Zum internationalen Bericht der OECD - von Hans Brügelmann und Hans Werner Heymann
Als die Ergebnisse der internationalen Studie CIVICS zur politischen Bildung veröffentlicht wurden (Händle u. a. 1999; Torney-Purta u. a. 2001), haben das selbst Fachleute kaum zur Kenntnis genommen obwohl die deutschen SchülerInnen wie bei TIMSS "nur" im Mittelfeld landeten. Seit einigen Wochen nun beherrscht PISA die öffentliche Diskussion über Schulen. Was macht diese Studie zu den Leistungen im Lesen, zur Mathematik und den Naturwissenschaften in 32 Ländern so viel interessanter?
1. Eine Vorgeschichte zu PISA 2000
Vor über 25 Jahren wurden die Ergebnisse der "First International Science Study" (kurz: FISS) von 1970/71 publiziert (Schultze 1974; vgl. auch Matthiesen 1974). Am Ende der Grundschulzeit lagen die deutschen SchülerInnen deutlich unter dem Durchschnitt der anderen Länder.
- Am Ende der Sekundarstufe II landeten die deutschen GymnasiastInnen unter 20 Ländern sogar auf dem vorletzten Platz obwohl sich in den Abschlussklassen nur 9% des Jahrgangs befanden (gegenüber 30-70% in den Vergleichsländern).
- Lediglich die Leistungen der 14-Jährigen in der achten Klasse lagen über dem internationalen Durchschnitt.
Noch einmal zehn Jahre vorher, nämlich schon 1964, hatte Georg Picht "Die deutsche Bildungskatastrophe" ausgerufen. Dieses Buch, aber auch die Kritik an der fehlenden Chancengleichheit für bestimmte Gruppen in der Bevölkerung hatte eine Fülle bildungspolitischer Aktivitäten ausgelöst. Die Reformvorschläge wurden vom Deutschen Bildungsrat 1969 eindrucksvoll gebündelt im "Strukturplan für das deutsche Bildungswesen". Er forderte u. a.
- anspruchsvollere Inhalte und Formen des Lernens für alle, u. a. durch eine generell stärkere Wissenschaftsorientierung des Unterrichts;
- die optimale Entfaltung von Entwicklungsmöglichkeiten durch eine bereits vor der Schule ansetzende Förderung von systematischem Lernen;
- die Realisierung des individuellen Bildungsrechts durch eine stärkere Differenzierung;
- einen Ausgleich von milieubedingten Nachteilen durch kompensatorische Maßnahmen der Schule (Chancengleichheit);
- eine vollständigere Ausschöpfung des Begabungspotentials zur Sicherung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit.
Dieser kurze Rückblick soll zwei grundlegenden Missverständnissen von PISA vorbeugen:
- Die bildungspolitische Aufregung seit der Publikation von TIMSS verkennt, dass die (unter-)durchschnittliche Position deutscher SchülerInnen nichts Neues ist. Dieser Hinweis ist wichtig, damit das schlechte Abschneiden deutscher SchülerInnen im aktuellen Vergleich verschiedener Länder nicht vorschnell als Leistungs"verfall" gegenüber früheren,, angeblich goldenen Zeiten umgedeutet wird, den man konkreten bildungspolitischen Maßnahmen der letzten Jahrzehnte anlasten könnte.
- Zweitens machen die aus heutiger Sicht fast identischen Reformforderungen von vor 30 Jahren und die offensichtlich bis heute nur geringe Wirkung der damals anschließenden Reformaktivitäten deutlich, wie langsam bzw. wie begrenzt bildungspolitische Maßnahmen den Alltag des Bildungswesens verändern. Aktuelle Betriebsamkeit verspricht wenig und eine bildungspolitische Hektik, wie sie die vergangenen Jahre kennzeichnet, wirkt eher kontraproduktiv. Tiefer gehende Reformen verlangen einen konzentrierten Einsatz von Ressourcen und einen langen Atem.
2. Was will und was sagt Pisa wirklich?
2.1. Untersuchungsziele
Durch Das Projekt PISA (Programme for International Student Assessment) sollen im wesentlichen ermittelt werden:
Basisindikatoren, die den politischen Entscheidungsträgern ein Grundprofil von Kenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen von Schülern im jeweiligen Land und in verschiedenen demographischen Untergruppen vermitteln,
damit zusammenhängende Indikatoren, die darüber informieren, in welchem Verhältnis die Fähigkeiten zu demographischen, sozialen, wirtschaftlichen und pädagogischen Variablen stehen,
Trendindikatoren, die sich aus der fortlaufenden zyklischen Art der Datensammlung (Wiederholung der Untersuchungen) ergeben,
Basisinformationen, die sich für die weitergehende politische Analyse eignen.
