Stellungnahme zu den Aufsätzen von H. Brügelmann im “Freitag” und von Brügelmann / Heymann für den Grundschulverband. Von Wilfried Metze

Lieber Herr Brügelmann,    war Ihre erste Reaktion auf die PISA-Ergebnisse im "Freitag" primär gekennzeichnet durch eine Kritik an allzu schnellen Antworten, die sich vor allem dadurch auszeichneten, dass jeder seinen althergebrachten Standpunkt bestätigt sah, so wirkt Ihr Aufsatz, den Sie mit H.W. Heymann veröffentlicht haben, eher defensiv, rechtfertigend. Nachfolgendes habe ich als Spontananmerkungen zu Ihrem ersten Aufsatz geschrieben und meine, dass es durch den Nachfolgebeitrag nicht überflüssig geworden ist.    Lieber Herr Brügelmann, zunächst einmal vielen Dank für eine Stellungnahme, die sich erfreulich abhebt von den besserwisserischen und vorschnellen Urteilen und Rezepten aus den unterschiedlichsten Winkeln. In der Tat fühlt sich offensichtlich jede pädagogische Strömung von den PISA-Ergebnissen bestätigt. Sie haben ja Beispiele aufgezeigt. Und so durchsichtig die Motive dieser Stellungnahmen auch sind, nämlich der eigenen Position zum Durchbruch zu verhelfen, so lohnend scheint es doch auch, sich die Argumente alle noch einmal etwas gründlicher anzusehen.  Ihre Warnung vor einfachen Rezepten, die auf unterschiedlichste Organismen angewandt, zu völlig verschiedenartigen Wirkungen führen, ist absolut berechtigt. Vielmehr sollte man möglichst vorurteilsfrei einen Blick auf die vielen Facetten unserer Schulwirklichkeit werfen und dabei genau andersherum verfahren als es aktuell geschehen ist. Anstatt die Stärke des eigenen Arguments zu betonen und sich auf seine Position zurückzuziehen, könnte PISA ein guter Anlass sein, einen Moment lang Selbstzufriedenheit gegen Selbstkritik einzutauschen.  Um nicht auch in den Fehler zu verfallen, nur die eigene Meinung bestätigt zu sehen, kann ich ähnlich wie Sie nur ein paar Fragen stellen. Es sind scheinbar banale Dinge, auf die ich aufmerksam machen möchte. Aber vielleicht lohnt sich doch der eine oder andere genauere Blick. Ist es nicht äußerst hilfreich, dass es eine solche Studie gegeben hat, die allzu sicher geglaubte Gewissheiten zumindest in Frage stellt? Sie selbst haben in mehreren Veröffentlichungen darauf hingewiesen, dass die Schulleistungen gegenüber früher keineswegs schlechter geworden seien. In Ihrem Aufsatz für den Freitag haben Sie zu Recht betont, dass sich die Vergleichsverhältnisse manchen Ländern gegenüber deutlich geändert haben. Interessant sind hierbei die angelsächsischen Länder. Wenn es stimmt, dass sich bei uns die Leistungen nicht negativ entwickelt haben, dann muss es einen enormen Leistungsschub in diesen anderen Regionen gegeben haben. Könnte es sein, dass der seit fast zwanzig Jahren in den USA festzustellende Richtungswechsel in den Methoden des Schriftspracherwerbs weg vom Spracherfahrungsansatz hin zu phonematischen und mehr direktiven Verfahren an dieser Entwicklung mitbeteiligt ist? Vor allem in Großbritannien wurde ein rigides System der Leistungsevaluierung, gerade auch im Leseunterricht eingeführt. Hat dies womöglich etwas mit der Verbesserung zu tun? Hat man in der PISA-Untersuchung auch überprüft, wie viel tatsächliche Unterrichts- und Lernzeit die Kinder zur Verfügung hatten? Ich denke dabei nicht nur an die Stundentafel, obwohl gerade hier sicherlich auch eine Quelle möglicher Leistungsabsenkung in Deutschland gegeben sein könnte, berücksichtigt man massive Kürzungen in verschiedenen Bundesländern im letzten Jahrzehnt. Vielerorts sollte man sich ansehen, wie viel von den 45 Minuten einer Unterrichtsstunde tatsächlich als Lernzeit zur Verfügung stehen. Ich weiß, dass es unpopulär ist, so etwas zu erwähnen, aber in nicht wenigen Klassen dürfte alleine wegen Unpünktlichkeit ein beträchtlicher Anteil verloren gehen. Und wenn man dann noch das mitunter mangelhafte Unterrichtsmanagement, den