1. Der Schock
Der Pisa-Schock ist der Nation in die Knochen gefahren, insbesondere,
- dass wir besonders viele außergewöhnlich leistungsschwache Schüler hervorbringen,
- dass soziale Herkunft und Schulerfolg nirgendwo sonst so streng verbunden sind,
- dass nirgendwo sonst Migrantenkinder so schlecht abschneiden wie hier zu Lande,
- dass unsere Schüler vor allem in der Lese-, Verständnis- und Bewertungsfähigkeit international weit unterdurchschnittlich abschneiden.
Damit bescheinigt die Untersuchung Deutschland eine Schul- und Bildungsmisere von standortgefährdendem Ausmaß, eine tickende Zeitbombe gewissermaßen.
Was sind die Ursachen?
Und: Was ist zu tun?
2. Ursachenforschung: Vom gleichzeitigen Sparen und Vergeuden
Zu erforschen ist zunächst einmal schlicht und einfach das Nächstliegende, das geradezu Banale: Die negativen Besonderheiten des deutschen Schulsystems im internationalen Vergleich müssen benannt und abgebaut werden. Stichworte hierzu sind namentlich: Halbtagsschule, Klassengrößen, spätes Einschulungsdatum, frühes Einsortieren in ein streng gegliedertes Schulsystem. Darauf soll hier aber nicht weiter eingegangen werden, denn dies wird unter dem Stichwort „Schulstruktur" breit und ausgiebig öffentlich debattiert - wo nicht jetzt schon, da alsbald. Ebenso wenig soll und kann hier auf das Pendant zur Schulstrukturdebatte ein-gegangen werden, die ungleich differenzierteren, weil immer nur mit Einzelfallbezug sinnvoll erörterbaren Inhalts- und Methodenfragen von Unterricht,zumal deutsche Besonderheiten in diesem Bereich deutlich weniger signifikant sein dürften.
Hier soll es vielmehr um eine weitere, urdeutsche Eigenart gehen, die erstaunlicherweise regelmäßig übersehen wird, obwohl ihre Beseitigung (etwa nach dänischem Vorbild) sogar vergleichsweise billig ist: die deutsche Rechtschreibung mit ihren schreib- und lesetechnisch völlig unnötigen, weltweit einzigartigen Schwierigkeiten.
Schon Konrad Duden stellte dazu fest: Indem die deutsche Rechtschreibung „der Schule kostbare Zeit, dem Kind Lust und Freude am Lernen raubt, ist sie der schlimmste Hemmschuh unserer Volksbildung. Sie wirkt verdummend, indem sie unter größter Kraftvergeudung Verstand und Gedächtnis zum gegenseitigen Kampf zwingt."
Diese deutsche Spezialität, die Rechtschreibung, liegt im Kernbereich von Unterricht, und zwar sowohl zeitlich als auch sachlich.
3. Die deutsche Rechtschreibung als übergreifender Dauerblocker für Kompetenz- und Standortentwicklung
Sachlich:
Rechtschreibung besitzt angesichts der von Pisa zu Recht hervorgehobenen Bedeutung der Lesefähigkeit für das Lernen in nahezu allen Bereichen, also z. B. auch in der Mathematik oder in der (im Wesentlichen sprach-/ lesebasierten) Informationstechnologie, eine Schlüsselfunktion. Denn Lese- und Schreibfähigkeit hängen auf das Engste zusammen. Wenn das Schreiben angstbesetzt ist, wird auch das Lesen gemieden. Wer aber das Lesen meidet, kann keine Lesekompetenz erwerben. Hier werden die Weichen gestellt, hier sind die Dropouts produziert und aufs Abstellgleis gebracht.
Das Geschäft mit der hausgemachten Angst nährt einen ganzen Wirtschaftszweig, ohne dass die deutsche Bildungsmisere überwunden wird. Wie Pisa zeigt, werden dadurch lediglich Motivation, Zeit und das Geld von bildungsbewussten Eltern vertan:
Anzeigen aus einem Potsdamer Lokalblatt.
