Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechtschreiben Gutachten für die Kultusministerkonferenz von Dipl.Päd. Ingrid M. Naegele, Institut für Lernförderung, Frankfurt/M.

Diese Stellungnahme orientiert sich am “Fragenkatalog LRS”  der Arbeitsgruppe der KMK.

Die Fragen werden vor allem unter dem Gesichtspunkt der langjährigen praktischen Arbeit mit Kindern mit massiven Lernproblemen (LRS und Rechenschwierigkeiten) in Schule und Therapie beantwortet. In den neuesten Fassungen der beiden Bänden des Handbuchs “LRS – Legasthenie- in den Klassen 1-10” ( Naegele/Valtin (Hg.) 2001/2002) werden die einzelnen Aspekte ausführlich dargestellt.

Allgemeine Stellungnahme zur Erforschung der LRS:

In der schulischen und außerschulischen Arbeit zur Behebung von massiven Lernproblemen (LRS und Rechenstörungen) hat sich der kognitiv-entwicklungspsychologische Ansatz der Theorie der kognitiven Klarheit (Downing /Valtin 1984, Valtin 2001, Scheerer-Neumann 2001) sehr erfolgreich erwiesen. In acht Jahren eigener schulischer Förderarbeit ( Naegele u.a. 1981, 1983, 2001a, 2001c) konnten durch diesen Ansatz, dessen zentrales Anliegen der Einbezug individueller Stärken und Schwächen ist, alle Kinder zumindest ausreichende Rechtschreibleistungen in ihrer Klasse erzielen und ihre Lesefähigkeit verbessern, wenn das Förderangebot regelmäßig angenommen wurde. LehrerInnen, die regelmäßig an Fortbildung zu Grundlagen des Schriftspracherwerbs und seiner Hürden teilgenommen haben, berichten über ähnliche Erfolge.

  1. (Renate Valtin)

Es gibt bislang keine einheitliche Definition für Probleme beim Lesen- und Rechtschreibenlernen. Je nach wissenschaftlichem Standort und  professionellem Interesse werden unterschiedliche Bezeichnungen gewählt.

Wer sich in Bezug auf die Ursachenerklärung stärker auf Defekte bzw. Eigenschaften des Kindes bezieht, wählt Bezeichnungen wie Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Legasthenie, wer mehr die dynamische Wechselwirkung von personalen und Umweltbedingungen betont, spricht von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten.

Ist eine begriffliche Unterscheidung möglich, sinnvoll oder gar notwendig?

Ich beziehe mich dabei auf die Unterscheidung von Legasthenie und Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS).

Das Konstrukt Legasthenie betrachtet Lese-Rechtschreib-Störungen als krankhafte Eigenschaft eines intelligenten Kindes, das eine Diskrepanz zwischen guter Intelligenz und schwachen Lese-Rechtschreibleistungen aufweist. Das Kind – so wird behauptet - habe irgendwelche Defekte (sei es genetisch oder dispositionell, z. B. Wahrnehmungsstörungen).

Die Kritik:

- Dieses Konstrukt ist theoretisch nicht sinnvoll, denn es beinhaltet die Annahme, die Intelligenz sei ein wesentlicher Faktor für den Erfolg im Lesen/Schreibenlernen und deshalb sei Legasthenie eine erwartungswidrige Störung.

Die Korrelationen zwischen IQ und Leistungen in Lese- und Rechtschreibtests liegen jedoch nur in mittlerer Höhe, d.h. Diskrepanzen zwischen dem IQ und den Leistungen im Lesen und Rechtschreiben sind also erwartungsgemäß und keinesfalls krankhaft.

- Dieses Konstrukt ist methodisch nicht sinnvoll, denn bei der Feststellung einer Diskrepanz zwischen IQ und Leistungen im Lese- und im Rechtschreibtest gehen die Messfehlerschwankungen ein und führen zu unzuverlässigen Resultaten. Je nach Verwendung unterschiedlicher Intelligenztests werden zudem unterschiedliche Kinder als Legastheniker diagnostiziert (Valtin 1981).

Dieses Konstrukt ist diagnostisch nicht sinnvoll, denn die so definierten Legastheniker unterscheiden sich weder in ihren Schwierigkeiten im Lesen und der Rechtschreibung (Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995), noch in anderen Funktionsbereichen (Valtin 1981, Marx/Weber/Schneider 2001) von anderen Kindern mit LRS, bei denen keine Diskrepanz mit der Intelligenz vorliegt. So sind zum Beispiel Reversionen nicht typisch.

· Das Konstrukt Legasthenie ist wissenschaftlich nicht haltbar, da alle damit verbundenen Annahmen (Linksfaktor, Raumlagelabilität, legastheniespezifische Fehler und visuelle Wahrnehmungsmängel) falsifiziert worden sind.

- Dieses Konstrukt ist therapeutisch nicht brauchbar, denn die so definierten Legastheniker brauchen keine anderen Therapiemaßnahmen als andere Kinder mit LRS. Der Therapie-Erfolg ist auch nicht von der Intelligenz der Kinder abhängig. (zuletzt Weber/Marx/Schneider 2001). Dieses Ergebnis spricht für die Empfehlungen der KMK, alle Kindern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten unabhängig von ihrem Intelligenzniveau zu fördern.

- Dieses Konstrukt kann sogar therapeutisch schädlich sein, weil falsche Fördermaßnahmen ergriffen werden, denn es verhindert, dass Legastheniker Therapien erhalten, die gezielt am Versagen im Lesen und Schreiben ansetzen. Eine Auswertung anamnestischer Daten von Kindern, die im Institut für Lernförderung in Frankfurt vorgestellt wurden, zeigt, dass betroffene Kinder manchmal über Jahre hinweg eine Folge diverser Therapien (Ergotherapie, Augentraining, Funktionstrainings, NLP, Kinesiologie, sogar Psychoanalyse) hinter sich hatten - und dies ohne jeglichen Erfolg für ihre Lese- oder (Recht)-Schreibkompetenz, da nämlich die entscheidende Förderung im Bereich der Schriftsprache selbst unterblieb.

Auch der Förderunterricht in der Grundschule, der sich am klassischen Legastheniekonzept orientiert, zeigt  wenig Effektivität. Klicpera und Gasteiger-Klicpera (1995) haben bei Wiener Legasthenikern, die ein bzw. zwei Jahre lang einen Legasthenikerförderkurs besuchten (eine Stunde pro Woche Unterricht außerhalb des Klassenverbandes), keinerlei Leistungszuwachs beobachten können. Gründe seien der erhebliche Anteil an Funktionsübungen; häufiges lautes Lesen, vor allem von einzelnen Wörtern, wobei das Textverständnis wenig berücksichtigt wird; in der Rechtschreibung Übungen zur Vermeidung von Reversionen, also von Fehlerschwerpunkten, die gar keine große Rolle spielen.

Welche Ursachenannahmen liegen der jeweiligen Definition zugrunde?

Dem Konstrukt Legasthenie liegt die Annahme zugrunde, das Kind könne aufgrund einer krankhaften Eigenschaft des Kindes nicht lesen und schreiben lernen. Vor allem Mediziner verweisen auf “Teilleistungsstörungen”. Die Annahme, dass Funktions- oder Teilleistungsschwächen wesentlich zur Legasthenie beitragen, ist jedoch empirisch widerlegt. Unter den Legasthenikern gibt es nur einen ganz geringen Prozentsatz von Kindern, die überhaupt derartige Defizite aufweisen (Valtin 1974, 1981; Klicpera/ Gasteiger-Klicpera 1995). Hingegen gibt es viele Kinder mit “Teilleistungsschwächen", die keinerlei Probleme beim Schriftspracherwerb haben (Schenk-Danziger 1991). Nicht überraschend sind deshalb die fehlende therapeutischen Erfolge von Programmen im visuellen oder visuomotorischen Bereich (Scheerer-Neumann 1979). Dies gilt auch für auditive Trainings mit Hilfe des Brainboy nach Warnke (Klicpera/ Gasteiger-Klicpera 1995).