Unterrichtsausfall und lernfreie Vertretungsstunden berücksichtigt, kommt man sehr schnell auf eine Größe, die keineswegs vernachlässigenswert ist. Kann es nicht doch sein, dass die Anforderungen in vielen Bereichen, vor allem auch in der Grundschule, in den letzten 20 bis 30 Jahren gesunken sind, von noch früher zu schweigen. Gerade heute hatte ich ein Lesebuch des 2. Schuljahrs von 1955 in der Hand. Die durchschnittliche Wortanzahl einer Seite betrug ungefähr 400. Heute ist es nicht einmal die Hälfte. Der Anteil der Illustrationen ist außerdem in der Gegenwart um ein Vielfaches höher als damals. Vielen heutigen Kindern würde man Texte von vor 30 Jahren nicht zumuten. Waren die Leseleistungen früher anders? Konnten in dieser Zeit vielleicht auch nur wenige Kinder mit den schwierigen und langen Texten etwas anfangen oder konnten sie besser lesen?   Herr Baumert, der Leiter von PISA-Deutschland, fragte neulich auf einer Podiumsdiskussion in Berlin, wie es denn möglich sei, dass Kinder, die nicht einmal über elementare Decodierfähigkeiten verfügen, unbemerkt die Grundschule verlassen können.  Nun wage ich doch eine Behauptung. Deutlich zurückgegangen sind die Leistungen im Kopfrechnen. Das berühmte Einmaleins ist das prägnanteste Beispiel. Wurde es früher gebimst, später im Zeitalter der Rechenmaschinen als unwichtig und Sekundärtugend abgetan, so habe ich in den letzten Jahren in Vertretungsstunden in den 5. und 6. Klassen viele Kinder erlebt, bei denen keine Automatisierung des Einmaleins und des kleinen 1Plus1 bzw. 1Minus1 erreicht worden ist. Auch jetzt werden wieder viele einwenden, dass das doch auch egal sei. PISA habe ja gezeigt, dass es nicht an den Rechenfertigkeiten, sondern an strukturellem Denken und an der Anwendung mangele. Aber ist es nicht so, dass jemand, der bei den einfachen Rechnungen schon jede Menge Zeit und Aufmerksamkeit verbraucht, gar nicht das Augenmerk auf Strukturen richten kann? Ist das eine nicht die Voraussetzung des anderen und müssen nicht beide von Anfang an Hand in Hand gehen? Ich habe manchmal den Verdacht, dass auf das eine verzichtet wird, ohne das andere auch nur annähernd zu erreichen. Auch hier lohnt sich ein Blick auf die Schulbücher. Man sehe sich Mathematik-Grundschulreihen wie „alef“ oder die Lehrwerke von Schröder-Uchtmann für die Sekundarstufe I aus den 70er-Jahren an. Entweder hatten diese Bücher Ansprüche, die von den Kindern der damaligen Zeit auch nicht annähernd eingelöst werden konnten oder das Niveau war damals wesentlich höher als heute. Ist es eine Schimäre, wenn man konstatiert, dass in großen Teilen der Lehrerschaft in den letzten Jahren Leistungsvergleiche und Evaluierung nicht gerade enthusiastisch gefordert wurden? Kann es nicht sein, dass mangelhafte Leistungsmessung ein Grund für schleichenden Leistungsverfall war? Ist es, abgesehen von den schlechten Ergebnissen im internationalen Vergleich, nicht zutiefst ungerecht, dass es einem Lotteriespiel gleicht, zu welchem Lehrer, auf welche Schule und in welchem Bundesland ein Kind zur Schule geht? Nicht zuletzt hat die Hamburger Untersuchung zur Lernausgangslage erhebliche Differenzen zwischen vergleichbar zusammengesetzten Klassen ermittelt. Womöglich wird die nationale PISA-Studie ähnliches zwischen Bundesländern zu Tage fördern. Muss es nicht ein Mindestmaß an Verlässlichkeit geben, ohne dass man gleich in Dirigismus verfällt?  Was bringt uns denn die heilige Kuh des Förderalismus auf dem Gebiet der Bildung? Wem nützt die angebliche Vielfalt? Ich werde doch mein Kind nicht in eine Grundschule in einem weit entfernten Bundesland stecken oder dahin umziehen, nur weil ich das dortige Schulsystem für besser erachte?  