Stellungnahme der DGLS zu dem Entwurf der KMK zu Bildungsstandards im Fach Deutsch (Entwurf vom 23.4.2004)

Stellungnahme der DGLS zu dem Entwurf der KMK zu Bildungsstandards im Fach Deutsch (Entwurf vom 23.4.2004)

Die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben, 1968 gegründet als deutsche Sektion der International Reading Association, setzt sich dafür ein, dass Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft lernförderliche Bedingungen für den Erwerb von Schriftsprache vorfinden, denn nur die Beherrschung dieser Schlüsselkompetenz sichert die Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben. Wie IGLU gezeigt hat, sind die gesellschaftlichen und schulischen Rahmenbedingungen für die Förderung der Lesekompetenz in Deutschland, im Vergleich mit unseren gut abschneidenden europäischen Nachbarn, nicht besonders günstig. Die DGLS hat deshalb 10 Rechte der Kinder auf Lesen und Schreiben propagiert (sie umfassen u.a. das Recht auf Lernorte, die ihnen optimale Lernmöglichkeiten bieten, auf Förderung bei auftauchenden Lernschwierigkeiten, auf gut ausgebildete Lehrkräfte) und betrachtet die Realisierung dieser Rechte als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Auf dem Hintergrund dieser Ansprüche von Kindern und Jugendlichen soll der vorliegende Entwurf zu den „Bildungsstandards“ beurteilt werden, wobei 1) als Quintessenz die allgemeine Position herausgestellt und anschließend 2) weitere Erläuterungen zu einzelnen Textteilen folgen.

1. Zusammenfassende Stellungnahme
Die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben  begrüßt die Einführung von Standards als Anspruch des Kindes auf Leistungsbefähigung und als Bringschuld der Schule, die lernförderliche Bedingungen für alle Kinder bereit zu stellen hat. Bei Nichterreichung von Mindeststandards hat das Kind Anspruch auf Fördermöglichkeiten bzw. die Schule Anspruch auf weitere Ressourcen (z.B. zusätzliche Finanzmittel und Fachleute) zur Verbesserung der Lernbedingungen. Derartige Standards sind als förderdiagnostisches Instrumentarium möglichst für jede Klassenstufe der Grundschule zu entwickeln. Sie müssen eingebettet sein in umfassende Konzepte zur Reform des Bildungswesens, der Schulentwicklung und der Lehreraus- und -fortbildung.
Im vorliegenden KMK-Entwurf  werden die Standards diesen Funktionen nicht gerecht. Das Ende des 4. Schuljahrs bzw. der Hauptschulabschluss am Ende des 9. Schuljahrs sind ungeeignete Zeitpunkte, denn sie erlauben keine Förder- und Unterstützungsmaßnahmen mehr. Die DGLS lehnt Standards am Ende der Grundschule ebenso ab wie schulformbezogene Standards für die Sekundarschule, da die Gefahr des Missbrauchs für die Perfektionierung der schulischen Auslese besteht.
Die Kritik lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • Es fehlt eine bildungstheoretische Grundlegung der Standards ebenso wie die Legitimation bzw. Offenlegung ihrer Funktion im Bildungswesen. Welche Zwecke sollen sie erfüllen: Bildungssystemmonitoring, Schulwahlentscheidungshilfe, Individualdiagnostik – oder gar Auslese für weiterführende Schulen?
  • Angesichts der bestürzenden Ergebnisse von IGLU, dass im deutschen Schulsystem keine Bildungsgerechtigkeit herrscht (Schüler und Schülerinnen gleicher Kompetenzstufen erhalten unterschiedliche Bildungsgangempfehlungen) und auch keine Chancengleichheit besteht (Privilegierung von Kindern aus akademischen Familien, Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund), hat die Öffentlichkeit ein Anrecht darauf zu erfahren, welchen Beitrag Bildungsstandards zur Verwirklichung von Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und Förderorientierung in der Schule leisten.
  • Der Ausdruck „Bildungs“standard ist irreführend, da bei der Beschreibung der Kompetenzbereiche zu den Standards jeglicher Bezug zur Persönlichkeitsbildung fehlt. Die angestrebte Sprachhandlungskompetenz ist rein formal-funktionalistisch gefasst als Effektivität der Kommunikation ohne Bezug zu Wert- und Normvorstellungen (z.B. Identitätsbildung, Empathie, Toleranz).
  • Der Ausdruck „Standard“ ist irreführend, da er der Bedeutung: Norm, Richtmaß, Richtschnur nicht gerecht wird, da keine Entwicklungsniveaus definiert, sondern nur die Beschreibungen der Kompetenzbereiche wiederholt werden. Diese Beschreibungen gehen nicht über die in den bisherigen Lehrplänen aufgelisteten Fertigkeiten, Fähigkeiten und Wissensbestände hinaus.
  • Damit Standards akzeptiert, realisiert und evaluiert werden können, müssen sie bestimmten Kriterien entsprechen, wie Transparenz, Objektivität und Validität. Die vorgeschlagenen Standards sind nicht transparent, da ein Bezug auf zugrunde liegende fachwissenschaftliche, fachdidaktische, entwicklungspsychologische und lerntheoretische Grundlagen nicht erkennbar ist. 
  • Es fehlt ein Bezug auf die empirisch validierten Kompetenzniveaus im Lesen und der Rechtschreibung, wie sie in IGLU erarbeitet wurden, ebenso wie eine Einordnung  in entwicklungspsychologische Kompetenzmodelle.  Dimensionen und Stufen der Kompetenz müssen konkret beschrieben werden, damit sie Lehrkräften einen Orientierungsrahmen für die Gestaltung des Unterrichts und für förderdiagnostische Maßnahmen bieten sowie klare Kriterien zur Überprüfung von Lernergebnissen liefern.

