Richtig falsch Die Rechtschreibreform in Kinder- und Jugendbüchern Von Theodor Ickler

Jakob bat und bettelte dabei bleiben zu dürfen. Das soll Michael Ende geschrieben haben. In Wirklichkeit hat er geschrieben: Jakob bat und bettelte, dabeibleiben zu dürfen. Die nicht gerade leserfreundliche Änderung geht auf das Konto des Verlags, der den  „satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch“ des verstorbenen Schriftstellers durch viele hundert Eingriffe auf Reformschreibung getrimmt hat. Seit 1996 ist nahezu die gesamte Kinder- und Jugendliteratur in dieser Weise verändert worden. Was die Schulbuchverleger betrifft, so hatten sie keine Wahl, nachdem die Kultusminister im Sommer 1996 (zwei Jahre vor dem Inkrafttreten der Reform und neun Jahre vor dem Ende der Übergangszeit) angekündigt hatten, keine neuen Schulbücher in herkömmlicher Orthographie mehr genehmigen zu wollen. Aber die Kinder- und Jugendbuchverlage ließen es an vorauseilendem Gehorsam gleichfalls nicht fehlen, wobei sie geltend machten, die Kunden wünschten es so – eine Begründung, die nie genauer belegt wurde. Ein Geschäft war mit den umgestellten Büchern zwar nicht zu machen; die Umstellung bereits vorliegender Bücher kostet pro Titel zwölf- bis fünfzehntausend Mark, und der Umsatz erhöhte sich keineswegs. Die Aktion hat aber nicht unwesentlich zur gegenwärtigen Scheinblüte der Reformorthographie beigetragen.

Weder korrekt noch richtig

Bisher ist es noch niemandem gelungen, die neuen Regeln auch nur einigermaßen korrekt anzuwenden. Im Jahre 1996 war noch ziemlich unklar, wie das umfangreichste und komplizierteste Orthographie-Regelwerk aller Zeiten überhaupt auszulegen sei. Meist hielt man sich an den neuen Duden, der zum Beispiel (mit Billigung einiger Reformer) die Auskunft gab, wiedersehen und viele ähnliche Wörter seien jetzt getrennt zu schreiben. Dieser Irrtum, dem sich nach und nach alle anderen Wörterbücher anschlossen, wurde erst mit der Neubearbeitung vom August 2000 korrigiert – Zeit genug, um die falsche Schreibweise in Tausende von Büchern eindringen zu lassen:

Kann es nicht sein, dass du sie noch wieder findest? (Kirsten Boie: Kerle mieten. Oetinger)

Überhaupt war der Hummerfischer jetzt nicht wieder zu erkennen.(James Krüss: Mein Urgroßvater und ich. Oetinger). Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er sie wieder erkannte. (Andreas Steinhöfel: Beschützer der Diebe. dtv junior)

Viele Fehler entstehen auch durch Übergeneralisierung der neuen Regeln: 'Geschähe ihr Recht', meinte er bitter. (Thomas Jeier: Hilferuf aus dem Internet. Arena) Ratte ist immer an allem Schuld. (Das große Jahrbuch für Kinder 1999. Velber) 'Morgen!', sagte er Hände reibend. (Brigitte Blobel: Die Neue, mein Bruder und ich. Schneider) Die Geschwister hatten längst mit dem Geld verdienen angefangen. (Paul Maar: Philipp hat Glück. Ellermann)

Auch solche Irrtümer und Mißgriffe sind aufschlußreich, zeigen sie doch, was Lektoren heutzutage für möglich halten und wie weit sie zu gehen bereit sind.

Nicht korrekt, aber richtig

Der häufigste Fehler besteht natürlich darin, daß bisherige Schreibweisen weiterverwendet werden: langbewimperte Lider, schattenspendende Dächer, schiefgehen, brühendheiß (Stefan Wolf: TKKG – Im Schloss der schlafenden Vampire. Pelikan) Es tut mir leid! (Doris Schröder-Köpf / Ingke Brodersen: Der Kanzler wohnt im Swimmingpool. Campus); ein schwarzgelockter Knabe (ebd.) (Der Campus-Verlag hat das Buch der Kanzlergattin zwar in reformierter Rechtschreibung herausgebracht, doch sind dabei einige Dutzend Fehler unterlaufen – wie man sieht, durchaus nicht immer zum Schaden des Buches.)

Daß noch mal neuerdings zusammengeschrieben werden muß, hat fast niemand mitbekommen, denn es steht an sehr versteckter Stelle im neuen Regelwerk.

Korrekt, aber nicht richtig

Zu den übelsten Folgen der Reform gehört die grammatisch falsche Getrenntschreibung in Fällen wie: Dein Appetit ist Furcht erregend! (Krüss: Urgroßvater) Zwar haben die Reformer einen Teil dieser Schnitzer inoffiziell wieder zurückgenommen, aber davon wissen die Verlage noch nichts. Die Getrenntschreibung breitet sich epidemisch aus: Es klang alles miteinander Furcht erregend. (Astrid Lindgren: Rasmus und der Landstreicher. Oetinger) Er sah plötzlich viel größer und sehr Ehrfurcht gebietend aus (Ende: Wunschpunsch)

Ebenso ärgerlich und sogar für Kinder schon erkennbar ist der grammatische Fehler bei der neuen Großschreibung: Oh, das tut mir Leid. (Norbert Blüm: Franka und Nonno. Riesenrad 2001) Das tut uns allen wirklich sehr Leid. (Marianne Koch: Tief einatmen! Hanser) so Leid es Lilli auch tut (Knister: Hexe Lilli und das wilde Indianerabenteuer. Arena) Ich musste die Tränen zurückdrängen, so Leid taten sie mir (Ursula Isbel: Pferdeheimat im Hochland. Bertelsmann) Die Partei, die Partei hat immer Recht (Schröder-Köpf/Brodersen) Und so ganz Unrecht hatten sie damit nicht (Joachim Friedrich: 4½ Freunde und das Geheimnis der siebten Gurke. Thienemann/Bertelsmann)