Das Gesamtprojekt gliedert sich in drei vierjährige Untersuchungszyklen, die sich überlappen und von 1998 bis 2007 reichen werden. Im ersten Zyklus (1998 2001) wurden bei SchülerInnen aus 32 Nationen hauptsächlich Lesekompetenz und daneben Mathematik und Naturwissenschaften getestet.
Darüber hinaus wurden erstmals bei einer großen Studie "Cross-Curricular-Competencies" (CCC), also fächerübergreifende Fähigkeiten und allgemeine Kompetenzen im Test erfasst.
In jedem Land sollten an 150 Schulen je 30 fünfzehnjährige SchülerInnen (also zusammen 4.500) getestet werden. Die Testzeit für die Schüler betrug 120 Minuten. Daneben wurde ein Schülerfragebogen zu den demographischen, sozio-ökonomischen und familiären Daten ausgefüllt werden, der auch Fragen zu den Unterrichtsmethoden, zur Zeit in der Schule und zur Selbsteinschätzung enthielt. Ein etwa 30minütiger Fragebogen für SchulleiterInnen sollte Daten zur Lage und den Rahmenbedingungen der Schule und des schulischen Lernens erfassen.
Darüber hinaus wurden auch Indikatoren zur Schulqualität erfasst und mit Leistungsvariablen verknüpft, um auf diese Weise zu ermitteln, ob und in welchem Ausmaß die pädagogische Gestaltung der Schulumwelt und der Lernkultur Auswirkungen nicht nur auf die Zufriedenheit mit der Schule, sondern auch auf die basalen Leistungsindikatoren hat.
In Deutschland wurde die PISA-Erhebung um eine Ergänzungsstudie PISA-E erweitert, um auch Vergleiche zwischen den Bundesländern durchführen und weitere Aspekte in die Auswertung einbeziehen zu können. Die Ergebnisse dieser wichtigen Zusatzstudie (mit einem expliziten Lehrplanbezug!) sind erst in einigen Monaten verfügbar.
2.2. Wichtige Befunde im Überblick
Für Deutschland sind die folgenden Befunde (OECD 2001b, zusammengefasst in Brügelmann 2001) besonders interessant:
- In der Lesekompetenz erreicht Deutschland mit 484 Punkten unter 32 Nationen nur Platz 22 (OECD-Mittelwert: 500 Punkte); Finnland liegt mit 546 Punkten auf Platz 1, Brasilien mit 396 auf Platz 32; S. 13).
- Schwächen zeigen sich insbesondere bei anspruchsvolleren Aufgaben, die ein inhaltliches Verständnis von Sachverhalten verlangen und die nicht durch die Reproduktion von angelerntem Wissen gelöst werden können. (KMK 2001b, S. 3).
- Mit fast 10% überdurchschnittlich stark ausgeprägt ist in Deutschland die Teilgruppe derjenigen unterhalb der niedrigsten Lesestufe (OECD-Durchschnitt 6%). Weitere 13 % befinden sich auf Kompetenzstufe 1. Das heißt: Knapp ein Viertel der SchülerInnen kann am Ende der achten Klasse nur mit Mühe lesen oder versteht Texte nur auf einem elementaren Niveau. (S. 15).
- In Deutschland ist der Abstand zwischen den schwächsten 5% und den 5% stärksten LeserInnen größer als in allen anderen Ländern. (S. 13).
- Dennoch gehören zur Spitzengruppe in Deutschland nur 9% der SchülerInnen gegenüber 15% und mehr in einigen anderen Ländern (OECD-Durchschnitt 9-10%; S. 15).
- 15-jährige SchülerInnen, die nicht gern lesen, sind in Deutschland (und Österreich) mit 42% besonders häufig (gegenüber z. B. 30% in Frankreich und 23% in Finnland; S. 16).
- Bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und vergleichbarer sozialer Herkunft zeigen SchülerInnen, die das Gymnasium besuchen, deutlich bessere Leistungen als diejenigen in der Hauptschule Hauptschule.(Klemm 2001)
- Die Leistungsunterschiede sind in keinem anderen Land so stark durch die soziale Herkunft bedingt wie in Deutschland(S. 39-40): Die Differenz zwischen SchülerInnen aus der oberen und der unteren Sozialschicht liegt bei 111 Punkten in Korea, Finnland und Japan nur bei 25-50 Punkten.(Baumert in: Rubner 2001). In anderen Ländern gleicht die Schule also soziale Benachteiligung wesentlich stärker aus als bei uns.
- Migrantenkinder schneiden schlechter ab als Muttersprachler(S. 38). Diese Differenz findet sich in allen Ländern, ist aber in Deutschland besonders hoch ausgeprägt. Es ist dabei zu bedenken, dass Migration und niedriger sozialer Status sich stark überlappen, so dass beide Faktoren für die Erklärung unterdurchschnittlicher Leistungen herangezogen werden können.
- Länder mit einem hohen Anteil abiturähnlicher Abschlüsse (50-70% in Finnland, Japan und Korea gegenüber 33% in Deutschland) erkaufen diese breite Bildungsbeteiligung nicht mit einer niedrigeren LeistungsniveauDurchschnittsleistung.(Klemm 2001)
- Im Mittelwert unterscheiden sich die Leistungen zwischen den verschiedenen Schulformen erheblich. Überraschen muss die dennoch starke Überlappung der Verteilungen: Sehr gute HauptschülerInnen können mit dem Durchschnitt der GymnasiastInnen mithalten. (S. 43).
- Von den 15-Jährigen haben in Deutschland fast 16% nur die achte Klasse erreicht, während es im OECD-Durchschnitt nur 5-weniger als 6% sind. (S. 41). Unter deutschen SchülerInnen ist der Anteil derjenigen, die am Schulanfang zurückgestellt und/oder während der Schulzeit nicht altersgemäß versetzt worden sind, mit 36% überdurchschnittlich hoch. (S. 47).
3. Was leistet PISA nicht?
3.1. PISA beinhaltet keinen historischen Leistungsvergleich
PISA will und kann nichts über Veränderungen der Leistungen von SchülerInnen über die Zeit hinweg aussagen.
Der Befund ist lediglich:
- Deutsche SchülerInnen schneiden schlechter ab als in vielen anderen Ländern.
- Sehr viele SchülerInnen werden grundlegenden Anforderungen nicht gerecht.
Dies muss Anlass zum Nachdenken sein. Aber die Befunde belegen nicht den verbreiteten Glauben, heutige SchülerInnen leisteten weniger als ihre Eltern und Großeltern vor 30 oder 50 Jahren. Erstens gibt es kaum nutzbare Daten aus diesen Zeiten, und soweit sie vorhanden sind, sprechen sie eher dafür, dass es früher noch schlechter aussah (vgl. Brügelmann 1999, 10 ff.).
3.2. PISA beweist keine Kausalzusammenhänge
Korrelationen zwischen zwei Variablen belegen noch keine kausale Abhängigkeit. Der PISA-Bericht weist immer wieder auf diese Grundtatsache hin. Dennoch werden die Ergebnisse häufig anders interpretiert von LeserInnen: Wenn beispielsweise Leseinteresse und Leseleistung korrelieren, heißt das nicht, dass eine höhere Leseleistung ein höheres Leseinteresse voraussetzt oder dass die Förderung des Leseinteresses von SchülerInnen deren Leseleistung steigern wird. So plausibel diese Deutung der Korrelation ist belegt ist nur, dass ein Zusammenhang besteht. Die Wirkungsrichtung dagegen ist offen. So könnten beide Variablen von einem Drittfaktor abhängen, z. B. der sozialen Schicht der Familie oder dem Ausmaß vorschulischen Vorlesens. Aufklärung könnte hier nur ein Längsschnitt bringen.
Ein konkretes Beispiel: Die Zugehörigkeit von SchülerInnen zu einer Privatschule korreliert mit höheren Leseleistungen, und dieser Vorsprung ist von allen Ländern in Deutschland am höchsten (OECD 2001e, 212). Daraus die Folgerung zu ziehen, man müsse in Deutschland alle Schulen privatisieren, wäre allerdings verfehlt. Denn SchülerInnen von Privatschulen zeichnen sich auch durch einen überdurchschnittlichen sozioökonomischen Status der Eltern aus und dieser korreliert seinerseits mit den schulischen Leistungen. Es muss also gar nicht eine besondere Qualität des Unterrichts in Privatschulen die Ursache für höhere Leistungen sein.
3.3. PISA erklärt nicht ohne Weiteres Unterschiede auf der SchülerInnen-Ebene
Die Leistungsvergleiche in PISA führen zu einer Rangfolge der beteiligten Länder. Diese kann man mit weiteren Unterschieden zwischen den Ländern korrelieren. So schneidet Korea insgesamt im Lesen besser ab als Deutschland. Gleichzeitig berichten Koreas SchülerInnen, dass sie häufiger beim Lernen memorieren als deutsche SchülerInnen (OECD 2001, 128). Der Kurzschluss: Deutsche SchülerInnen, die mehr memorieren, werden bessere Leistungen erzielen.
Man muss unterscheiden zwischen statistischen Beziehungen auf der System- und auf der SchülerInnen-Ebene. So zeigen die OECD-weiten Korrelationen innerhalb der Systeme, dass generell diejenigen SchülerInnen besser abschneiden, die sich Inhalte eigenständig erarbeiten und durchdenken. Das gilt übrigens auch innerhalb von Korea!
Wie ist dieser Widerspruch aufzuklären? Möglicherweise ist es wichtig, im Unterricht für den Anteil des Faktenlernens eine kritische Schwelle zu sichern. Um über diese Schwelle hinaus Erfolg zu haben, kann es aber wichtiger sein, das eigenständige Erarbeiten stärker zu gewichten.
Eine andere Erklärungsmöglichkeit: Vielleicht wirkt dieselbe Methode in verschiedenen Kulturen (bzw. verschiedenen Unterrichtssystemen) unterschiedlich.
3.4. PISA evaluiert nicht die Umsetzung von Lehrplan-Vorgaben
Die Aufgaben von PISA versuchen sich an Anforderungen des Alltags zu orientieren, nicht an Inhalten der Lehrpläne. Das ist ein bedeutsamer Unterschied zu TIMSS und könnte erklären, warum die mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen deutscher SchülerInnen bei TIMSS im Mittelfeld lagen und bei PISA (nur fünf Jahre später) deutlich darunter.
Unzureichende Leistungen bei PISA stellen also nicht nur die Frage nach der Umsetzung von Lehrplanvorgaben im Unterricht, sondern auch nach den Zielen und den inhaltlichen Schwerpunkten der Lehrpläne selbst.
4. Was kann man aus PISA lernen?
Fast alle KommentatorInnen lesen PISA pessimistisch. Dies liegt an ihrer eng auf Deutschland fokussierten Brille. Man kann PISA aber auch als Ermutigung lesen. Zentrale Befunde widersprechen scheinbaren "Gesetzen" der Bildungspolitik. Sie eröffnen damit neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten.
4.1. Schule kann die schichtspezifische Benachteiligung verringern
Eines der dramatischsten Ergebnisse von PISA ist, dass der sozio-ökonomische Hintergrund des Elternhauses die Leistungen der SchülerInnen in Deutschland stärker beeinflusst als in jedem anderen Land der OECD.
Damit bestätigt PISA deutsche Studien der letzten Jahre. Sie haben immer wieder gezeigt, dass die Bildungsexpansion (höhere Abschlüsse für mehr SchülerInnen) nicht zu einer Öffnung des Bildungswesens für Kinder und Jugendliche aus den unteren sozialen Schichten geführt hat. Gewinner waren die Frauen, vor allem aus den mittleren und höheren sozialen Schichten.
PISA hat verschiedene Indikatoren für den Anregungsgehalt des familiären Milieus erfasst. Danach scheinen sich in Deutschland die ökonomischen Bedingungen stärker auszuwirken als die konkreten Bildungserfahrungen in unterschiedlichen Milieus. Ob dies an Qualitäten des Wohngebiets und der Schule, ob es an anderen Leistungsansprüchen oder stärkerer Unterstützung in der Familie liegt, z. B. durch die Finanzierung von Nachhilfe, kann nach den vorliegenden Analysen (noch) nicht entschieden werden.
Die deutschen Befunde lassen sich in zwei Formeln bündeln:
- Der Schule gelingt es nicht, Unterschiede in den außerschulischen Erfahrungen der SchülerInnen auszugleichen.
- Bei gleichen kognitiven Voraussetzungen bzw. fachlichen Leistungen benachteiligt die Schule sogar SchülerInnen aus den unteren sozialen Schichten.
Die bedrückende Botschaft von PISA: In beiderlei Hinsicht wirkt die Benachteiligung in deutschen Schulen stärker als in anderen OECD-Ländern. Die ermutigende Nachricht aus anderen Ländern: Der starke Einfluss des familiären Hintergrunds ist kein Naturgesetz oder in der Sprache der 70er Jahre: schools can make a difference.
4.2. Schule kann Leistungsunterschiede verringern und zugleich ein hohes Durchschnittsniveau fördern
Die PISA-Ergebnisse zeigen, dass soziale Integration nicht auf Kosten fachlicher Leistung gehen muss, wie jahrelang in der deutschen Diskussion behauptet wurde. In Ländern wie z. B. Finnland, Kanada, Schweden und Japan werden sogar hohe Spitzenleistungen bei gleichzeitig geringen Unterschieden zwischen leistungsstarken und -schwachen SchülerInnen erreicht.
Vorsichtig formuliert: Integrative Systeme schneiden keinesfalls schlechter ab als selektive, die zu getrennten Schullaufbahnen führen. Außer einigen Schweizer Kantonen trennen nur noch Deutschland und Österreich die SchülerInnen nach 4 Schuljahren. Wie problematisch das ist, zeigt die große Überlappung der Leistungen in verschiedenen Schulformen, die auch in allen innerdeutschen Leistungsuntersuchungen der letzten Jahre gefunden wurden.
Allerdings schneiden Gesamtschulen deutschlandintern im Mittel schlechter ab als der Durchschnitt des dreigliedrigen Systems. Die äußere Schulstruktur allein sichert weder ein hohes Niveau noch eine geringe Streuung der Leistungen. Der äußere Kontext (Creaming der Leistungsstarken durch Gymnasien am selben Ort), die innere Organisation (Reproduktion der Dreigliedrigkeit innerhalb von Gesamtschulen durch starre Kurssysteme), die Philosophie des Unterrichts (Selektion vs. Förderung), vor allem aber Stil und Methodik des Unterrichtsalltags sind hoch bedeutsam (s. a. Fend 1998). So wird verständlich, warum fünf Reform-Gesamtschulen bei einer TIMSS-Nachuntersuchung in Hessen Leistungen zwischen Realschul- und Gymnasialniveau erzielten (Köller/Trautwein 2001).
4.3. Es geht auch ohne Zurückstellungen und ohne Sitzenbleiben
Deutschland hat OECD-weit den höchsten Anteil an SchülerInnen, die in einer für ihr Alter zu niedrigen Klassenstufe unterrichtet werden. Ein Grund für deren besonders schlechte Leistungen ist, dass sie sich mit den altersgemäßen Inhalten noch gar nicht auseinandersetzen konnten. Besonders bedrückend aber: Diese SchülerInnen erbringen auch in den (jetzt) niedrigeren Klassen keine durchschnittlichen LeistungenLeistungen. Die besseren Leistungen der meisten integrativen Systeme (s. 4.2) zeigen, dass ein Verbleiben im gemeinsamen Unterricht leistungsförderlicher ist. Dieser Befund bestätigt die Ergebnisse deutscher Integrationsstudien (z. B. zur Zurückstellung am Schulanfang, zur Überweisung in Sonderschulen): Bei gleichen Voraussetzungen entwickeln sich SchülerInnen besser, wenn sie in heterogenen Regelklassen bleiben, als wenn sie in gesonderten Fördereinrichtungen in homogen schwachen Gruppen unterrichtet werden.
4.4. Schule kann Migrantenkinder effektiver fördern
PädagogInnen in Deutschland haben in Abwehr von reinen Anpassungskonzepten gegen eine Dominanz des Deutsch- gegenüber dem Muttersprachunterricht gestritten Unterschätzt haben viele die andere Seite der Medaille: Erwerb und Beherrschung der deutschen Sprache als Voraussetzung einer erfolgreichen Teilhabe am System.
Hier haben andere Länder mehr getan. Gegen Erfolge solcher Maßnahmen in Kanada kann noch eingewandt werden, dass MigrantInnen dort in der Regel höheres Bildungsniveau haben. Aber es gibt auch Systeme mit zu Deutschland vergleichbarer Situation, z. B. Österreich und Schweiz, in denen die Leistungsunterschiede geringer sind.