2. Erläuterungen zur Stellungnahme
Nun im Einzelnen zu dem Entwurf, wobei wir uns beispielhaft auf die Bildungsstandards der Jahrgangsstufe 4 beziehen und dem vorliegenden Text des Entwurfs folgen:

Zu 1) Der Beitrag des Faches Deutsch zur Bildung
Verwunderlich ist zunächst die Verwendung des Begriffs „Fach Deutsch“, da in der Grundschuldidaktik das Konzept des „Lernbereichs Deutsch“ als fachübergreifendes Prinzip des ganzheitlichen Lernens Eingang gefunden hat. In diesem knappen Kapitel wird grundlegende Bildung als Auftrag der Grundschule bezeichnet, aber man vermisst eine bildungstheoretische Rahmenkonzeption dazu bzw. zumindest die Nennung von Wert- und Normvorstellungen. Als  „wesentlicher Bestandteil“ dieses Bildungsauftrages werden „sprachliche Kompetenzen“ bzw. „Sprachentwicklungskompetenz“ (ist das dasselbe?) genannt und die grundlegende Bedeutung der Sprache für die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung des Kindes festgestellt, ohne dass weitere Erklärungen oder Einordnungen in Theorien der Entwicklung der Persönlichkeit folgen bzw. Bezug genommen wird auf die Logik der kindlichen Entwicklung im Bereich von Sprache,  Kognition oder sozialer Kognition.
Diese fehlende theoretische, entwicklungspsychologische Verortung ist auch deshalb bedauerlich, weil die im Folgenden genannten Kompetenzen nicht mit Entwicklungsniveaus verknüpft werden.
Unklar bleibt auch die lerntheoretische Fundierung. Die Aussage: „Der Deutschunterricht (!) entwickelt Sprechen und Zuhören, Lesen und Schreiben sowie Einsichten ...“ knüpft an längst überwundene behavioristische Instruktionstheorien an.
Letztlich geht es bei der angesprochenen „Bildung“ um „Sprachhandlungskompetenz“, wobei jegliche Rückbindung an (Persönlichkeits-)Bildung und an Werte und Haltungen, die der Lernbereich Deutsch in der Grundschule bei Kindern fördern will, fehlt: z.B. Empathie, Kritikfähigkeit, Kommunikation als Zugang zur eigenen Ich-Findung und Ich-Entwicklung, überhaupt wird der Bereich der personalen Kompetenzen nicht angesprochen (oder ist dieser Gegenstand des „Fachs“ Sachunterricht?).