Dabei hat Konrad Duden persönlich die Sache schon 1876 klargestellt:

„Bei Ausdrücken wie 'leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein; mir ist angst, wohl, wehe, not' ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element nicht als Substantivum fungiert; man erkennt die nicht substantivische Natur jenes Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt 'er (...) hat ganz recht, hat vollständig unrecht' u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von Adjektiven, zeigt, daß man EINEN verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem substantivischen Objekt vor sich hat.“ (Die Zukunftsorthographie. Leipzig)

Unseren Reformern scheint dieses Grundwissen abhanden gekommen zu sein.

Korrekt, aber nicht gut

Am einfachsten war es, all jene Kommas zu tilgen, die nach der Neuregelung nicht mehr stehen müssen, aber durchaus noch stehen dürfen und in den allermeisten Fällen um der Lesbarkeit willen auch stehen sollten: Sie haben einen Hohen Rat einberufen und der hat entschieden geheime Botschafter in alle Himmelsrichtungen zu schicken. (Ende: Wunschpunsch) Wir treffen uns gegen fünf Uhr bei ihr um alles wegen heute Nacht zu besprechen. (Steinhöfel: Beschützer der Diebe) Natürlich hörte ich trotzdem nicht auf die Hälfte meines Taschengeldes für Anti-Aknemittel auszugeben.Ich  bekam plötzlich Angst mit ihr alleine zu sein und schlug ihnen vor doch einfach mal hochzugehen. Daniel würde sich bestimmt freuen sie zu sehen. (Christian Bieniek: Immer cool bleiben. Arena)

Was längst zu einem neuen Wort mit neuer Bedeutung verschmolzen war, nimmt die Rechtschreibreform künstlich wieder auseinander: Er warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu. (Blobel: Die Neue) Sie warf mir einen viel sagenden Blick zu. (...) Tanja sah mich viel sagend an. [– wobei  sie aber gar nichts sagt!]  (Zimmermann/Zimmermann: Mathe, Stress und Liebeskummer. Thienemann) Die lächerliche Aufspaltung von sogenannt ist ja auch in Zeitungen allgegenwärtig und braucht nicht belegt zu werden.

Mit Michael Ende ist der undankbare Verlag besonders grob umgesprungen. Der Verfasser wußte doch wohl, warum er schrieb: Aus Nichts schöpfst du immerfort Geld, und mit Geld kann man Alles machen. Daraus wird in der Neubearbeitung: Aus nichts schöpfst du immerfort Geld und mit Geld kann man alles machen. Die Banalisierung hat Methode:  wer brunnenvergiftet wird zu wer Brunnen vergiftet, der Eigenname Sankt Sylvester zu Sankt Silvester.  Die altkluge Belehrung der Reformer, behende komme eigentlich von Hand und sei daher mit äzu schreiben, wird ebenfalls befolgt: Irrwitzer eilte davon und Tyrannja folgte ihm mit überraschender Behändigkeit. Die archaisierende Schreibweise legt irreführenderweise den Gedanken nahe, beim Davoneilen spielten die Hände eine nennenswerte Rolle. In anderen Fällen wirkt die etymologische Klügelei noch aufdringlicher: Ich schnäuzte in mein Taschentuch. (Boie: Kerle mieten)

Wer zigtausend derartige Fehler gesehen hat, muß zu der Einsicht kommen, daß mit einer objektiv minderwertigen Rechtschreibung keine hochwertigen Texte hervorgebracht werden können. Die solide oder gar prächtige Ausstattung mancher neuen Bücher, wie im Falle des Bestsellers von Doris Schröder-Köpf, läßt den Widersinn nur um so krasser hervortreten.

Auch wer keine Grammatikregeln aufsagen kann, hat doch ein Gespür für Wortarten und Zusammensetzungen. Die intuitive Sprachkenntnis, das sogenannte Sprachgefühl, wird durch systematische Einübung des Falschen unweigerlich zerrüttet. Dieser Schaden wiegt schwerer als die vergeudeten Milliarden. 

Aber auch der nie berechnete materielle Schaden ist nicht gering zu veranschlagen: In ganz Deutschland bitten Leihbüchereien nun um Spenden für die angeblich dringend notwendige Auswechselung „veralteter“ Kinderbücher gegen reformierte. In einer mittleren Stadt wie Fürth wird der Umfang der Aktion auf 2000 Bände geschätzt, bei einem Anschaffungsetat von 130.000 DM für die gesamte Bibliothek keine Kleinigkeit. Nur wenige Verantwortliche haben bisher zur Kenntnis genommen, daß die Reform von 1996 schon wieder überholt ist. Die Reformkommission hat einen Teil jener Korrekturen, die ihr im Anschluß an die Mannheimer Anhörung (Januar 1998) untersagt worden waren, dennoch in die neuesten Wörterbücher von Duden und Bertelsmann eingeschleust. Es wäre aber ein arger Fehler, nun sogleich auf diese reformierte Reformschreibung umzusteigen, denn die nächste Welle von halbherzigen Rücknahmen wird gerade vorbereitet. 

Theodor Ickler setzt sich kritisch mit den Resultaten der Rechtschreibreform auseinander. Wir stellen seinen Text zur Diskussion. 

Der Autor ist Professor für Deutsch als Fremdsprache an der Friedrich- Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg.

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