Anteil der 15-jährigen, die nicht zum Vergnügen lesen:
Land: Anteil in %
Finnland 22 %
Tschechien 27 %
Großbritannien 29 %
Island 30 %
Neuseeland 30 %
Frankreich 30 %
Spanien 31 %
Kanada 32 %
Australien 33 %
Irland 34 %
Schweiz 35 %
Schweden 36 %
Österreich 41 %
Deutschland 42 %
Quelle: OECD, PISA-Studie
Es verwundert deshalb nicht, dass gemäß Pisa unter allen Industriestaaten der Anteil der Schüler, die nicht zum Vergnügen lesen, in Deutschland und Österreich mit Abstand am höchsten ist. Die vielen Millionen DM und Euro, die leistungsbewusste deutsche Eltern in gewerblichen Nachhilfeunterricht Jahr für Jahr investieren, helfen da ganz offensichtlich nicht entscheidend, jedenfalls nicht auf breiter Front. Ohne Lesekompetenz aber sind allgemeines, fachliches Versagen sowie - als Folge davon - frühe Schulmüdigkeit und -verweigerung vorprogrammiert.
Zeitlich: Endlose Rechtschreibübungen und -erörterungen prägen das Leben eines deutschen Schülers dreizehn volle Jahre: von der ersten bis zu letzten Klasse, von der Grundschule bis zur Berufsausbildungsabschlussprüfung bzw. bis zum Abitur. Deutschstunde über Deutschstunde wird - in allen Schulstufen - mit Rechtschreibunterricht vertan. Und nicht nur die Deutschstunden: So heißt es beispielsweise in den amtlichen Berliner Ausführungsvorschriften überschriftliche Klassenarbeiten: Rechtschreibfehler "sind in allen Fächern zu kennzeichnen und je nach Zahl und Gewicht sowie nach Schultyp und Art der Aufgabe ab Klassenstufe 5 bei der Bewertung angemessen zu berücksichtigen" - folglich auch zu behandeln.
Kann es da wirklich wundern, dass die Lesefähigkeit unterentwickelt ist, wenn noch nicht einmal im Deutschunterricht gelesen wird? Gewiss, in der Frage liegt eine Übertreibung; aber gerade in der Übertreibung liegt bekanntlich oft die Wahrheit.
- Das Diktat als Konzentrat eines schwarzen Unterrichts
Speziell das im Unterricht allgegenwärtige Diktat ist ein Konzentrat, ist der Musterfall eines überlebten, geistlosen Pauk- und Drillunterrichts, in dem es nichts zu diskutieren gibt: (Schreibung) auswendig lernen und reproduzieren, und zwar im zitierten Kampf zwischen Gedächtnis und Verstand. Und die einzig richtige Lösung, die der wissende & führende Lehrer (notfalls mit Hilfe eines stets präsenten Dudens, dieses Opus eximiums, dieses herausragenden Werks des Deutschunterrichts) autoritär für alle gleich verkündet sowie denkbar simpel objektiv bewertet. Bei leicht überforderten Lehrern ist solcher Unterricht durchaus beliebt: Das ist ihnen easy Teaching, davon versprechen sie sich vergleichsweise leicht verdientes Geld - inhaltlich und methodisch gleichermaßen anspruchslos, scheint ihnen dieser Unterricht deutlich weniger abzuverlangen als mancher andere.
Allerdings unterliegen diese Lehrer letztlich einer Täuschung, denn nicht wenige Schüler bedanken sich auf ihre Art und Weise für solchen Unterricht, und zwar mit jeweiligen Mischungen aus Apathie und hinhaltender Widerborstigkeit in verschiedensten Abstufungen und Ausführungen. Jedenfalls sind das die berühmten "schulpädagogischen Üblichkeiten" hier zu Lande; sie stellen nicht nur die durchgängig geforderte Freude am Lernen von Anfang an auf eine harte, andauernde Belastungsprobe, sondern sie wirken mehr oder weniger stilbildend für den gesamten Schulunterricht, also fächerübergreifend. Nicht selten vergiften sie ihn geradezu.