Zu 2) Kompetenzbereiche des Faches Deutsch
Die Fassung der Kompetenzbereiche als „Sprechen und Zuhören“, „Schreiben“, Lesen“ und „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ folgt der traditionellen Einteilung der herkömmlichen Lehrpläne, sie orientiert sich nur an zweckrationalen Kriterien einer effektiven mündlichen und schriftlichen Kommunikation. Die Unterkategorien sind in ihrer Systematik sachlogisch nicht immer nachvollziehbar (so folgt nach „zu anderen sprechen“ und „Gespräche führen“ als drittes der Aspekt „verstehend zuhören“, der ein Bestandteil der Gesprächsführung sein sollte).

Diese Aufgliederung in Fertigkeiten, Fähigkeiten und  Wissensbestände findet sich auch im Kapitel 3 „Standards für die Kompetenzbereiche des Faches Deutsch“. Es fehlt eine einleitende Erklärung dazu, welche Bedeutung diese Standards haben, erst mehrere Seiten später erfährt man, dass es sich um „Regelstandards“ handelt, wobei auch dies nicht erklärend ist. Hinzu kommt, dass die Beschreibungen der Kompetenzbereiche in weiten Teilen mit den Standards deckungsgleich sind. So wird beispielsweise bei der Rechtschreibung als Kompetenzbereich genannt: „Die Kinder verfügen über grundlegende Rechtschreibstrategien. Sie können lautentsprechend verschriften und berücksichtigen orthographische und morphematische Regelungen“. Unter „Standard“ wird fast gleichlautend genannt: „Rechtschreibstrategien verwenden: Mitsprechen, Ableiten, Einprägen“ (wobei übrigens die Anwendung grammatischen Wissens als wesentlicher Aspekt fehlt). Beim Kompetenzbereich heißt es: „Sie entwickeln Rechtschreibgespür und Selbstverantwortung Texten gegenüber“, beim „Standard“ heißt es: „... über Fehlersensibilität und Rechtschreibgespür verfügen“.
Diese Beispiele mögen als zwei von vielen verdeutlichen, dass der Anspruch der Standardsetzung nicht erreicht wird.
Es fehlt ein Bezug auf die empirisch validierten Kompetenzniveaus im Lesen und der Rechtschreibung, wie sie in IGLU erarbeitet wurden, ebenso wie eine Einordnung in entwicklungspsychologische Kompetenzmodelle und der Hinweis, dass sich Kinder am Ende des 4. Schuljahres in kognitiver, sozialkognitiver und auch moralischer Hinsicht auf bestimmten Stufenniveaus der Entwicklung befinden, die in einem „kindgemäßen“ Unterricht zu berücksichtigen sind. Das wird vor allem deutlich in Bezug auf die genannten Standards „Perspektiven einnehmen“ (inwiefern ist dieses unterschiedlich von  „sich in eine Rolle hineinversetzen“?) oder Konflikte lösen, da sozialkognitive Stufenmodelle hier einen wichtigen Orientierungsrahmen liefern für den Entwicklungsstand des Kindes.
Die Standards haben eine starke funktionell-pragmatische Orientierung. Nur ein einziges Mal wird auf die bildende Wirkung Bezug genommen: „durch die Beschäftigung mit literarischen Texten“ (warum nicht auch in der mündlichen Kommunikation?) sollen  „Sensibilität und Verständnis für Gedanken und Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen“ entwickelt werden (S. 14). Ansonsten steht die Effektivität des sprachlichen Handelns im Vordergrund. Bei „Gespräche führen“ hätte man als „Bildungsstandard“ erwartet: Fähigkeit und Bereitschaft zur Verständigung, Empathie, Toleranz und Akzeptanz im Falle von abweichenden Meinungen oder auch kulturell anders Handelnden. Auch beim Standard „über Lernen bzw. Lernerfahrungen sprechen“ hätte die bildende Funktion herausgestellt werden können: eigene Lernergebnisse reflektieren, Erkenntnisse über den eigenen Lernprozess gewinnen, eigene Lernfortschritte beschreiben.
Ein wichtiges Merkmal von Standards ist die klare Benennung von Maßstäben, an denen Lehrkräfte sich orientieren können. Dieses wird von den hier vorgelegten Standards nicht geleistet, da nur eine Beschreibung geliefert und nichts über die Komplexität und das Niveau ausgesagt wird (z.B.: „Unterschiede von gesprochener und geschriebener Sprache kennen“, „über Verstehens- und Verständigungsprobleme sprechen“ – dies kann auf völlig unterschiedlichen Abstraktions- und Komplexitätsniveaus geschehen). Qualifizierende Wörter wie „altersgemäß“, „erste“ Einsichten oder „grundlegende“ Begriffe sind wenig hilfreich.