Die Theorien der Teilleistungsstörungen beruhen auf dem Gedanken, das es beim Lesen- und Rechtschreibenlernen vor allem um Wahrnehmungsleistungen handele. Tatsächlich geht es beim Schriftspracherwerb um eine Denkentwicklung und den Erwerb von Einsichten in den Zusammenhang von gesprochener und geschriebener Sprache (s.u)

Das pädagogisch-psychologische Konzept von LRS:

Die Theorie der kognitiven Klarheit

Die Theorie der kognitiven Klarheit besagt: Beim Schriftspracherwerb müssen die Lernenden zu einer kognitiven Klarheit in Bezug auf Funktion und Aufbau der Schrift gelangen. Ferner brauchen sie metakognitives Wissen in Bezug auf geeignete Lern- und Übungsstrategien sowie effektive Arbeitstechniken.

Durch zahlreiche Studien wissen wir, wie komplex und schwierig die Voraussetzungen und Lernleistungen sind, die Kinder beim Erwerb des Lesens und Schreibens sich aneignen müssen, z. B. die Vergegenständlichung von Sprache, das Wortkonzept, die Phonemanalyse und Kenntnis der Phonem-Graphem-Zuordnungsregeln. Dabei handelt es sich um Einsichten und Kenntnisse, die von Kindern nicht schlagartig von heute auf morgen und auch nicht kontinuierlich erworben werden. Alle Kinder haben hier Schwierigkeiten und durchlaufen charakteristische Stufen.

Generell sind die Probleme der LRS-Kinder dadurch zu charakterisieren, dass sie sich länger auf den unteren Ebenen des Schriftsprachmodells mit den entsprechenden Fehlerschwerpunkten aufhalten, zum Beispiel bei der ”Schreibe, wie du sprichst”- Strategie.

SchülerInnen mit LRS ähneln mit ihren Leistungen im Lesen und (Recht-)schreiben Kindern auf unteren Ebenen der Schriftentwicklung. Offenbar benötigen sie längere Zeit als normal lernende Kinder, um die unteren Entwicklungsstufen zu verlassen. Dies kann unterschiedliche Gründe haben, wobei ein Wechselspiel zwischen individuellen, häuslichen und schulischen Faktoren zu berücksichtigen ist. Langsam lernende Kinder laufen Gefahr, im Unterricht hinterherzuhinken, weil sie aufgrund ihrer Lernvoraussetzungen das größere Wortschatzangebot und die immer schwieriger werdenden Wörter nicht mehr bewältigen können. Dadurch stellen sich beim Kind Misserfolgserlebnisse sowie Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls und der Gesamtpersön­lichkeit ein, was in schwerwiegenden Fällen zu dem bekannten Teufelskreis führt.

Definitionen in anderen Industrienationen

In den skandinavischen Staaten (z. B. Schweden) wird darauf verwiesen, dass es in allen Fähigkeitsbereichen Personen mit unterdurchschnittlichen und extrem schwachen Leistungen gibt. Leseversagen gilt insofern als “normales” Phänomen, nicht aber als Krankheit.

Auch die International Reading Association hält eine Differenzierung von “dyslexia” und anderen Arten von Problemen beim Lese-Rechtschreiblernen nicht für sinnvoll. Dennoch gibt es immer wieder einzelne Personen, die von sich reklamieren, sie hätten das “Spezifische” der Dyslexie entdeckt. Da es jedoch keinen Konsens über die Spezifitäten gibt, gibt es keine einheitliche Definition.

Empfehlung: Beibehaltung der beschreibenden Definition der KMK-Grundsätze und Einbezug des Schreibens, wie  in der Hessischen Verordnung und Richtlinie vom 15.12.95 bereits vorgegeben: “Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und  Rechtschreiben.

Neben den Eltern verfügen nur die unterrichtenden LehrerInnen über differenzierte Einsichten in die Lernprozesse eines Kindes und seine psychischen Reaktionen, wenn diese erwartungswidrig problematisch verlaufen. Statt mit normierten Tests sollten LehrerInnen die Arbeiten der Kinder regelmäßig förderdiagnostisch mit einem der vorliegenden Entwicklungsmodelle der schriftsprachlichen Entwicklung vergleichen (Valtin 2001, Scheerer-Neumann 2001), um daraus Hinweise für die Förderung zu gewinnen. Grundvoraussetzung für diese Arbeit ist jedoch eine intensive Qualifizierung der LehrerInnen, damit sie die Lese- und Schreibversuche der Kinder prozessbegleitend beobachten, interpretieren und durch differenzierte Angebote weiter entwickeln können. Dazu sind veränderte Rahmenbedingungen unerlässlich wie  kleinere Anfangsklassen, stundenweise Doppelbesetzung im Unterricht, Einsatz didaktisch sinnvoller Materialien- ganz abgesehen von mehr Unterrichtszeit. Die LehrerInen müssten jedoch neben sprachwissenschaftlichen und didaktischen auch über psychologische Kenntnisse verfügen.

Empfehlung: Es wäre sinnvoll, wenn von der ersten Klasse an freies Schreiben verpflichtender Bestandteil des Deutschunterrichts wäre, da nur dies den wahre Stand des Kindes im Schreiberwerbsprozess zeigt, nicht aber die gängigen vorgeübten Diktate. Der Entwicklungsstand in der Leseentwicklung erfordert, dass LehrerInnen mehr Zeit für das einzelne Kind zur Verfügung steht (Doppelbesetzung, mehr Unterrichtszeit).

Lesen und Schreiben zu lehren sowie Kindern bei Schwierigkeiten zu helfen, setzt besondere Kompetenzen der unterrichtenden LehrerInnen voraus. Dieser wird derzeit nicht in ausreichendem Maße und verbindlich in der Lehrerausbildung vermittelt.

Vor allem die GrundschullehrerInnen müssten sich verpflichtend aus- und kontinuierlich weiterbilden in Fragen des Schriftspracherwerbs und seiner Komplexität. Der derzeitige Wissensstand der LehrerInnen ist in der Regel laienhaft. Der Verweis, dafür nicht ausgebildet zu sein, rechtfertigt nicht, Eltern und außerschulischen Instanzen die Verantwortung für das Lesen- und Schreibenlernen zu übertragen, gleichzeitig aber im Unterricht zu sanktionieren in Form von Ausgrenzung und Benotung.

Besondere Bestimmungen bei der Leistungsbeurteilung  und Leistungsfeststellung sollten den SchülerInnen mit einem gravierenden Rückstand in der schriftsprachlichen Entwicklung – bezogen auf die Klasse- helfen, dem Lesen und Schreiben nicht auszuweichen, sondern durch differenzierte Leistungsanforderungen zumindest ausreichende Ergebnisse zu erzielen.

Der Notenschutz, den die Hessische Verordnung für LRS- SchülerInnen für die Problembereiche Lese, Schreiben und / oder Rechtschreiben in Deutsch und ggf. in den Fremdsprachen vorsieht, hat sich als ein Teil dieser Maßnahmen in der Praxis sehr bewährt. Er ist jedoch nur sinnvoll, wenn gleichzeitig pädagogisch sinnvolle, die individuellen Stärken und Schwächen des Kindes berücksichtigende Hilfsangebote gemacht und durchgeführt werden. Ohne geeignete tägliche, kleine Übungen wird sich der Rückstand in der schriftsprachlichen Entwicklung nicht verringern lassen. Eine Kopplung an außerschulische Diagnose- oder Fördermaßnahmen sollte unzulässig sein, wird jedoch z.Bsp .in Frankfurt von mehreren Schulen praktiziert. Einige Lehrer machen die Anerkennung der LRS davon abhängig, ob ein Kind tägliche Zusatzleistungen erbringt (z.B. eine DIN-A 4 Seite abschreiben, was in vielen Fällen eine sinnlose Quälerei darstellt) (Naegele 2001d).

