Lieber
Herr Brügelmann,
war
Ihre erste Reaktion auf die PISA-Ergebnisse im "Freitag" primär
gekennzeichnet durch eine Kritik an allzu schnellen Antworten, die sich
vor allem dadurch auszeichneten, dass jeder seinen althergebrachten
Standpunkt bestätigt sah, so wirkt Ihr Aufsatz, den Sie mit H.W. Heymann
veröffentlicht haben, eher defensiv, rechtfertigend. Nachfolgendes habe
ich als Spontananmerkungen zu Ihrem ersten Aufsatz geschrieben und meine,
dass es durch den Nachfolgebeitrag nicht überflüssig geworden ist.
Lieber
Herr Brügelmann,
zunächst
einmal vielen Dank für eine Stellungnahme, die sich erfreulich abhebt von
den besserwisserischen und vorschnellen Urteilen und Rezepten aus den
unterschiedlichsten Winkeln. In der Tat fühlt sich offensichtlich jede pädagogische
Strömung von den PISA-Ergebnissen bestätigt. Sie haben ja Beispiele
aufgezeigt. Und so durchsichtig die Motive dieser Stellungnahmen auch
sind, nämlich der eigenen Position zum Durchbruch zu verhelfen, so
lohnend scheint es doch auch, sich die Argumente alle noch einmal etwas gründlicher
anzusehen.
Ihre
Warnung vor einfachen Rezepten, die auf unterschiedlichste Organismen
angewandt, zu völlig verschiedenartigen Wirkungen führen, ist absolut
berechtigt. Vielmehr sollte man möglichst vorurteilsfrei einen Blick auf
die vielen Facetten unserer Schulwirklichkeit werfen und dabei genau
andersherum verfahren als es aktuell geschehen ist. Anstatt die Stärke
des eigenen Arguments zu betonen und sich auf seine Position zurückzuziehen,
könnte PISA ein guter Anlass sein, einen Moment lang Selbstzufriedenheit
gegen Selbstkritik einzutauschen.
Um
nicht auch in den Fehler zu verfallen, nur die eigene Meinung bestätigt
zu sehen, kann ich ähnlich wie Sie nur ein paar Fragen stellen. Es sind
scheinbar banale Dinge, auf die ich aufmerksam machen möchte. Aber
vielleicht lohnt sich doch der eine oder andere genauere Blick.
Ist
es nicht äußerst hilfreich, dass es eine solche Studie gegeben hat, die
allzu sicher geglaubte Gewissheiten zumindest in Frage stellt? Sie selbst
haben in mehreren Veröffentlichungen darauf hingewiesen, dass die
Schulleistungen gegenüber früher keineswegs schlechter geworden seien.
In Ihrem Aufsatz für den Freitag haben Sie zu Recht betont, dass sich die
Vergleichsverhältnisse manchen Ländern gegenüber deutlich geändert
haben. Interessant sind hierbei die angelsächsischen Länder. Wenn es
stimmt, dass sich bei uns die Leistungen nicht negativ entwickelt haben,
dann muss es einen enormen Leistungsschub in diesen anderen Regionen
gegeben haben.
Könnte
es sein, dass der seit fast zwanzig Jahren in den USA festzustellende
Richtungswechsel in den Methoden des Schriftspracherwerbs weg vom
Spracherfahrungsansatz hin zu phonematischen und mehr direktiven Verfahren
an dieser Entwicklung mitbeteiligt ist?
Vor
allem in Großbritannien wurde ein rigides System der
Leistungsevaluierung, gerade auch im Leseunterricht eingeführt. Hat dies
womöglich etwas mit der Verbesserung zu tun?
Hat
man in der PISA-Untersuchung auch überprüft, wie viel tatsächliche
Unterrichts- und Lernzeit die Kinder zur Verfügung hatten? Ich denke
dabei nicht nur an die Stundentafel, obwohl gerade hier sicherlich auch
eine Quelle möglicher Leistungsabsenkung in Deutschland gegeben sein könnte,
berücksichtigt man massive Kürzungen in verschiedenen Bundesländern im
letzten Jahrzehnt. Vielerorts sollte man sich ansehen, wie viel von den 45
Minuten einer Unterrichtsstunde tatsächlich als Lernzeit zur Verfügung
stehen. Ich weiß, dass es unpopulär ist, so etwas zu erwähnen, aber in
nicht wenigen Klassen dürfte alleine wegen Unpünktlichkeit ein beträchtlicher
Anteil verloren gehen. Und wenn man dann noch das mitunter mangelhafte
Unterrichtsmanagement, den Unterrichtsausfall und lernfreie
Vertretungsstunden berücksichtigt, kommt man sehr schnell auf eine Größe,
die keineswegs vernachlässigenswert ist.