Zu 4) Aufgabenbeispiele
Im Kapitel 4.1 werden schließlich drei Anforderungsbereiche genannt, die einen „Orientierungsrahmen“ (wofür?) darstellen sollen. Aus der Beschreibung wird nicht deutlich, wie sich die Anforderungsbereiche unterscheiden. Was ist der Unterschied zwischen „bekannten Informationen“ (AB I) und „erworbenem Wissen“ (AB II), bzw. zwischen „grundlegenden Verfahren und Routinen“ (AB I) und „bekannte Methoden“ (AB II)? Hinzu kommt, dass zu jedem Anforderungsbereich Aufgaben mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad möglich sind, so dass eine Trennschärfe in der Abgrenzung nicht gegeben ist.
Zu fragen ist vor allem nach der Funktion dieser Gliederung in drei Anforderungsbereiche. So steht zu befürchten, dass sie missbraucht wird für die Auswahl von Schülerinnen und Schülern in die unterschiedlichen Schultypen.
Zu den Aufgabenbeispielen ist zu sagen, dass das Format der Aufgaben begrüßenswert ist, da vielfältige Sozialformen und Differenzierungen berücksichtigt werden. Solange allerdings in der deutschen Grundschule der Zwang zur Notengebung besteht, die am Ende von Klasse 4 wesentlich die Bildungsgangempfehlung determiniert, ist zu befürchten, dass diese Art der „Aufgabenkultur“ wenig Chancen auf Realisierung hat.
Zu den Aufgabenbeispielen noch einige Anmerkungen:

  • Auf S. 18 ist zu lesen, dass Beispiele für das Verstehen von Sachtexten vorgelegt werden, „weil auf Grund der Ergebnisse der internationalen Vergleichsuntersuchungen hier eine wichtige Entwicklungsrichtung für den Unterricht in der Grundschule zu sehen ist“. Diese Bemerkung überrascht angesichts des IGLU-Ergebnisses, dass gerade in Deutschland kein Unterschied in den Schülerleistungen bei Sach- und literarischen Texten auffindbar war.
  • In den Texten sollten Formulierungen mit fragwürdigen Metaphern („da geht in dir die Post ab“, „da muss das Oberstübchen erst einmal mitkommen“) vermieden werden.
  • Die Begrifflichkeit ist nicht immer eindeutig. So taucht bei den „Leistungserwartungen“ der Begriff „Lesestrategien“ auf,  an anderer Stelle (S. 20) steht unter „Beitrag zu Standards“: verschiedene Lesetechniken nutzen. Beide Begriffe „Lesestrategien“ und „Lesetechniken“ wurden jedoch weder bei den Kompetenzbereichen noch den Standards genannt.
  • Bei den Leistungserwartungen zur Aufgabe „Kurzvortrag halten und ein Gespräch führen“ sind die Kriterien inhaltlich, sprachlich, formal nicht trennscharf. Was unterscheidet „wurde der Sachverhalt verständlich dargelegt?“ (inhaltlich) von: „war der Gesprächsteilnehmer in seinen Äußerungen verständlich?“ (sprachlich).

Abschließendes Fazit:
Es sind – möglichst für jede Klassenstufe – Standards zu entwickeln als Ansprüche des Kindes auf Leistungsbefähigung in der Schule und als förderdiagnostisches Instrument. Leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler dürfen nicht zurückgelassen werden. Es sind grundlegende Reformen des deutschen Bildungswesens notwendig, damit Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit und die Förderung aller Kinder – ungeachtet ihrer sozialen Herkunft – ermöglicht werden. Die DGLS setzt sich für ein längeres gemeinsames Lernen und den Abbau der Selektivität des Bildungswesens ein. Analog zu Bildungsstandards, an denen sich die Leistung der Schülerinnen und Schüler ausrichtet, sind Standards für Lehrerkompetenzen zu entwickeln und die Lehreraus- und -fortbildung entsprechend zu reformieren.

Berlin, Mai 2004
Gez. Renate Valtin

Noch keine Kommentare bis jetzt

Leave a Reply