sauerborn
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Erika Altenburg
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Sabine Birck
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Hans Brügelmann
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern