Sprache gebrauchen – Bausteine eines produktiven Deutschunterrichts – von Ulrich Hecker

„Produktiver Deutschunterricht“ - daran knüpfen sich Erwartungen an eine andere, neue Qualität von Unterricht. Die Tendenz ist in der Fachdidaktik der letzten Jahre bis in die Lehrpläne hinein vorzufinden: Es werden Wege gesucht (und benannt) hin zu einem Verständnis und einer Praxis von Deutschunterricht, die sich an den Lernenden, an Methoden sowie an produktiven Verfahren und Prozessen ausrichten.

Die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und individuellen Erfahrungen und Bedürfnisse sind dabei nicht mehr ein (möglichst "einzuebnender") Störfaktor, sondern Voraussetzung, Herausforderung und produktiver Impuls für das, was "produktiver Deutschunterricht" soll und will:

Kindern und Jugendlichen  zahlreiche  Gelegenheiten schaffen, in denen sie auf vielfältige Weise lernen können. Daraus entwickeln sich schließlich, Schritt für Schritt, veränderte Lernprozesse: Selbständigkeit, Ganzheitlichkeit, Kooperation. (Deutsch-)Unterricht soll Raum gehen für die Individualität der Schülerinnen und Schüler und sich für ihre Begabungen, Interessen, Bedürfnisse und Schwierigkeiten öffnen. Schülerinnen sind nicht mehr Konsumenten, sondern handeln selbst und verantwortlich und verstehen, warum und was sie lernen.

"Sprachgebrauch" (mündlich und - vor allem - schriftlich) hieß das Kernstück des Faches Deutsch in älteren Lehrplänen. Damit war zumeist eher die vom Lehrer ausgehende Hinführung zum "richtigen" Sprachgebrauch gemeint als die selbständige, eigensinnige und produktive Aneignung von Sprache durch Gebrauch.

Genau darauf aber zielt "produktiver Deutschunterricht": Auf das Lernen (von Sprache) durch Gebrauch (anwenden, ausprobieren, benutzen) und Brauchen (weil Sprache notwendig und nützlich ist, aber auch vergnüglich und spannend).

Mit "produktiven" und "kreativen" Verfahren, wie sie in Fachdidaktik und Lehrplänen in den letzten Jahren zunehmend gefordert werden, reagiert Deutschunterricht auf die veränderten Bedingungen von Kindheit und Jugend.

Produktiver Deutschunterricht ist der Versuch, "mit anderen Formen des Lehrens und Lernens veränderte Subjektivität, Personwerdung und Aneignung von Welt zu erreichen - unter Achtung des Eigen-Sinns dieser Entwicklung und dieser Subjekte." (Kunkel 1989)

Dem liegt eine veränderte Haltung den Kindern und Jugendlichen gegenüber zugrunde: "Den Kindern das Wort geben" forderte Célestin Freinet, und er meinte damit, ihnen Sprache und Schrift als Mittel persönlichen Ausdrucks (wieder) zu geben. Das bedeutet auch, sie als (sich entwickelnde) Persönlichkeiten an- und ernst zu nehmen. Es soll um "Sprache" gehen. Und wie könnte das gelingen, wenn nicht das, was Schülerinnen bewegt, "zur Sprache kommt" bzw. gebracht wird?

Dem liegt eine veränderte Haltung den Kindern und Jugendlichen gegenüber zugrunde: "Den Kindern das Wort geben" forderte Célestin Freinet, und er meinte damit, ihnen Sprache und Schrift als Mittel persönlichen Ausdrucks (wieder) zu geben. Das bedeutet auch, sie als (sich entwickelnde) Persönlichkeiten an- und ernst zu nehmen. Es soll um "Sprache" gehen. Und wie könnte das gelingen, wenn nicht das, was Schülerinnen bewegt, "zur Sprache kommt" bzw. gebracht wird?

Produktiver Deutschunterricht beinhaltet selbstverständlich lehrerorientierte Unterrichtsabschnitte, in denen neue Inhalte eingeführt, bereits Erarbeitetes wiederholt oder Teilergebnisse zusammengeführt werden. Sie sind ein notwendiges "prozessbegleitendes Element": Inseln in vielfältigen, möglichst selbständigen Lern- und Arbeitsprozessen von einzelnen oder Gruppen.

Haupt-Sache aber ist: Die von den Lehrplänen genannten "Teilbereiche" des Deutschunterrichts müssen als "Tätigkeits-Wörter" gelesen, begriffen, angewendet werden: Sprechen, schreiben, lesen, mit Texten umgehen, über Sprache nachdenken.

Mit Célestin Freinet ließe sich zugespitzt sagen: " Unsere  natürlichen Methoden beruhen auf genau denselben Prinzipien, nach denen seit Menschengedenken Kinder sprechen und laufen gelernt haben. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass dazu Regeln, aufgaben und Unterricht notwendig seien. (...) indem man spricht, lernt man zu sprechen; indem man schreibt, lernt man zu schreiben."

Phantasie, Kreativität und soziales Lernen verlangen die neuen Richtlinien und Lehrpläne. Bei all diesen positiven Absichten und Formulierungen ist jedem, der Deutsch so unterrichten will, klar: Zeit und Raum dafür müssen mühsam  freigeschaufelt,  Langsamkeit und Intensität entdeckt werden.

Es ist ein pädagogischer Un- oder gar Irrsinn, all das, was der Lehrplan will, z.B. in drei Wochenstunden Deutsch in Klasse 9 des Gymnasiums erreichen zu sollen. Hier - und nicht nur hier - "beißen sich" gutgemeinte Lehrplaninhalte und Schulalltag.

Wir müssen Schülerinnen und Schülern Zeit lassen, ihren Gedanken und Vorstellungen nachzugehen, das Lernen für sich ebenso zu lernen wie die Zusammenarbeit mit anderen.

Und so werden sich Lehrerinnen und Lehrer weiterhin - immerhin mit den Lehrplänen als Verbündeten - an der Realität stoßen und sie verändern müssen. "Wo mein Wille ist" (und möglichst KollegInnen), "da gibt es Wege!"

Sprechen

  • Klassenversammlung, Plenum;
  • selbst organisierte Gruppenarbeit;
  • Vorträge, Diskussionen;
  • Vorstellen von Arbeitsergebnissen;
  • (freies) darstellendes Spiel

Sprechen ist soziales Handeln. Produktiver Deutschunterricht zielt auf die Entfaltung "demokratischen Sprechens" (Horst Bartnitzky).

Das entwickelt sich durch Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Mitbestimmung in Unterricht und Schulleben. Solche Möglichkeiten können Kindern schon in der ersten Klasse geschaffen werden, in der Sekundarstufe müssen sie weiterhin den Umgang miteinander und die Verkehrsformen im Unterricht bestimmen.

"Demokratisches Sprechen"

  • "… kann realisiert werden, z.B. bei freien Gesprächen, die zu festen Einrichtungen des Schulalltags werden sollten,
  • bei Vereinbarungen zum Schul- und Klassenleben und zum Unterricht,
  • bei sozial-integrativen Konfliktlösungen,
  • beim Klassenrat und im Schülerparlament,
  • bei der Projektarbeit."

(H. Bartnitzky, in: Bartnitzky / Hecker (Hg.), Deutsch-Werkstatt, Essen 1991, S. 66 ff.)

Schreiben

- Klasse als "Schreib-Werkstatt":

Freie Texte; Klassentagebuch; Wandzeitungen; Korrespondenz; Klassenzeitung; Schreibmaschine/Computer/ Druckerei; Redaktion und Umbruch

- Sinnvolle Schreib-Arbeiten:

Eigene Texte "zur Sache"; eigene Dokumentationen ("Lern-Hefte" bzw. Bücher"); Gestalten der Schülerarbeiten; Klassenbibliothek; Schüler-Bücher

Wenn Schreiben wirklich eigenes, und nicht "entfremdetes" Schreiben sein soll, dann heißt Produktiver Deutschunterricht, Kindern und Jugendlichen Raum und Zeit für "Freie Texte" (Célestin Freinet) zu geben. Die Schulklasse (oder Lerngruppe) als "Schreib-Werkstatt", das bedeutet nichts anderes als einen Ort, wo Texte geschrieben, anderen vorgestellt, diskutiert, überarbeitet und womöglich veröffentlicht werden.

Wichtig ist, dass Lehrerinnen und Lehrer sich gemeinsam mit ihren Schülern in einen Schreib-, Redaktions- und Veröffentlichungsprozess begeben, und dass ein Gespräch über Texte (und ihre Absichten und Aus-Wirkungen) in Gang kommt. Das erforderliche "Handwerkszeug" wird im "Produktionsprozess" erworben, also nicht vorausgesetzt oder von der "Fachkraft" mit roter Tinte übergestülpt.

"Manche Schülerin bzw. manchen Schüler mag es überraschen, welche Wirkung eine "grammatische" Verschiebeprobe in einem Gedicht hervorruft, wie störend oder verstärkend Wiederholungen eines Wortes beim lauten Lesen wirken, welche Bilder in den Köpfen der anderen zu einem so schlichten Wort wie "Baum" entstehen."

(Dietlinde H. Heeckt, Schreibwerkstatt, in: Praxis Schule 5-10, …)

Schreiben in Art einer Werkstatt zu lernen, das geht auch bei Texten "zur Sache":

Im Rahmen von (mehr oder weniger offenen) Themenvorgaben, die sich auf den Unterrichtsprozess beziehen bzw. aus ihm hervorgehen, können Schülerinnen und Schüler ganz eigene Texte schreiben.

Dazu gehört, dass sie ihre Arbeiten selbständig gestalten können; sie illustrieren oder mit Illustrationen versehen, die (Über-)Schrift(en) gestalten und weitere grafische Gestaltungselemente benutzen, dass sie Freiheit haben beim Umfang des Textes, bei der Wahl der Textsorte usw.

Das Prinzip der Schreib-Werkstatt gilt für "Freie Texte" und für "Schreibaufgaben":

  • Schülerinnen und Schüler schreiben Freie Texte in eine eigene "Kladde" oder ein "Tagebuch";
  • sie stellen Texte daraus vor und entscheiden mit darüber, welche Texte in welcher Weise veröffentlicht werden können;
  • sie schreiben zu Ereignissen des Klassen- oder Schullebens in ein "Klassentagebuch";
  • sie stellen zu Ereignissen des Klassenlebens (z.B. Klassenfahrt) oder zu Themen des Unterrichts Dokumentationen oder Klassenzeitungen her;
  • sie führen eine Korrespondenz mit einer anderen Klasse aus einem anderen Ort, vielleicht sogar in einem anderen Land;
  • sie schreiben angefangene Texte weiter, schreiben zu Bildern, Fotos und Musik, zu oder entlang von literarischen Vorlagen oder Vorbildern.

Eine wichtige Methode des kooperativen Schreibprozesses in der Klasse sind "Schreibkonferenzen", wie sie Gudrun Spitta für die Grundschule angeregt hat, "Textkonferenzen" nennt sie Valentin Merkelbach für die Sekundarstufe.

(Gudrun Spitta, Schreibkonferenzen in Klasse 3 und 4, Cornelsen/Scriptor Verlag, Berlin 1993; Dietlinde H. Heckt, Schreibwerkstatt, in: Praxis Schule 5-10, Heft 1/1996, S. 26 ff.; Valentin Merkelbach, Die Schönheit von Schülertexten wahrnehmen, in: ebenda, S. 20 ff.)

"Schreibkonferenz"

Die Arbeit wird so organisiert, dass ein Schüler/eine Schülerin zwei Mitschüler/innen zu einer "Konferenz" einlädt, in der der Text vorgelesen, besprochen und schließlich Satz für Satz durchgesehen wird. Die Autorin/der Autor macht sich Notizen, die er für die Überarbeitung seines Textes nutzen kann. In solchen "Schreibkonferenzen" lernen Schülerinnen und Schüler, ihre eigenen Texte distanziert zu betrachten und sie nach "eigenen literarisch-ästhetischen, inhaltlichen und normativen Ansprüchen" (G. Spitta) zu überarbeiten. Dabei entsteht allmählich eine reflektive Haltung gegenüber dem eigenen Text, der zur inhaltlichen und formalen Weiterentwicklung der schriftsprachlichen Kompetenz führt. Die "Fremdrevision" durch Lehrerinnen und Lehrer kann weit in den Hintergrund treten, die Entwicklung der Schreibkompetenz bleibt an die Schreibmotivation gebunden.

Kinder (und Jugendliche) lernen Schreiben und Lesen und entfalten diese Fähigkeiten, wenn sie einen persönlichen Bezug zur Schriftsprache finden und entwickeln können. Sie nutzen Schrift, um ihrer Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen. Schreiben und Lesen als persönliche Erfahrung und als Prozess der sozialen Kommunikation entwickeln sich nur fort, wenn vielfältige Erprobungs- und Anwendungsfelder und Formen sprachlichen Handelns zur Verfügung stehen. Durch Veröffentlichung erhalten Texte sozialen Wert und Bedeutung für die Gruppe.

"Rechtschreiben":  richtig schreiben!

- Rechtschreibgespräche

- Rechtschreibkartei, individuelle Übungen, Rechtschreibaufträge;

- klasseneigene Rechtschreibübungen/-kartei, klasseneigener Rechtschreib­Übungswortschatz;

- Arbeit an eigenen Texten und an Veröffentlichungen

Massive Kritik am herkömmlichen Rechtschreibunterricht ist nicht neu. Auffällig ist, dass diese Kritik nur schwer Eingang in die Praxis des Deutschunterrichts gefunden hat. Die Stellung des Diktats z.B. ist - trotz gegenteiliger Absichten der neuen Lehrpläne - noch nahezu unangefochten:

"Trotz dieser Versagensbilanz ist das Diktat … weiterhin das hauptsächliche Lern- und Kontrollverfahren im Rechtschreibunterricht. Dabei ist die mangelnde Effektivität der bevorzugten Arbeit mit Diktaten auch aus sachlogischen Gründen längst erwiesen:

  • Sprachlich gesehen stellt das Schreiben nach Diktat eine stark verarmte Handlungsweise dar, die der Komplexität der Anforderungen von realen Schreibsituationen nicht gerecht wird (Reduzieren von Schreiben auf Umkodieren, Vernachlässigen von Situationen, Inhalt, Absicht, Adressat und verbalen Planungsstrategien)
  • Didaktisch gesehen führt die gängige Diktatpraxis zur Vernachlässigung wesentlicher Aspekte beim Aufbau von Rechtschreibsicherheit (Entwicklung von Fehlervermeidungsstrategien, Fehlersensibilität, Selbstkontrollstrategien; Wörterbuchbenutzung; Differenzierungsproblem; Häufigkeitswortschatz)
  • Lernpsychologisch gesehen stellt das Diktat eine besonders ungünstige Lern- und Kontrollform dar (Misserfolgsorientierung; normbezogene Beurteilungsverfahren, die implizieren, dass immer ein Teil der Schüler scheitert; Lernblockierungen durch Angst, Stress)"

(Gudrun Spitta u.a., Rechtschreibunterricht, Westermann, Braunschweig 1977, S. 203)

"Werkzeuge" zum Rechtschreiblernen

Lern- und Übungsmaterial im Klassenraum

  • Lernkarteien/Arbeitshefte zu Rechtschreibung und Grammatik;
  • Wörterbücher/Duden;
  • Möglichkeiten zur Selbstkontrolle/ "Fortschrittsliste"
  • Wörterbuch von Klasse 2 bis 10;
  • Regelsammlung: Heft, Ringbuch, Kartei, Poster im Klassenraum
  • Übungswortschatz (themenbezogen und/oder nach individuellen Übungsschwerpunkten); Heft, Ringbuch, Kartei
  • individuelle Rechtschreibaufträge zu den jeweiligen Fehlerschwerpunkten

Übungsformen

  • Selbstdiktate (Dosen-, Lauf-, Hör-, Wendediktate);
  • Partnerdiktate (Schreiber und "Diktierer" sind für "Null Fehler" verantwortlich);
  • Wortlisten (themenbezogen/Wortfelder; -sammlungen und/oder zur individuellen Fehlerbearbeitung;

Texte (gemeinsam) überarbeiten

  • sinnvolle, produktions- und produktorientierte Zusammenhänge;
  • Schreibkonferenzen

Beim "Rechtschreiben" geht es nicht um "Üben an sich", sondern um selbstverantwortliches, selbsttätiges und sinnvolles Schreiben "für mich" ("… denn was es hier zu lernen gibt, kommt meinem Schreiben und damit mir zugute").

Also nicht mehr "Konsonantenverdoppelung ", "Schärfung", "Dehnung" oder "dass/das" im Gleichschritt, sondern "Individualisierung": Individuelle "Fehleranalyse", Arbeit an eigenen Fehlerschwerpunkten und "selbstverantwortliches Schreiben" für den einzelnen. Arbeit und Übung an einem "Rechtschreib-Übungswortschatz" oder "Grundwortschatz" im Rahmen der Klasse/Lerngruppe. In der neueren Fachdidaktik hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Ausgangspunkt und Zentrum des Rechtschreibunterrichts die orthographischen Probleme der Schüler sein müssen: "Rechtschreibenlernen" wurde vom Kopf wieder auf die Füße gestellt. Denn eigentlich ist die Orthographie nichts anderes als ein Werkzeug, ein Hilfsmittel für das Schreiben eigener Texte. Der Kern des Rechtschreibenlernens liegt also beim Überarbeiten ("Verbessern") eigener Texte, selbständig oder gemeinsam mit anderen. Rechtschreibung erhält ihren Sinn nur aus und für das je eigene Schreiben.

Lesen und mit Texten umgehen

  • Gelegenheiten, Zeiträume und Orte zum "freien Lesen" in Schule und Unterricht;
  • Bücher ins räumliche und gedankliche "Umfeld" der SchülerInnen bringen
  • Texte werden von LeserInnen in andere Medien, Situationen, Aussageformen "übersetzt";
  • Texte werden variiert, ergänzt, gekürzt, hinterfragt, verfremdet;
  • Texten wird zugestimmt und widersprochen;
  • aktiver, handelnder, produktiver Zugang zu und Umgang mit Texten

"Nur für die Minderjährigen unter unseren Mitbürgern hat das Recht auf freie Lektüre keine Geltung. Sie, die ohnehin täglich in Betonbunkern gefangengehalten werden, welche das Gemeinwesen eigens zu diesem Zweck errichtet hat, zwingt man fortgesetzt, Gedichte zu lesen, und was noch viel entsetzlicher ist, zu interpretieren. Gedichte, an denen sie in den meisten Fällen keinerlei Interesse bekundet haben."

Was Hans Magnus Enzensberger vor Jahren über den schulischen Umgang mit Lyrik schrieb, gilt für schulische Lektüre überhaupt. Das didaktische Dogma "Du mußt lesen!" ist kontraproduktiv beim Vorhaben, zum Lesen zu verlocken. Wie also kann ein Unterricht mit und über Literatur aussehen, der nicht zwangsläufig im "Interpretationsgespräch" endet, der ursprüngliche Literaturinteressen oft zerstört und die langsameren und schwächeren Schüler meist zurückläßt und entmutigt?

Da gilt es zunächst Kinder und Jugendliche (als heranwachsende Persönlichkeiten, nicht in ihrer Rolle als Schülerin und Schüler) mit Literatur zusammenzubringen. Und was ich jetzt schreibe, ist oft geschrieben, aber offensichtlich keineswegs selbstverständlich: Bücher müssen in die räumliche Nähe der Kinder gebracht werden, ständigen Raum und feste Orte bekommen. Nur so kann es gelingen, das "Lesen "mit positiven Gefühlen der Zuneigung und Geborgenheit" zu besetzen, wie Malte Dahrendorf formulierte. Also nicht zuerst Didaktik, sondern eine Stetigkeit der Anreize und Angebote:

"Für die Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur (wie der Literatur überhaupt, U.H.) bleibt diese offene, empfehlende, appellative, übrigens auch (Erwachsenen-)Wertungen hintanstellende Art der Vermittlung die gesamte Pflichtschulzeit hindurch bedeutsam - etwa in Anlesestunden, bei gegenseitigen Lieblingsbuchvorstellungen, Autorenlesungen, Ausstellungen, Kinderbuchwochen etc." (Malte Dahrendorf)

Freie Lesezeiten und offene Buch-Angebote sind Kernstücke eines produktiven Deutschunterrichts. Schülerinnen und Schüler werden eher mit Büchern umgehen wollen, wenn sie bei der Auswahl mitsprechen können. Gerade die Literatur bietet (und erfordert) von sich aus unerschöpfliche Möglichkeiten des individuellen Zugangs, unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade und einer großen Vielfalt unterschiedlicher Leseerfahrungen.

In der Klasse kann mit geringem Aufwand ein Forum für gegenseitige Buchvorstellungen und -empfehlungen entstehen. Schüler erzählen und berichten von ihren Lieblingsbüchern; sie schreiben "Waschzettel" für die Klassenbücherei auf Karteikarten, Buchbesprechungen für die Klassen- oder Schulzeitung; sie lernen, ausgewählte Texte vorzutragen; sie gestalten Plakate für Wandzeitungen oder Infowände in Klasse oder Schulgebäude. Ein "Klima für Bücher" ist eine wesentliche Gestaltungsaufgabe für das, was wir "Schulprogramm" nennen.

Lesetagebuch

Eine gute Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler zur bewussten Lektüre, zur eigenständigen Auseinandersetzung mit literarischen Texten und zur selbständigen Arbeit am Text hinzuführen, produktiven und kreativen Umgang mit Texten zu fördern, ist das "Lesetagebuch". In eigene "Lesetagebücher" schreiben, zeichnen, gestalten Schüler ihre Eindrücke, Gedanken und Entdeckungen bei der Lektüre." Formal gesehen ist das Lesetagebuch ein einfaches Schulheft im DIN-A5-Format, das jeder Schüler einer Lerngruppe, begleitend zur Buchlektüre, führt und in das er fortlaufend seine persönlichen Leseeindrücke notiert oder auch zeichnet. … Außerdem kann das Lesetagebuch von den Schülern als Grundlage für Diskussionen, weiterführende Gruppenarbeit oder sonstige Arbeiten, die geeignet sind, das Textverständnis zu vertiefen, verwendet werden."

(Liselotte Langemack, Das Lesetagebuch, in: "Pädagogik", Heft 3/89, Beltz Verlag, Weinheim 1989)

In den vergangenen Jahren hat sich das Augenmerk der Fachdidaktik stark auf die produktiven Verfahren im Literaturunterricht gerichtet: Nicht mehr analytische Verfahren mit denselben Texten und Aufgabenstellungen für alle Schüler sollen den Unterricht dominieren. Ein "handelnder Umgang" mit Texten in offenen, produktionsorientierten Unterrichtsformen macht subjektive, emotionale und imaginative Zugänge zu Texten möglich. Literarische Texte werden dann nicht mehr nur gelesen, interpretiert und analysiert, sondern sind erst einmal das, was sie sein wollen: Geschichten, Gedichte, Texte für Leser! Dann bieten sie Anlässe, Leseerfahrungen auszutauschen, auszudrücken und auch selbst zu schreiben.

"Im Nachahmen, Weiterschreiben, Umschreiben, Verfremden, Antizipieren eignen sich Schüler Möglichkeiten literarischer Gestaltung an und nutzen sie für den Ausdruck ihrer eigenen Vorstellungen, Gefühle und Gedanken." (Kaspar Spinner)

Damit wird die Trennung zwischen Autor und Leser produktiv genutzt, die so oft lähmende Trennung von "Schul-Lektüre" und den Bedürfnissen und Interessen der Schülerinnen und Schüler überbrückt. Lesen und Schreiben werden miteinander verknüpft, unterschiedliche Zugangsweisen, Ausdrucksformen und Möglichkeiten der Schüler werden berücksichtigt und kommen zum Tragen.

Damit ein Bild entstehen kann - hier einige der Techniken in Stichworten:

  • aus Texten Comics machen
  • zu Texten Bilder malen/zeichnen
  • Texte zu Plakaten verarbeiten
  • "Zeitreise": Inhalte in andere Zeiten übertragen
  • kurze Texte (Zitate, Sprüche) aus Streichholzschachteln schreiben und ausstellen oder verkaufen
  • Texte in Jugendsprache/Fremdsprache übersetzen
  • Moritat zu einem Text erfinden
  • mit Texten Kalender herstellen
  • Hörspiel auf Kassette aufnehmen
  • Texte drucken
  • Theaterstücke schreiben und spielen.

Diese vielfältigen Arbeits- und Aktionsformen, mit denen (auch gemeinsame) Lektüre verbunden ist, münden in eine Gesamtschau dieser vielfältigen "Interpretationen".

Vielfältige Anregungen für LehrerInnen und SchülerInnen zum handelnden Umgang mit Literatur und zur Gestaltung offener, produktionsorientierter Lern- und Arbeitsprozesse bieten Literaturkarteien. Es lohnt sich, das Angebot von Verlagen dahingehend kritisch zu durchforsten. Immer gilt: Ein selbst verfasstes Lesetagebuch oder "Bücher-Blatt" ist allemal besser als das Ausfüllen "didaktischer Formulare", von denen der Markt leider übervoll ist.

Nachdenken über Sprache

  • situationsorientiert (ausgehend von aktuellen, natürlichen Anlässen, integriert in den unterrichtlichen Zusammenhang);
  • entdeckend (z.B. durch Sprach-Forscheraufträge")
  • spielorientiert (z.B. mit Sprachspielen. Schreibspielen);

Das "Grammatikproblem" im Deutschunterricht scheint nach wie vor praktisch ungelöst. Nach unserer eigenen unterrichtlichen Erfahrung verstehen wir unter "Grammatik" vor allem das, was wir auf dem Gymnasium für das Gymnasium gelernt haben:

Wortartbestimmung, Satzgliedgrammatik usw.

Der ursprüngliche Begriff von Grammatik ist aber viel umfassender (und sinnvoller, weil nützlich): "Grammatik" ist hergeleitet vom griechischen Wort für "schreiben" (graphein) und gramma für "Geschriebenes, Buchstabe, Schrift".

Grammatiké techné ist die "Kunst des Schreibens".

Diese ursprüngliche, eigentliche Bestimmung von Grammatik unterstreicht das, was mit dem Begriff "Reflexion über Sprache" in den neueren Lehrplänen des Faches gemeint ist. Nach wie vor aber wird dieser Lernbereich in der Unterrichtspraxis zum "Grammatikunterricht" verdünnt:

"Gemeint ist damit die Vermittlung einer Beschreibungssprache für das Sprachsystem vorzugsweise auf den Gebieten Wortbestimmungen und Satzanalyse. Als Restbestand aus der didaktischen Konjunktur der Kommunikationstheorien eventuell noch ergänzend ein einfacheres Kommunikationsmodell …

Das Ergebnis sind sporadische Pflichtübungen mit abschließendem "Grammatiktest". Doch wem ist damit gedient, außer einer fragwürdigen Tradition?" (Horst Bartnitzky, Reflexion über Sprache, in: Bartnitzky/Hecker (Hg.), Deutsch-Werkstatt, Verlag Neue Deutsche Schule, Essen 1991, S. 265)

Der Begriff "Reflexion über Sprache" ist seit über zwanzig Jahren in der fachdidaktischen Diskussion verankert und meint das Nachdenken über Sprachgebrauch und Sprachsystem in der Absicht,

  • Sprache bewusster, sicherer und zweckmäßiger gebrauchen zu können,
  • Kommunikation bewusster und sicherer mitgestalten zu können,
  • sprachliche Formen und Sachverhalte beschreiben zu können - als Hilfe beim Rechtschreiben, bei der Verbesserung und der Analyse von Texten.

"Über weite Strecken ist Reflexion über Sprache integriert in den übrigen Deutschunterricht. Dies gilt besonders für die Reflexion über sprachliches Handeln.

… Ergänzt werden muss die Integration aber durch kursartige didaktische Schleifen, um Erkanntes zu systematisieren und einzuüben." (Horst Bartnitzky, a.a.0., S. 268)

Arbeitstechniken

Phasen freier Arbeit sind ein wesentlicher "Lernort des Lernens". In solchen offenen Phasen werden Arbeitstechniken nicht isoliert gelehrt bzw. "vermittelt", sondern unmittelbar durch Gebrauch erworben und gelernt. Unbestritten gibt es immer wieder Notwendigkeiten, Arbeitstechniken und -methoden zum gemeinsamen Thema zu machen, an manchen Stellen wird sogar ein kleinschrittiges Einüben oder Demonstrieren bestimmter Techniken erforderlich sein. Insgesamt aber bietet die freie Arbeit eine Fülle von "natürlichen" Gelegenheiten, in denen Schülerinnen und Schüler vielfältige Arbeitstechniken erproben, anwenden und üben können und sie damit als nützliche Werkzeuge zur Bewältigung von Lebenssituationen erfahren können.

Vorhaben

"Projekte", nur im Rahmen des Deutschunterrichts oder fächerübergreifend, leben von selbst bestimmten Zielen, selbstständiger Zeiteinteilung und Aufgabenstellung sowie eigenen Ausdrucksformen. "Produktiv" ist ein Deutschunterricht, "in dem wir etwas vorhaben": Aus kleinen Produkten, die im Unterricht entstehen, können leicht größere Produktions- und Veröffentlichungsvorhaben werden.

Schülerinnen und Schüler verhalten sich nicht mehr vorwiegend rezeptiv, sondern werden initiativ, aktiv und (schul-) öffentlich. "Kulturelle Werkstattarbeit" und Veröffentlichung ihrer Produkte sollen Kindern und Jugendlichen vielfältige Möglichkeiten zum eigenständigen Ausdruck und zur eigenständigen Gestaltung und Darstellung ihrer Gedanken, Erfahrungen, Gefühle und Phantasien geben. So kann Realität werden, was Célestin Freinet mit seinem Ansatz des "Freien Ausdrucks" meinte:

Ziel ist dabei die Erfahrung des Heranwachsenden, dass er selbst Dinge mitzuteilen hat, die andere interessieren können, und dass er zu seiner eigenen Sache und zu den Sachen des Unterrichts selbst etwas zu sagen und beizutragen hat. Dies bewirkt eine Aufwertung und Ermutigung seiner Persönlichkeit und eine Steigerung seiner Motivation für die Arbeits- und Lernprozesse in der Schule. Wenn Kindern und Jugendlichen im (Deutsch-) Unterricht "das Wort gegeben" wird, erfahren sie Sprache und Schrift als nützliche Werkzeuge und Mittel ihres eigenen Werdens und für ihr eigenes Leben, kommen sie selbst "zur Sprache".

Ulrich Hecker ist Grund- und Hauptschullehrer, er leitet eine Grundschule in Moers am Niederrhein (@ www.regenbogenschule.de). Ulrich Hecker ist Mitglied im Vorstand der DGLS. Tätigkeit in der Lehrerfortbildung in den Themenfeldern "Offener Unterricht / Freie Arbeit", "Sprache im Anfangsunterricht", "Freies Schreiben", "Neue Formen der Leistungsbewertung".

Sein Text erschien 1997 in der "Deutschen Lehrerzeitung" und in der "neuen deutschen schule", der Zeitschrift der GEW in NRW.

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