Stellungnahme zur Hessischen Verordnung – April

Stellungnahme der DGLS zu den Entwürfen des Hessischern Kultusministeriums vom 29.07.05 und 04.01.06:Verordnung über die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben und Rechnen

Sehr geehrte Frau Ministerin Wolff,

die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben e.V. hat seinerzeit die Erarbeitung neuer Grundsätze zur Förderung von Schülern mit LRS durch die Kultusministerkonferenz begrüßt,.

Diese waren von Ihrem Haus initiiert worden, nachdem einzelne Ländererlasse in ihren theoretischen Annahmen und praktischen Konsequenzen für betroffene Schüler die gemeinsame Basis verlassen hatten. Mit Zufriedenheit wurde von vielen Beteiligten das Verhandlungsergebnis der KMK (2003) aufgenommen, das auf den neueren wissenschaft-lichen Erkenntnissen über den Schriftspracherwerb fußt. Mitglieder der DGLS hatten diese Position in Gutachten vertreten. Mit Bedauern wurde dann zur Kenntnis genommen, dass sich die Kommission der KMK nicht auf Grundsätze zur Förderung von Kindern mit Rechenschwierigkeiten (RS) einigen konnte. Deshalb begrüßt die DGLS den Einbezug der Kinder mit RS in die vorliegenden hessischen Erlassentwürfe, wenngleich die Beschränkung auf die Grundschulzeit willkürlich und in vielen Fällen nicht ausreichend ist.
In den obigen hessischen Entwürfen vermissen wir wichtige Aspekte der KMK- Grundsätze sowie der bisherigen Hessische LRS- Richtlinie von 1995, die die Prävention von LRS, ihre Folgen, die allgemeinen Ziele und die Lehrerausbildung betreffen. Es ist bedauerlich, dass der Aspekt Schreiben aus der bislang gültigen hessischen Verordnung gestrichen wurde, da Lese-Rechtschreibschwierigkeiten auch häufig die inhaltliche Seite des Schreibens beeinträchtigen.
Erfreulicherweise taucht in den uns vorliegenden Entwürfen der Begriff Legasthenie nicht mehr auf, aber durch den Ausschluss von Schülerinnen und Schülern im 3. Entwurf unter §1 (2)-(4) und die Aufnahme von Wahrnehmungsstörungen in die Diagnose (§2) erscheint das der Verordnung zu Grunde liegende theoretische Konzept nicht dem aktuellen fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Forschungsstand (Valtin 2001) zu entsprechen. Die DGLS befürchtet, dass die unklare Begrifflichkeit als Rückgriff auf ein medizinisch orientiertes Teilleistungsstörungskonzept interpretiert werden kann.