Empfehlung: Ein Notenschutz sollte gewährt werden, bis sich die Rechtschreibung ausreichend stabilisiert und das Kind die altersgemäße Lesefähigkeit erreicht hat. Je früher differenziert gefördert wird und der wahre Stand des Kindes nicht durch sinnlose auswendig gelernte Diktate verdeckt wird, um so rascher kann ein Kind eine normale Lese- und Schreibentwicklung erreichen. Ein Nachteilsausgleich kann auch durch differenzierte Fragestellungen und Arbeitsumfang oder Zeitzuschlag erreicht werden.

Förderung muss vom ersten Schultag an Bestandteil der schulischen Arbeit sein. Es muss sicher gestellt sein, dass nur vorher gründlich aus- und weitergebildete LehrerInnen in Anfangsklassen unterrichten. Da die Prävention Vorrang vor späteren Therapien haben sollte, müssen die Klassengrößen in der Grundschule reduziert und stundenweise Doppelbesetzung etabliert werden. Nur so kann die LehrerIn die Entwicklung ihrer SchülerInnen beobachten und gezielt fördern. Jede Schule sollte mindestens eine kontinuierlich in Fragen der LRS oder RS weitergebildete Lehrkraft als KoordinatorIn haben.

Auch bei bestem Unterricht wird es einzelne SchülerInnen geben, deren komplexe Lern- und Verhaltensauffälligkeiten nicht mit schulischen Maßnahmen zu beheben sein werden. Kinder, die unter einem so gravierenden Rückstand in der schriftsprachlichen oder mathematischen Entwicklung ( bezogen auf die Klasse) leiden, dass sie in der Folge psychosomatische Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, benötigen integrative psycho- und lerntherapeutische Einzelhilfe, die die Schule in der Regel nicht leisten kann. Mit Hilfe des FIT- Konzepts (Naegele 2001c) haben in den letzten 15 Jahren viele Kinder und Jugendliche ihre LRS und RS überwinden gelernt und erfolgreich den jeweils gewählten Schulweg weitergehen können bzw. diesen inzwischen beendet. Löffler/ Meyer-Scheepers (2001b) berichten über 400 Fälle erfolgreicher LRS-Therapien nach einem ähnlichen Therapiekonzept (Löffler/ Meyer-Schepers/Nijland 2001a).  In vielen Fällen hat unser Beratungskonzept geholfen, dass für das Kind außerschulische Maßnahmen nicht notwendig werden.

Empfehlung: Schulische Fördermaßnahmen ( Binnendifferenzierung oder Förderkurse) müssen die individuellen Lernstrategien der Kinder ernstnehmen und ihre jeweiligen Stärken einbeziehen. Die psychischen Auswirkungen von Lernproblemen auf das Selbstwertgefühl des Kindes müssen berücksichtigt werden ( Rathenow/ Vöge 1982, Naegele 2001d).

Die in den KMK-Grundsätzen sowie der Hessischen Verordnung und Richtlinie angegebenen Passagen zur Information und Zusammenarbeit mit Eltern haben sich als sinnvoll und richtig erwiesen . Was fehlt, ist die konkrete Umsetzung in der Schule, vor allem eine fachliche Beratung.

Aus langjähriger Erfahrung muss ich die Klagen von Eltern leider  bestätigen, dass viele LehrerInnen offen die Auffassung vertreten, dass sie Deutsch zwar unterrichten, jedoch weder den kindlichen Schriftspracherwerb studiert noch sich darin weitergebildet haben, ganz zu schweigen von LRS. Viele LehrerInnen kennen weder die in ihrem Bundesland gültige Rechtslage, noch die zu Grunde liegenden theoretischen Annahmen. Sie verweisen Eltern daher an außerschulische Institutionen, in der Hoffnung, dass diese ihnen mit Hilfe von Tests die rechtlichen Grundlagen zur Anwendung der Verordnung geben- eine, wie ich meine, rechtswidrige Maßnahme. Gleichzeitig koppeln sie häufig die Entlastungen in der Notengebung an den Nachweis privat finanzierter außerschulischer Förderung, ohne jedoch in der Lage zu sein, deren Qualität zu überprüfen. Außerdem ist zu kritisieren, dass fehlende Kompetenz von DeutschlehrerInnen dazu führt, dass sie von Kindern mit LRS zusätzliche Leistungen fordern, die meist methodisch-didaktisch problematisch sind.

Auf Grund der exemplarisch beschriebenen schulischen Missstände ist es nicht verwunderlich, dass Eltern sich bei anderen Fachleuten Rat und Hilfe suchen, die ihnen eher den Eindruck von Kompetenz vermitteln, in der Regel jedoch keinerlei Ausbildung und Fachwissen über die schriftsprachlichen Grundlagen und deren Problematik besitzen. Ihr medizinisches Teilleistungsstörungs- oder Wahrnehmungs-Erklärungsmodell ist für Eltern – und Laienlehrer- in zweifacher Weise entlastend. Zum einem sind sie dann nicht am Entstehen des Lernproblems beteiligt oder somit verantwortlich. Zweitens können dann über die Krankenkassen oder das KJHG außerschulische Hilfsmaßnahmen beantragt und finanziert werden,  obwohl Evaluationen der Teilleistungstherapieansätze bisher keine positiven Ergebnisse vorweisen können ( zuletzt Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995).

Empfehlung: Aufklärung der Eltern über die Komplexität der schriftsprachlichen Entwicklung, vor allem in den ersten Schuljahren und der “normalen” Schwierigkeiten dabei. Angebot sinnvoller, kurzer Förderangebote (Naegele 2001a).

7. Schule und Jugendhilfe

Die derzeit geforderte kinderpsychiatrische Anamnese als Voraussetzung für Maßnahmen des KJHGs bei LRS geht am Kern der kindlichen Lernschwierigkeiten vorbei, da sie von einer medizinischen, längst falsifizierten Annahme über das Vorhandensein einer Teilleistungsschwäche Legasthenie ausgeht (Valtin 1974). Das gleiche gilt für das darauf fußende Wahrnehmung- oder Funktionsstraining oder die medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka, um “gesunde” Reaktionen von überforderten Kindern zu unterdrücken. Die Kooperation zwischen Jugendamt und Schule ist im Prinzip richtig. Ein Berichts der Klassen-/Deutschlehrerin sollte differenziert Auskunft geben über die bisher erfolgten Maßnahmen und die Notwendigkeit außerschulischer Maßnahmen begründen. Es kommt jedoch vor, dass LehrerInnen auf Grund privater Theorien Kindern diese Unterstützung verweigern, weil sie das Kind für faul oder lernunwillig halten. In solchen Fällen sollten andere Fachgutachten von Beratungsstellen angefordert werden, die eine pädagogisch- psychologische Beurteilung des Kindes mit seinem individuellen Stand im Lernprozess vornehmen.

Generell gilt: Die Qualität außerschulischer Förderarbeit ist ebenso schwer zu sichern wie die des schulischen Unterrichts.

Empfehlung: Außerschulische integrative psycho- undlerntherapeutische Maßnahmen sind für Kinder mit massiven Lern- und Verhaltensauffälligkeiten dringend notwendig. Ihre Finanzierung muss über das KJHG geregelt sein, da nur wenige Eltern die Kosten für eine dann notwendige Einzeltherapie bezahlen können. Grundsätzlich sollten jedoch keine Maßnahmen zum Abbau von LRS finanziert werden, die nicht den Lerngegenstand Schriftsprache im Zentrum ihres Angebots haben. Das bedeutet, dass reine Wahrnehmungstrainings, kineseologische oder Ergotherapien, isolierte Psychotherapien oder medizinische Behandlungen im Zusammenhang mit LRS entfallen müssten. Außerdem sollte auf eine zeitliche Begrenzung geachtet werden, damit das Kind nicht therapieabhängig bleibt, sondern befähigt wird, selbstständig seinen Weg zu gehen. Sinnvoll erscheint die regelmäßige halbjährliche Überprüfung der außerschulischen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem KJHG in Form von Hilfeplangesprächen mit allen Betroffenen.

Bekannt ist die große Streuung der für den Schriftspracherwerb notwendigen Voraussetzungen ( Rathenow/Vöge 1982, Löffler/Meyer-Schepers 2001b), vor allem im Bereich der phonologischen Bewusstheit.

Der Kindergarten muss wieder verstärkt alle Kinder in Spiel-, Gesprächs- und Bewegungssituationen fördern. Bei den meisten Kindern, die wegen LRS oder Rechenstörungen vorgestellt werden, fiel den Eltern ein Rückstand in der sprachlichen oder motorischen Entwicklung bereits im Kindergartenalter auf oder er wurde von den KinderärztInnen bei den Untersuchungen übersehen. Die Kinder konnten im Kindergarten einer Förderung in den Problembereichen sie wurde nicht angeboten. Erfolgreicher als isolierte Trainingsprogramme der phonologischen Bewusstheit (Schneider u.a.1999) haben sich freie Spiel-, Lied-, Reim- und Bewegungsangebote bewährt, wie sie z.B. im Modellversuch EULE für multinationale Anfangsklassen zur Verbesserung der kommunikativen Kompetenz entwickelt wurden (Naegele /Haarmann 1993).

Voraussetzung für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb sind bessere schulische Rahmenbedingungen (mehr Unterrichtszeit, differenzierte Materialien und Unterrichtsformen, stundenweise Doppelbesetzung, gut fachwissenschaftlich- und didaktisch ausgebildete LehrerInnen). Ungeeignet ist eine Vorverlegung des Schuleintrittsalters, wenn nicht gleichzeitig damit eine Änderung der Unterrichtsinhalte einher geht.

Es liegen vielfältige Erkenntnisse vor, dass sich der Erstunterricht stärker an dem individuellen Entwicklungsstand des Kindes orientieren muss und nicht das Kind an die Vorstellung der Lehrperson (Hess. Rahmenplan für die Grundschule 1996).

9. Lehr- und Lernmittel

Die auf dem Markt befindlichen Lehr- und Arbeitsmittel sind voll an verwirrenden Übungsformen und falscher Didaktik (Naegele/ Valtin 1994, Hübner 2001).

Ein sachgerechter Kriterienkatalog für die Bewilligung von schulischen Lehr- und Lernmitteln erscheint dringend notwendig.

Besonders das sog. Fördermaterial verwirrt mehr als dass es Kinder mit LRS in ihren Erwerbsprozessen fördert. Hier gibt es einen dringenden Nachholbedarf. Neben einer differenzierten Leseförderung, die am Interesse des einzelnen Kindes ansetzt, erscheint das freie Schreiben, die Arbeit mit eigenen Karteien und Wortlisten am geeignetsten zur Schreibförderung.

Empfehlung: Schulischer Einsatz der Fördervorschläge in der vorliegenden methodisch- didaktisch sinnvollen Literatur  ( z.B. Augst/Dehn 1998, Brügelmann/ Brinkmann 1998, Naegele/ Valtin 1994, 1997 /2001/ 2002, Valtin 2000)

*   Ich danke Renate Valtin, Berlin  für den Abschnitt “1.Definition” und Klaus R. Zimmermann für die kritische Durchsicht.

Literatur

Augst, G./ Dehn, M.:

Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht. Stuttgart 1998

Brügelmann, H./ Brinkmann, E.:

Die Schrift erfinden – Beobachtungshilfen und methodische Ideen für einen offenen Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben. Lengwil 1998

Dehn, M. u.a.:

Elementare Schriftkultur. Schwierige Lernentwicklung und Unterrichtskonzept. Weinheim 1996

Downing,J./ Valtin,R.:

Language Awareness and learning to read. New York 1984

Hübner,L.:

Kontraproduktive Übungen. In: Akademie für Lehrerfortbildung: Lese- Rechtschreibschwierigkeiten. Diagnose- Förderung- Materialien. Donauwörth 2001, 2. erweit. Auflage

Klicpera,C. /Gasteiger-Klicpera, B.:

Psychologie er Lese- und Schreibschwierigkeiten – Entwicklung, Ursachen, Förderung. Weinheim 1995

Löffler,I./Meyer-Schepers/ Nijland,E.:

Das LautAnalytische RechtschreibSystem (LARS). In: Naegele/ Valtin LRS Band 2, 2001a

Löffler,I./Meyer-Schepers:

“Da wächst sich nichts aus!” - Eine statistische Erhebung bei Kindern mit Lese-/Rechtschreibstörungen. Manuskript eines Vortrags 2001b

Marx,P. / Weber, J.M. / Schneider, W.:

Legasthenie versus allgemeine Lese-Rechtschreibschwäche. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 15 (2), 2001, S.85-98

Naegele/Haarmann/Rathenow/Warwel (Hg.):

Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Orientierungen und Hilfen für die Arbeit mit Grundschülern. Weinheim 1981

Naegele/ Portmann (Hg.):

Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten in der Sekundarstufe I.: Weinheim 1983

Naegele,I.M./ Haarmann,D. (Hg.):

Darf ich mitspielen? Kinder verständigen sich in vielen Sprachen. Weinheim 1993, 4. Aufl.

Naegele,I.M.:

Schulschwierigkeiten in Lesen, Rechtschreibung und Rechnen. Ein Elternhandbuch. Weinheim 2001a

Naegele,I.M.:

Lese- Rechtschreibschwierigkeiten, LRS,Legasthenie... Was Lehrerinnen und Lehrer wissen sollten. In: Praxis Deutsch 166, 3/2001b

Naegele,I.M.:

FIT – das Frankfurter Integrative Therapiemodell. In: Naegele/Valtin: LRS –Band 2, 2001c

Naegele, I.M./ R.Vohs:

Konkrete Hilfe statt Kritik und unbrauchbare Ratschläge. In: Pädagogik. 1/2001d

Naegele,I.M./ Valtin,R. (Hg.):

Rechtschreibunterricht in den Klassen 1-10. Frankfurt 1994, 3. Aufl.

Naegele,I.M./ Valtin,R.(Hg.):

LRS- Legasthenie – in den Klassen 1-10. Band 1: Grundlagen und Grundsätze der Lese- Rechtschreib-Förderung. Weinheim 1997, ,6. neu bearb. Aufl. 2002 (im Text: LRS-Band 1)

Naegele,I.M./ Valtin,R.(Hg.):

LRS- Legasthenie – in den Klassen 1-10. Band 2: Schulische Förderung und außerschulische Therapien. Weinheim 2001, 2. überarb. Auflage (im Text: LRS-Band 2)

OECD:

PISA- Schülerleistungen im internationalen Vergleich. Berlin 2001

Rathenow,P. /Vöge,J.:

Erkennen und Fördern von Schülern mit Lese-/ Rechtschreibschwierigkeiten. Braunschweig 1982

Scheerer- Neumann,G.:

Intervention bei Lese-Rechtschreibschwäche. Bochum 1979

Scheerer- Neumann,G.:

Förderdiagnostik beim Lesenlernen. In: Naegele/Valtin(Hg.): LRS – Band 2, 2001

Schenk-Danzinger, L.:

Legasthenie. München 1991

Valtin,R.:

Legasthenie – Theorien und Untersuchungen. Weinheim 1974

Valtin,R.:

Von der klassischen Legasthenie zu LRS – notwendige Klarstellungen. In: Naegele/Valtin: LRS 2, 2001

Valtin,R. u.a.:

Legasthenie in Wissenschaft und Unterricht. Darmstadt 1981

Valtin,R. (Hg.):

Rechtschreiben lernen in den Klassen 1 – 6. Grundlagen und didaktische Hilfen. Grundschulverband Frankfurt 2000

Valtin,R.:

Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb. Hinweise und Hilfen zur Förderdiagnostik. In: Naegele/Valtin: LRS 2, 2001

Kommentare sind deaktiviert