Kann
es nicht doch sein, dass die Anforderungen in vielen Bereichen, vor allem
auch in der Grundschule, in den letzten 20 bis 30 Jahren gesunken sind,
von noch früher zu schweigen. Gerade heute hatte ich ein Lesebuch des 2.
Schuljahrs von 1955 in der Hand. Die durchschnittliche Wortanzahl einer
Seite betrug ungefähr 400. Heute ist es nicht einmal die Hälfte. Der
Anteil der Illustrationen ist außerdem in der Gegenwart um ein Vielfaches
höher als damals. Vielen heutigen Kindern würde man Texte von vor 30
Jahren nicht zumuten. Waren die Leseleistungen früher anders? Konnten in
dieser Zeit vielleicht auch nur wenige Kinder mit den schwierigen und
langen Texten etwas anfangen oder konnten sie besser lesen?
Herr
Baumert, der Leiter von PISA-Deutschland, fragte neulich auf einer
Podiumsdiskussion in Berlin, wie es denn möglich sei, dass Kinder, die
nicht einmal über elementare Decodierfähigkeiten verfügen, unbemerkt
die Grundschule verlassen können.
Nun
wage ich doch eine Behauptung. Deutlich zurückgegangen sind die
Leistungen im Kopfrechnen. Das berühmte Einmaleins ist das prägnanteste
Beispiel. Wurde es früher gebimst, später im Zeitalter der
Rechenmaschinen als unwichtig und Sekundärtugend abgetan, so habe ich in
den letzten Jahren in Vertretungsstunden in den 5. und 6. Klassen viele
Kinder erlebt, bei denen keine Automatisierung des Einmaleins und des
kleinen 1Plus1 bzw. 1Minus1 erreicht worden ist. Auch jetzt werden wieder
viele einwenden, dass das doch auch egal sei. PISA habe ja gezeigt, dass
es nicht an den Rechenfertigkeiten, sondern an strukturellem Denken und an
der Anwendung mangele. Aber ist es nicht so, dass jemand, der bei den
einfachen Rechnungen schon jede Menge Zeit und Aufmerksamkeit verbraucht,
gar nicht das Augenmerk auf Strukturen richten kann? Ist das eine nicht
die Voraussetzung des anderen und müssen nicht beide von Anfang an Hand
in Hand gehen? Ich habe manchmal den Verdacht, dass auf das eine
verzichtet wird, ohne das andere auch nur annähernd zu erreichen.
Auch
hier lohnt sich ein Blick auf die Schulbücher. Man sehe sich
Mathematik-Grundschulreihen wie „alef“ oder die Lehrwerke von Schröder-Uchtmann
für die Sekundarstufe I aus den 70er-Jahren an. Entweder hatten diese Bücher
Ansprüche, die von den Kindern der damaligen Zeit auch nicht annähernd
eingelöst werden konnten oder das Niveau war damals wesentlich höher als
heute.
Ist
es eine Schimäre, wenn man konstatiert, dass in großen Teilen der
Lehrerschaft in den letzten Jahren Leistungsvergleiche und Evaluierung
nicht gerade enthusiastisch gefordert wurden? Kann es nicht sein, dass
mangelhafte Leistungsmessung ein Grund für schleichenden Leistungsverfall
war? Ist es, abgesehen von den schlechten Ergebnissen im internationalen
Vergleich, nicht zutiefst ungerecht, dass es einem Lotteriespiel gleicht,
zu welchem Lehrer, auf welche Schule und in welchem Bundesland ein Kind
zur Schule geht? Nicht zuletzt hat die Hamburger Untersuchung zur
Lernausgangslage erhebliche Differenzen zwischen vergleichbar
zusammengesetzten Klassen ermittelt. Womöglich wird die nationale
PISA-Studie ähnliches zwischen Bundesländern zu Tage fördern. Muss es
nicht ein Mindestmaß an Verlässlichkeit geben, ohne dass man gleich in
Dirigismus verfällt?
Was
bringt uns denn die heilige Kuh des Förderalismus auf dem Gebiet der
Bildung? Wem nützt die angebliche Vielfalt? Ich werde doch mein Kind
nicht in eine Grundschule in einem weit entfernten Bundesland stecken oder
dahin umziehen, nur weil ich das dortige Schulsystem für besser erachte?