4.5. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind nicht naturgegeben
PISA bestätigt die gewohnten Unterschiede in den fachlichen Leistungen von Mädchen und Jungen und relativiert sie erheblich (OECD 2001, 145-147).
Im Lesen sind Mädchen in allen Ländern der Studie deutlich besser als Jungen (im Durchschnitt 32 Punkte, was immerhin einer halben Kompetenzstufe entspricht). Andererseits schwanken die Differenzen zwischen 14 Punkten in Korea und 53 Punkten in Lettland. Deutschland liegt mit 35 Punkten ziemlich genau im Durchschnitt. Diese Unterschiede sprechen für erhebliche kultur-spezifische Prägungen sei es im Alltag, sei es durch schulische Bedingungen.
Auch in Mathematik und den Naturwissenschaften zeigt sich nur auf den ersten Blick das gewohnte Bild die Unterschiede zwischen den Ländern sind frappierend. In Lettland z. B. sind Mädchen den Jungen in Naturwissenschaften deutlich überlegen.
Damit fällt das Klischee angeborener Begabungen, die sich durch familiäre bzw. schulische Förderung nicht kompensieren lassen, in sich zusammen.
4.6. Hohe Fachleistungen sind auch ohne Ziffernnoten erreichbar
In den ersten Reaktionen auf PISA spielten die Verschärfung der Bewertungspraxis (Schavan) bzw. die Einführung des Zentralabiturs (Merkel; Rössler) eine prominente Rolle. Allerdings hatte schon TIMSS gezeigt, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem Leistungsniveau eines Landes und der (De-)Zentralisierung von Abschlussprüfungen gibt (Baumert u. a. 2000, Bd. II, 341 ff.). PISA erweitert diesen Befund auf die Unterrichtsebene: Länder wie Schweden etwa verzichten bis Klasse 8 auf Noten und erzielen trotzdem überdurchschnittliche Ergebnisse.
Aus der Befragung von SchülerInnen wird zwar deutlich, dass Wettbewerb eine leistungssteigernde Wirkung haben kann, aber das gilt für Kooperation genauso (132-134). Verschärfung der Konkurrenz ist also nicht notwendig, um Leistung zu steigern ganz unabhängig davon, welche Nebenwirkungen sie für die persönliche und die soziale Entwicklung hätte.
Damit wird ein Befund aus der Hamburger LAU-Studie bestätigt, dass die Leistungen von GrundschülerInnen nicht abnehmen, wenn Entwicklungsberichte statt Ziffernzeugnisse gegeben wurden (Lehmann u. a. 1997, 81 f.).
5. Ein Hinweis zum Schluss
PISA ist forschungsmethodisch komplex angelegt. Erfreulich sind die differenzierten Interpretationen und behutsamen Folgerungen des deutschen PISA-Berichts (Baumert u. a. 2001), auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden konnte. Allerdings sind sie deutlich geprägt durch eine eher psychologische als eine didaktische oder gar pädagogische Sicht. Die erhobenen Daten und die Zusammenhänge zwischen ihnen werden zudem in so allgemeinen Variablen und Modellen gebündelt (vgl. etwa S. 500-504), dass konkrete Schlüsse auf zusätzliche Annahmen angewiesen sind. Die Ergebnisse sprechen also nicht für sich. Ihre inhaltliche Interpretation wird je nach theoretischer Position und bildungspolitischem Standort unterschiedlich ausfallen.
Das muss wissen, wer die jeweils knapp gefassten Schlussfolgerungen aus den umfangreichen Analysen liest.
(Januar 2002)
Anmerkung
1. Damit der Artikel gut lesbar bleibt, haben wir auf Literaturnachweise weitgehend verzichtet und eine Langfassung mit detaillierten Belegen ins Internet gestellt:
www.uni-siegen.de/~agprim/inprint.htm .
Genannt seien hier nur:
Baumert, J., u. a. [Deutsches PISA-Konsortium] (Hg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Leske + Budrich: Opladen
und die Hauptquelle für den vorliegenden Artikel:
OECD (2001) (Hg.): Lernen für das Leben. Erste Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA 2000. Veröffentlicht im Internet unter www.gew.de/aktuell/frame_pisa.htm
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