Dies gilt auch für den Bereich Rechenschwierigkeiten, wo gleichermaßen keine Nachweise für die Wirksamkeit solcher Ansätze vorliegen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Einbezug des Nachteilsausgleichs (§6) aus dem Behindertengesetz. SchülerInnen mit Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwierigkeiten sind jedoch keine Behinderten, sondern Kinder mit zusätzlichem pädagogischen Förderbedarf. Die KMK-Grundsätze sprechen deshalb nur von „Hilfen im Sinne eines Nachteilsausgleich“, um Beispiele für Alternativen zur Freistellung von der Benotung zu geben.
In § 1 Grundsätze der 3.Fassung der VOLRR wird der Anteil der Schülerinnen und Schüler, für die die Verordnung gelten soll, gegenüber den KMK-Grundsätzen und der Hess. Fassung 2 vom Juli 2005 eingeschränkt. Danach werden ganze Schülergruppen ausgegrenzt und gleichzeitig wird die Zugehörigkeit von vorausgegangener Förderung abhängig gemacht. Wie kann aber eine Lehrerin, deren Förderung das Vermeiden oder Beheben andauernder Schwierigkeiten bisher nicht leisten konnte, jetzt weiterhin dafür verantwortlich sein? Sollen erst dann die Maßnahmen der Verordnung einsetzen, wenn die bisherige schulische Förderung gescheitert ist?
Die DGLS befürchtet, dass unklare Formulierungen und schwammige Abgrenzungen den Lehrerinnen unangemessen viel Spielraum für eigene Interpretationen lassen. Es besteht die Gefahr, dass „private“ Vorstellungen einzelner Lehrer förderbedürftige Kinder ausschließen (vgl. Falb 2004). Neuere Untersuchungen (Weber u.a. 2002) belegen, dass es keine prinzipiellen Unterschiede in den schriftsprachlichen Erwerbsprozessen zwischen Kindern unterschiedlicher Begabungen gibt. Zudem ist bekannt, dass es eine Reihe von Kindern gibt, die unabhängig vom IQ, familiärem Hintergrund und Sprachstand im Anfangsunterricht noch nicht über die für den Erwerb mathematischer und schriftsprachlicher Einsichten notwendigen Voraussetzungen verfügen und bei ausbleibender gezielter Förderung lang anhaltende LRS und RS entwickeln können. Nicht zuletzt auch für den Erwerb mathematischer Kompetenz spielt der qualifizierte schulische Anfangsunterricht eine grundlegende Rolle (Zimmermann 2005).
In den Grundsätzen vermissen wir die Auswirkungen, die Lese-Rechtschreibschwierigkeiten oder Rechenschwierigkeiten auf die schulische und Persönlichkeitsentwicklung haben können, wie sie in der Hessischen Richtlinie von 1995 unter 2.2. benannt wurden. Es fehlen Hinweise auf die Grenzen schulischer Förderarbeit.
In § 2 Förderdiagnostik vermissen wir die Übernahme der ersten drei Absätze zum „Erwerb der Fähigkeit zum Lesen und Rechtschreiben in der Schule“ in den KMK-Grundsätzen, die einen differenzierten Anfangsunterricht und ein förderdiagnostisches Vorgehen für alle Schulanfänger voraussetzen, um so frühzeitig gezielt helfen zu können. Die Beobachtungen müssen, wie bereits angeführt, Teilaspekte des Schriftspracherwerbs und /oder der mathematischen Grundlagen einbeziehen. Letztere fehlen in den Entwürfen.
Zu § 3 Fördermaßnahmen: Es ist richtig, dass die Schule der Ort der kompetenten Vermittlung von Schriftsprache und mathematischen Grundlagen sein muss, wie §3 ausführt. Dazu müssen die Lehrerinnen und Lehrer aber auch über erprobte und wissenschaftlich abgesicherte Konzepte verfügen, um Kinder fachgerecht und nicht beliebig zu fördern, was ein klares theoretisches Verständnis voraussetzt. Die Förderverpflichtung (5) und Dokumentation (6) sind wesentliche Bestandteile, aber die vielfältigen Fortbildungserfahrungen unserer Mitglieder belegen, dass vielen Lehrerinnen und Lehrern die dafür notwendigen Kompetenzen fehlen. Wie stellt Ihr Ministerium sicher, dass die von Ihren akkreditierten Fortbildner selbst im schriftsprachlichen oder mathematischen Bereich ausreichend qualifiziert sind? Selbst in den Publikationen Ihres Hauses gibt es Widersprüche. Z.B. entsprechen die meisten der im Internet unter lernarchiv.bildung.hessen.de empfohlenen Rechtschreibmaterialien nicht den Kriterien für sinnvolle Rechtschreibübungen (Valtin/Naegele/Thomé 2000). Neben dem allgemeinen Förderauftrag der Schule verpflichtet die VOLRR Lehrerinnen und Lehrer zur gezielten Förderung. Wir sehen die Gefahr, dass die Möglichkeit besteht, ein Kind einem der vier Ausnahmebereiche zuzuordnen oder die erlasslichen Vergünstigungen zu verweigern, wenn Lehrkräfte sich überfordert fühlen oder bei den vielfältigen Aufgaben den zusätzlichen förderdiagnostischen Aufwand vermeiden wollen.
In einer Verordnung sollten auch die Grenzen schulische Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Lese-Rechtschreib- und /oder Rechenschwierigkeiten benannt werden, wenn keine ausreichenden schulischen Förderangebote zur Verfügung stehen oder die Auswirkungen auf die Psyche so gravierend werden, dass eine integrative Psycho- und Lerntherapie im Rahmen einer Einzelmaßnahme notwendig wird. Hier müssen Hilfsmöglichkeiten über das KJHG in Absprache mit der Schule im Gültigkeitsbereich der Verordnung ermöglicht werden.
Die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben befürchtet, dass die vorliegenden Entwürfe für eine Verordnung Lehrkräften, betroffenen Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern nicht die beabsichtigte Klarheit und Eindeutigkeit bieten. Wir hoffen, dass vor einer Verabschiedung noch Änderungen im Sinne klarerer Definitionen, Einbezug aller förderungsbedürftigen Schülerinnen und Schüler aller Schulformen, Begrenzung der Maßnahmen auf die Erwerbsprozesse und ihre Auswirkungen auf die Gesamtpersönlichkeit (analog zur bisherigen Verordnung) und zur Organisation von Fördermaßnahmen erfolgen, was der niedersächsische „Erlass zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen,

Rechtschreiben oder Rechnen“ vom 04.10.05 in weiten Teilen wesentlich deutlicher zum Ausdruck bringt.
Die Position der DGLS zum Thema finden Sie u.a. in den „Zehn Rechten der Kinder auf Lesen und Schreiben“ (www.dgls.de).

Mit freundlichen Grüßen

(Ingrid Naegele, Vizepräsidentin)

Zitierte Literatur:
Falb,H.: Ein exemplarischer Fall misslungener Hilfeleistung bei Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. In: Hessisches Kultusministerium (Hg): Kein Ende mit den Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten? Wiesbaden 2004
Valtin,R.: Von der klassischen Legasthenie zu LRS- notwendige Klarstellungen. In: Naegele/Valtin (Hgg): LRS – Legasthenie -in den Klassen 1-10, Band 2, Weinheim 2001, 2. Aufl.
Valtin/Naegele/Thomé :Nicht nachahmenswert- Vier Ärgernisse in Rechtschreibmaterialien. In:Valtin (Hg.): Rechtschreiben lernen in den Klassen 1-6. Frankfurt 2000
Weber/Marx/Schneider: Profitieren Legastheniker und allgemein rechtschreibschwache Kinder in unterschiedlichem Ausmaß von einem Rechtschreibtraining? In: Psychologie in Erziehung und Unterricht. 2002,49, 46-70
Zimmermann,K.R. :Begründung und Dokumentation eines für Kinder mit Rechenschwierigkeiten entwickelten integrativen Förderkonzepts. Berlin 2005

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