Wäre
es nicht klüger, auf die Versechzehnfachung von Apparaten zu verzichten
und stattdessen eine größere Vielfalt zwischen den einzelnen Schulen mit
klaren Profilen und einem gleichen Grundstandard zu setzen? Die Weigerung
der KMK, einen Bundesbildungsbericht einzuführen, lässt da wenig Gutes erwarten.
Diese
kurzen Anmerkungen sind spontan nach der Lektüre Ihres Freitag-Artikels
entstanden, den die DGLS in ihr Forum gestellt hat. Daraus erklärt sich
auch die Eingrenzung auf wenige Punkte. Zugegebenermaßen ist die
Einkleidung von Meinung in Fragen auch ein Trick. Aber vielleicht sind
diese Fragen, so banal sie erscheinen mögen, doch von Wichtigkeit. Sie
zielen nicht auf kurzfristigen Aktionismus, auf Bevorzugung bestimmter
Schularten oder Methoden, sondern auf einige Wesenmerkmale von Schule, wie
sie vielfach anzutreffen ist.
Im
Folgenden möchte ich zusätzlich mit ein paar Bemerkungen auf den Beitrag
von Brügelmann/Heymann eingehen.
Sie
verweisen auf ältere Untersuchungen, die ebenfalls schon einen schlechten
Zustand des deutschen Schulsystems konstatierten und zeigen sich erstaunt
über die aktuelle Aufregung nach TIMMS und PISA.
Ist
es nicht so, dass auch damals schon heftig reagiert wurde? Zumindest
wurden nicht unbedeutende Reformen in Gang gesetzt. Die Einführung der
Gesamtschule und von Orientierungsstufen brachte gravierende
institutionelle Veränderungen. Aber auch didaktisch hat sich, zumindest
vom Anspruch her, sehr viel gegenüber früher verändert. Ich erinnere
nur an vehemente Grundschulreformen wie Mengenlehre, analytische
Leselehrmethoden, kompensatorische Erziehung, Einführung von Förderunterricht,
verbaler Beurteilung, später Spracherfahrungsansatz und freies Schreiben,
der Einzug des Computers in die Grundschule.
Zu
Recht weisen Sie darauf hin, dass das Beharrungsvermögen des
Bildungsapparates einen Großteil dieser Bemühungen an sich abprallen ließ.
Kann
es aber nicht auch sein, dass manche dieser reformerischen Schnellschüsse
in Erwartung wundersamer Wirkung allzu unkritisch umgesetzt wurden? Das
Beispiel Mathematikunterricht mit seiner radikalen Ausrichtung auf
Strukturen des Faches in den 70er-Jahren zeigt, dass Reform nicht per se
positive Wirkungen hervorbringt.
Und
kann es nicht ebenfalls sein, dass mit der schnellen Abfolge von immer
neuen Heilsversprechungen und pädagogischer Innovationen eine große
Beliebigkeit in die Schulen eingekehrt ist? So schön und zwingend
notwendig pädagogische Freiheit ist, so darf sie nicht dazu führen, dass
jeder Lehrer tun und lassen kann, was er für richtig hält.
Neben
sachkundigem, engagiertem, hervorragendem Unterricht, der kompetent die
Erkenntnisse der Wissenschaft aufgreift, kann man allerorten naives Jüngertum
gegenüber immer neuen Heilsversprechern ebenso beobachten wie das
Verharren auf vorgestrigen Konzepten.
Fehlt
hier nicht ein Maßstab? Vielleicht rührt die Aufregung über PISA daher,
dass man das Nicht-oder Schlecht-Funktionieren von Schule, trotz aller
Reformbestrebungen, sehr wohl gespürt hat, es aber über die Jahre
einfach nicht wahrhaben wollte, und jetzt plötzlich der rosaroten Brille
beraubt wurde.
Würde
jeder Lehrer oder jede Schule sich regelmäßig darüber vergewissern, ob
die eigene Tätigkeit sinnvoll und erfolgreich ist, dann gäbe es womöglich
weniger Grund zum Lamento. Die Diskussion über Mindestlernziele und
Leistungsevaluierung in den letzten Jahren hat nicht ohne Grund
stattgefunden.
Die
Reaktionen auf die PISA-Studie mit der Tendenz, nur die eigene Meinung
bestätigt zu sehen, lassen nicht Gutes für die Zeit nach der Veröffentlichung
des Bundesländervergleichs erwarten.
-
Die Gesamtschulleute verweisen auf die Nordländer, ohne zuzugeben, dass
die deutsche Gesamtschule die schlechtesten Ergebnisse überhaupt erbringt
und mit einer schwedischen rein überhaupt nichts zu tun hat.