Wäre es nicht klüger, auf die Versechzehnfachung von Apparaten zu verzichten und stattdessen eine größere Vielfalt zwischen den einzelnen Schulen mit klaren Profilen und einem gleichen Grundstandard zu setzen? Die Weigerung der KMK, einen Bundesbildungsbericht einzuführen, lässt da wenig Gutes erwarten. Diese kurzen Anmerkungen sind spontan nach der Lektüre Ihres Freitag-Artikels entstanden, den die DGLS in ihr Forum gestellt hat. Daraus erklärt sich auch die Eingrenzung auf wenige Punkte. Zugegebenermaßen ist die Einkleidung von Meinung in Fragen auch ein Trick. Aber vielleicht sind diese Fragen, so banal sie erscheinen mögen, doch von Wichtigkeit. Sie zielen nicht auf kurzfristigen Aktionismus, auf Bevorzugung bestimmter Schularten oder Methoden, sondern auf einige Wesenmerkmale von Schule, wie sie vielfach anzutreffen ist.     Im Folgenden möchte ich zusätzlich mit ein paar Bemerkungen auf den Beitrag von Brügelmann/Heymann eingehen.    Sie verweisen auf ältere Untersuchungen, die ebenfalls schon einen schlechten Zustand des deutschen Schulsystems konstatierten und zeigen sich erstaunt über die aktuelle Aufregung nach TIMMS und PISA. Ist es nicht so, dass auch damals schon heftig reagiert wurde? Zumindest wurden nicht unbedeutende Reformen in Gang gesetzt. Die Einführung der Gesamtschule und von Orientierungsstufen brachte gravierende institutionelle Veränderungen. Aber auch didaktisch hat sich, zumindest vom Anspruch her, sehr viel gegenüber früher verändert. Ich erinnere nur an vehemente Grundschulreformen wie Mengenlehre, analytische Leselehrmethoden, kompensatorische Erziehung, Einführung von Förderunterricht, verbaler Beurteilung, später Spracherfahrungsansatz und freies Schreiben, der Einzug des Computers in die Grundschule.  Zu Recht weisen Sie darauf hin, dass das Beharrungsvermögen des Bildungsapparates einen Großteil dieser Bemühungen an sich abprallen ließ.  Kann es aber nicht auch sein, dass manche dieser reformerischen Schnellschüsse in Erwartung wundersamer Wirkung allzu unkritisch umgesetzt wurden? Das Beispiel Mathematikunterricht mit seiner radikalen Ausrichtung auf Strukturen des Faches in den 70er-Jahren zeigt, dass Reform nicht per se positive Wirkungen hervorbringt.      Und kann es nicht ebenfalls sein, dass mit der schnellen Abfolge von immer neuen Heilsversprechungen und pädagogischer Innovationen eine große Beliebigkeit in die Schulen eingekehrt ist? So schön und zwingend notwendig pädagogische Freiheit ist, so darf sie nicht dazu führen, dass jeder Lehrer tun und lassen kann, was er für richtig hält.     Neben sachkundigem, engagiertem, hervorragendem Unterricht, der kompetent die Erkenntnisse der Wissenschaft aufgreift, kann man allerorten naives Jüngertum gegenüber immer neuen Heilsversprechern ebenso beobachten wie das Verharren auf vorgestrigen Konzepten.  Fehlt hier nicht ein Maßstab? Vielleicht rührt die Aufregung über PISA daher, dass man das Nicht-oder Schlecht-Funktionieren von Schule, trotz aller Reformbestrebungen, sehr wohl gespürt hat, es aber über die Jahre einfach nicht wahrhaben wollte, und jetzt plötzlich der rosaroten Brille beraubt wurde. Würde jeder Lehrer oder jede Schule sich regelmäßig darüber vergewissern, ob die eigene Tätigkeit sinnvoll und erfolgreich ist, dann gäbe es womöglich weniger Grund zum Lamento. Die Diskussion über Mindestlernziele und Leistungsevaluierung in den letzten Jahren hat nicht ohne Grund stattgefunden. Die Reaktionen auf die PISA-Studie mit der Tendenz, nur die eigene Meinung bestätigt zu sehen, lassen nicht Gutes für die Zeit nach der Veröffentlichung des Bundesländervergleichs erwarten. - Die Gesamtschulleute verweisen auf die Nordländer, ohne zuzugeben, dass die deutsche Gesamtschule die schlechtesten Ergebnisse überhaupt erbringt und mit einer schwedischen rein überhaupt nichts zu tun hat. - Die Bayern verweisen schon vor  Veröffentlichung des Bundesländervergleichs auf die Überlegenheit ihres Systems, ohne zuzugeben, dass Bayern eine im Vergleich geringe Zahl an Abiturienten aufweist.  - Die Reformer des Grundschulverbandes verweisen beispielsweise auf  den problemlösenden und damit erfolgreichen Mathematikunterricht in Japan und Korea, ohne zuzugeben, dass dem eine beinahe drillartige Beherrschung der Rechenfertigkeiten vorausgeht.  - Die Ablehner einer Leistungsevaluierung verweisen darauf, dass in vielen der führenden Länder, viele Jahre keine Noten erteilt werden, ohne zuzugeben, dass Leistungserhebung und Notengebung überhaupt nichts miteinander zu tun haben müssen und dass Evaluierung in vielen erfolgreichen Ländern eine sehr große Rolle spielt. Statt sich in Deutschland auch in Zukunft mit gegenseitigen Vorwürfen lahmzulegen und den schwarzen Peter immer nur beim jeweils anderen zu suchen, sollte man sich die erfolgreichen Modelle gründlichst ansehen, deren Bedingungen berücksichtigen und dann daran gehen, die erforderlichen Umgestaltungsprozesse behutsam in Gang zu setzen. Neue Schnellschüsse und Patentrezepte werden wieder erfolglos bleiben. Ein paar einfache Dinge könnte man aber relativ schnell ändern. Vielleicht tragen sie ja schon zu einer deutlichen Verbesserung bei.    Gäbe es für die wichtigsten Fächer und alle Schuljahre Mindestziele und außerdem darauf zugeschnittene standardisierte Tests, so dass jeder Lehrer sich selbst prüfen könnte, wo er mit seiner Arbeit steht, dann würde ein Faktor für die Misere entfallen: Das sich selbst in die Tasche lügen. Gäbe es an jeder Schule wenigstens einmal im Jahr eine externe Evaluierung durch neutrale Gutachter mit anschließender gemeinsamer Beratung, dann könnten sich im Laufe der Zeit Modelle erfolgreichen Unterrichts herausschälen und bei entsprechendem Coaching und Vorgehen im Team auch transportieren.     Zum Schluss noch ein paar kurze Notizen zu Einzelheiten des Beitrags von Brügelmann/Heymann: Unter Punkt 2 heben Sie als wichtigen Befund starke Überlappungen in den Verteilungen hervor. Sehr gute HauptschülerInnen könnten mit dem Durchschnitt der GymnasiastInnen mithalten. Kann das nicht damit zusammenhängen, dass die Hauptschule in unterschiedlichen Bundesländern völlig verschieden gestaltet ist? In Bayern geht immer noch der größte Teil der Sek-I-Schüler in diese Schule. In Berlin dagegen ist dies nur noch eine Minderheit. Bei den Gymnasiasten ist dies genau andersherum. So liegt nahe, dass bayerische Hauptschüler gegenüber manchen Berliner Gymnasiasten die Nase vorn haben dürften. Damit ist über die Qualität des Unterrichts noch nicht viel ausgesagt. Unter 3.3 zeigen Sie auf, dass in manchen Ländern das memorierende Lernen besondere Erfolge bringt, generell aber die SchülerInnen besser abschneiden, die sich Inhalte eigenständig erarbeiten und durchdenken. Sie stellen die Frage, ob nicht vielleicht dieselbe Methode in unterschiedlichen Kulturen und Unterrichtssystemen unterschiedlich wirkt. Nun frage ich, welche Methode halten Sie denn für unsere Kultur für angemessen und gleichzeitig erfolgreich? Über diese Frage wird, wie in der Vergangenheit, in den nächsten Jahren ein harter ideologischer Streit ausgetragen werden. Unser Förderalismus wird einer Überwindung dieser unsinnigen Grabenkämpfe leider nicht dienlich sein. Eher ist das Gegenteil zu befürchten. Insofern kann der Blick auf die Zeit nach PISA nicht optimistisch ausfallen.    Mit freundlichen Grüßen Wilfried Metze
Der Autor ist 1947 in Oberfranken geboren und dort auch aufgewachsen. Seit 1972 ist er Grundschullehrer in Berlin Reinickendorf. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Seine Schwerpunktarbeit im Primarbereich hat sich in zahlreichen Veröffentlichungen niedergeschlagen. Wilfried Metze ist langjähriges Mitglied der DGLS. Hier seine Stellungnahme zu wesentlichen Aspekten der PISA-Studie - wobei er kritische Fragen an Hans Brügelmann richtet. Wir stellen Wilfried Metzes Brief zur Diskussion.    Wenn Sie dem Autor antworten wollen: wilfriedmetze@nexgo.de

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