Ohne Zweifel spricht dieser Rechtschreibunterricht allen zeitgemäßen, übergreifenden Zielsetzungen Hohn. Denn - darin sind sich alle Sachverständigen einig - zeitgemäßer Unterricht soll das Denken und das selbstständige Lernen fördern; außerdem soll er Demokratie und Verantwortung, Empathie und Menschlichkeit, Werte und Orientierung durch Bildung, mathematische und naturwissenschaftliche Grundlagen, ökologisch nachhaltigen Umgang mit knappen Ressourcen und manches mehr möglichst individualisiert vermitteln. Nüchtern festzuhalten ist: Nichts davon wird im Rechtschreibunterricht und seinem Konzentrat, dem Diktat, verfolgt, geschweige denn erreicht; es handelt sich vielmehr um schwarzen Unterricht schlechthin.
In seinem Beitrag "Lehren und Lernen für die Zukunft - Ansprüche an das Lernen in der Schule" hat E. F. Weinert die "Möglichkeit, schlechte Bildungsergebnisse zu korrigieren", wie sie in internationalen Vergleichsstudien festgestellt wurden, untersucht und sechs fundamentale Bildungsziele zur Verbesserung des Schulunterrichts formuliert. Sie lauten:
"1. Erwerb intelligenten Wissens, - Erwerb anwendungsfähigen Wissens,
- Erwerb variabel nutzbarer Schlüsselqualifikationen,
- Erwerb des Lernen Lernens,
- Erwerb sozialer Kompetenzen,
- Erwerb von Wertorientierung."
Andauernde Rechtschreibexerzitien und Diktate verfehlen in desaströser Weise alle genannten Bildungsziele mit Ausnahme von Ziel Nr. 2; Nr. 2 wird dabei jedoch lediglich aufgrund der herrschenden Schreibkonvention erreicht. Und diese Konvention ist zugleich änderungsfähig und änderungsbedürftig (und zwar ohne Qualitätsverlust).
In ihrer derzeitigen Form sind die Konventionen der deutschen Orthografie folglich zeitlich und sachlich wichtige, gemeinhin im Unerkannten wirkende Ursachenfaktoren für gleich drei der vier eingangs erwähnten, besonders niederschmetternden Pisa-Ergebnisse, nämlich für
- die außerordentlich große Leistungsstreuung bei den deutschen Schülern (wer hier frühzeitig scheitert, fällt im Allgemeinen endgültig ab bzw. aus),
- die ungewöhnlich starke Kopplung von sozialer Herkunft und Schulerfolg (durch tatkräftige Elternhilfe/Nachhilfe kann der Schulerfolg in Einzelfällen notfalls doch noch gesichert werden) sowie endlich für
- das hoch überdurchschnittliche Schulversagen der Migrantenkinder (bei denen Sprach-/ Schreibprobleme und die fehlende häusliche Unterstützung besonders häufig kumulieren, also zusammenfallen, und zwar auch dann, wenn sie schon in Deutschland geboren sind).
Außerdem finden wir hier ein wesentliches Erklärungsmoment für - die einzigartig verbreitete Leseunlust deutscher und österreichischer Schüler (s.o.)
Dass an diesem Zusammenhang leider auch die gerade durchgestandene Rechtschreibreform in ihrer übergroßen Zaghaftigkeit nichts Entscheidendes geändert hat, ist allgemein bekannt.
Kampagne für richtiges Schreiben und Lesen
Nürnberg, 20. Februar (ap). Mit bewusst fehlerhaft beschrifteten Plakaten werben seit Dienstag der Bundesverband Alphabetisierung und die Bundesanstalt für Arbeit für korrektes Schreiben und Lesen. Unter der Überschrift "SUHCHE ABEIT!" soll die Kampagne deutlich machen, wie wichtig ausreichende Lese- und Schreibkenntnisse sind.
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, betonte, dass Lese- und Schreibkenntnisse zu den beruflichen Schlüsselqualifikationen gehörten. Rechtschreibung könnten aber auch Erwachsene noch lernen. In Deutschland gibt es den Angaben zufolge 4 Millionen "funktionale Analphabeten". Über Lernmöglichkeiten für Erwachsene informiert das Alpha-Telefon unter 0251 / 53 33 44.
(aus der Frankfurter Rundschau vom 20.02.2002)
- Trotz Kulturkampf: Es winkt die Verheißung einer harmonischen Verbindung von Demokratie und Globalisierung (sowie von eingesparten Kindertränen)
Es ist leider wahr: Nach dem gerade erst überstandenen Kulturkampf um die rechte Schreibung des Deutschen kommt der Hinweis auf die Orthografie als eine Ursache für das schlechte Abschneiden der deutschen Schule im internationalen Vergleich zur Unzeit. Aber der Hinweis wird dadurch nicht falsch. Wenn wir in Deutschland mit der in Pisa bescheinigten "Vergeudung von Leistungspotenzialen" (Klaus Klemm) Schluss machen wollen, werden wir nicht umhin kommen, diesen gewichtigen Faktor angemessen zu berücksichtigen. Zumal er den Vorzug besitzt, a) konkret, b) recht preiswert und c) effektiv, weil grundsätzlich vergleichsweise leicht regelungszugänglich zu sein (ganz anders als etwa elterliche Erziehung oder Unterrichtsmethodik im Allgemeinen).
Für eine Rechtschreibreform, die den Namen verdient, weil sie, internationalen Vorbildern (dänischen, türkischen, indonesischen…) folgend, einschneidende Vereinfachungen ohne Leseerschwernis bringt, wird man übrigens letztlich die erforderliche Mehrheit bekommen. Die Krux der gerade durchgestandenen Reform, die uns alle genervt ins Sofa hat zurückfallen lassen, war ihre Überflüssigkeit, war ihr in ihrer notorischen Zaghaftigkeit begründetes, wild entschlossenes Bemühen um durchschlagende Wirkungslosigkeit: Wozu eine Änderung, die letztlich alles beim Alten lässt? Daß oder dass - das ist nun wirklich ziemlich wurscht.
(Für Einzelheiten zum gesamten Fragenkomplex sei auf unser Buch Stommel / Stommel, BETONG oder die orthografische Standortsicherung - Deutschland, deine Rechtschreibung, Hamburg 1998, hingewiesen: siehe unten.)
Zum Abschluss Verheißungsvolles. Die Erfahrung lehrt: Schocks können heilsam sein. Auf den Sputnik-Schock reagierten die Amerikaner mit ihrem erfolgreichen Apollo-Raumfahrtprogramm. Besitzen wir noch die Kraft, auf den Pisa-Schock ähnlich erfolgreich zu reagieren? Zumindest die Hoffnung dürfen wir nicht aufgeben - am Ende erfüllen uns Pisa und der internationale Standortwettbewerb noch den alten Traum von Konrad Duden. Der nämlich kämpfte leidenschaftlich, wenn auch Zeit seines Lebens vergeblich für eine "demokratische Rechtschreibung", die "genau und leicht zu handhaben" ist.
Schön, dass Demokratie und Globalisierungszwänge hier harmonisch Hand in Hand gehen. Schön auch, dass dabei gewissermaßen als Nebenwirkung Ängste und Tränen von Generationen von Schulkindern eingespart werden können. In der Frage der rechten deutschen Schreibung gilt nämlich ausnahmsweise: Man kann sie alle drei auf einmal bekommen - die demokratische Veränderung, die Standortpflege und die Chance für unsere Kinder. Damit wird zwar nicht alles erreicht, aber mehr als nichts - immerhin drei auf einen Streich!
Man muss nur wollen.
Zu befürchten ist allerdings, dass mit der Rechtschreibung verfahren wird wie mit dem entwendeten Brief in E. A. Poes gleichnamiger Erzählung: Der Sachverhalt ist zu offensichtlich, um wahrgenommen zu werden. Umso leichter kann die deutsche Orthografie ihr Wirken als gedankenlos übernommenes, unbewusst akzeptiertes Hindernis für die Entwicklung von Lese-, Fach- und Methodenkompetenz am Wirtschaftsstandort Deutschland fortsetzen.
Literatur:
Betong oder die orthographische Standortsicherung. Deutschland, deine Rechtschreibung.
von Axel und Margot Stommel
134 Seiten, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1998
EUR 12,50
Christoph Jantzen
Gibt es eigentlich Mitgliederinnen? Geschlechtersensitive Sprache
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