-
Die Bayern verweisen schon vor Veröffentlichung
des Bundesländervergleichs auf die Überlegenheit ihres Systems, ohne
zuzugeben, dass Bayern eine im Vergleich geringe Zahl an Abiturienten
aufweist.
-
Die Reformer des Grundschulverbandes verweisen beispielsweise auf
den problemlösenden und damit erfolgreichen Mathematikunterricht
in Japan und Korea, ohne zuzugeben, dass dem eine beinahe drillartige
Beherrschung der Rechenfertigkeiten vorausgeht.
-
Die Ablehner einer Leistungsevaluierung verweisen darauf, dass in vielen
der führenden Länder, viele Jahre keine Noten erteilt werden, ohne
zuzugeben, dass Leistungserhebung und Notengebung überhaupt nichts
miteinander zu tun haben müssen und dass Evaluierung in vielen
erfolgreichen Ländern eine sehr große Rolle spielt.
Statt
sich in Deutschland auch in Zukunft mit gegenseitigen Vorwürfen
lahmzulegen und den schwarzen Peter immer nur beim jeweils anderen zu
suchen, sollte man sich die erfolgreichen Modelle gründlichst ansehen,
deren Bedingungen berücksichtigen und dann daran gehen, die
erforderlichen Umgestaltungsprozesse behutsam in Gang zu setzen. Neue
Schnellschüsse und Patentrezepte werden wieder erfolglos bleiben.
Ein
paar einfache Dinge könnte man aber relativ schnell ändern.
Vielleicht tragen sie ja schon zu einer deutlichen Verbesserung bei.
Gäbe
es für die wichtigsten Fächer und alle Schuljahre Mindestziele und außerdem
darauf zugeschnittene standardisierte Tests, so dass jeder Lehrer sich
selbst prüfen könnte, wo er mit seiner Arbeit steht, dann würde ein
Faktor für die Misere entfallen: Das sich selbst in die Tasche lügen.
Gäbe
es an jeder Schule wenigstens einmal im Jahr eine externe Evaluierung
durch neutrale Gutachter mit anschließender gemeinsamer Beratung, dann könnten
sich im Laufe der Zeit Modelle erfolgreichen Unterrichts herausschälen
und bei entsprechendem Coaching und Vorgehen im Team auch transportieren.
Zum
Schluss noch ein paar kurze Notizen zu Einzelheiten des Beitrags von
Brügelmann/Heymann:
Unter
Punkt 2 heben Sie als wichtigen Befund starke Überlappungen in den
Verteilungen hervor. Sehr gute HauptschülerInnen könnten mit dem
Durchschnitt der GymnasiastInnen mithalten.
Kann
das nicht damit zusammenhängen, dass die Hauptschule in unterschiedlichen
Bundesländern völlig verschieden gestaltet ist? In Bayern geht immer
noch der größte Teil der Sek-I-Schüler in diese Schule. In Berlin
dagegen ist dies nur noch eine Minderheit. Bei den Gymnasiasten ist dies
genau andersherum. So liegt nahe, dass bayerische Hauptschüler gegenüber
manchen Berliner Gymnasiasten die Nase vorn haben dürften. Damit ist über
die Qualität des Unterrichts noch nicht viel ausgesagt.
Unter
3.3 zeigen Sie auf, dass in manchen Ländern das memorierende Lernen
besondere Erfolge bringt, generell aber die SchülerInnen besser
abschneiden, die sich Inhalte eigenständig erarbeiten und durchdenken.
Sie stellen die Frage, ob nicht vielleicht dieselbe Methode in
unterschiedlichen Kulturen und Unterrichtssystemen unterschiedlich wirkt.
Nun frage ich, welche Methode halten Sie denn für unsere Kultur für
angemessen und gleichzeitig erfolgreich?
Über
diese Frage wird, wie in der Vergangenheit, in den nächsten Jahren ein
harter ideologischer Streit ausgetragen werden. Unser Förderalismus wird
einer Überwindung dieser unsinnigen Grabenkämpfe leider nicht dienlich
sein. Eher ist das Gegenteil zu befürchten.
Insofern
kann der Blick auf die Zeit nach PISA nicht optimistisch ausfallen.
Mit
freundlichen Grüßen
Wilfried
Metze¶ |
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Christoph Jantzen
Gibt es eigentlich Mitgliederinnen? Geschlechtersensitive Sprache
Hanna Sauerborn
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Erika Altenburg
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Sabine Birck
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Hans Brügelmann
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern