Schülerinnen
und Schüler mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten sind häufig Ratschlägen
und Kommentaren ausgesetzt – nicht
nur im Elternhaus, sondern auch in der Schule.
Lernprobleme
dieser Art sind aber viel zu komplex für einfache Ratschläge.
Am Beispiel des Ko-Autors Roland V. wird gezeigt, was
nicht hilft und wie Erfolge erarbeitet werden können. Sein
Erfolg: Der neue Deutschlehrer in der 12. Klasse hat gar nicht gemerkt,
dass Roland Schwierigkeiten hat(te).
Ausgangslage
»Deine
Schrift ist eine Zumutung, Ich lehne es ab, das zu lesen!«, »Legasthenie
gibt es nicht. Ruh’ dich nicht auf der faulen Haut aus und übe mehr!«,
»Jeden Tag musst du zehn Minuten laut lesen!«, »Du machst ja nicht die
richtigen Fehler, darum muss ich dich benoten!«, »Konzentriere dich
mehr, dann machst du weniger Leichtsinnsfehler!«, »Du musst an deiner
Schrift arbeiten!« »Das kann ja kein Mensch lesen! Wie soll das denn
weiter gehen?« »Was denkst du, was aus dir in der Zukunft werden soll?«
»Deine Schrift ist unleserlich. Es ist eine Frechheit, mir so etwas
abzugeben!« »Deine Rechtschreibung ist nicht akzeptabel!« »Ich erkenne
deine LRS nur an, wenn du einen Nachweis über eine außerschulische Förderung
vorlegst.« »Du musst täglich eine Seite abschreiben und vorlegen!«
Unter
den meisten der obigen Lehrerkommentare hat Roland während seiner
Schulzeit selbst gelitten, andere stammen von SchülerInnen mit LRS
(Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten), die wie er im Rahmen einer
integrativen Psycho- und Lerntherapie die Chance bekamen, ihre Probleme
aufzuarbeiten. Ich lernte Roland kurz vor dem Abschluss der 10. Klasse der
Realschule kennen: Ein wacher, naturwissenschaftlich interessierter Junge,
der jedoch häufig schnell und verwaschen sprach, weil er – wie später
zugegeben – Angst hatte, etwas zu vergessen. In seinem ersten Text über
schwarze Löcher war kaum ein Wort in Dudennorm geschrieben, die
Handschrift fahrig, die Buchstaben falsch angesetzt. Roland hatte in
seinen 17 Jahren bereits viel erlebt: Seine körperliche Unruhe, die durch
die Diskrepanz zwischen schneller Auffassung und der Unfähigkeit das
Schriftsprachsystem zu begreifen und schwierige häusliche Verhältnisse
bedingt war, wurde während der Grundschulzeit medikamentös behandelt. Da
er Ritalin nicht vertrug, schlug die betreuende Ärztin die Umschulung in
die Sonderschule für Lernbehinderte vor, was Mutter und Sohn jedoch
ablehnten. Die Wiederholung der zweiten Klasse sieht er heute im
Nachhinein als Vergeudung an, denn ohne gezielte Hilfen beim Lesen- und
Schreibenlernen war er ganz schnell wieder das Schlusslicht der Klasse
beim Lesen und Schreiben. Einmal im Leben habe er im Diktat eine Vier
bekommen, erinnert er sich. Im Durchschnitt seien so ca. 68 von 100 Wörtern
falsch gewesen. In der fünften Klasse gab es einmal kurzfristig Förderunterricht,
den er positiv in Erinnerung hat, danach wurde zwar die Rechtschreibung
meist verordnungsgemäß nicht gewertet, er erhielt aber auch keine Hilfen
zum Erwerb von mehr Lese- und Rechtschreibkompetenz. Zu Englisch bekam er
erst jetzt in der Fachoberschule erstmals einen positiven Zugang. Seine
Lehrerin in der 7. Klasse hatte ihm durch ihre negativen Kommentare
jegliche Aussicht auf Erfolg genommen. Er rettete sich im Unterricht mit
seinen guten mündlichen Beiträgen, seinem Computerwissen und den
positiven Leistungen in den naturwissenschaftlichen Fächern über die
Runden, litt aber sehr und hatte die Hoffnung aufgegeben, sich jemals
verständlich schriftlich artikulieren zu können. Nach der mittleren
Reife kam für Roland in der Therapie ein hartes Jahr mit intensiven
Schreib- und Leseübungen, Strukturierung seines Arbeits- und
Lernverhaltens, was zusätzlich zum Berufpraktikum (einschließlich täglicher
Arbeitsprotokolle) und Schulbesuch sehr anstrengend war. Dabei wurden natürlich
die vielen Misserfolgserlebnisse thematisiert und damit verarbeitet. Jetzt
hat er es geschafft. Zum Abschluss seiner Therapie haben wir diesen
Artikel diskutiert. Er hat seine Erfahrungen und Gedanken schriftlich
formuliert. So schreibt er:
Was
man Lehrern raten kann: Sie sollen blöde Ratschläge sein lassen wie »Du
musst an dir arbeiten.« »Du musst es jetzt aber können.« »Mehr üben«.
Sie sollen die negativen Bemerkungen sein lassen, die keine Hilfe sind.
Was nützt ein Tipp wie: »Schreib langsamer und besser«, wenn ich dann
nicht mehr mitkomme. Oder wenn sie meine Schrift ständig kritisieren,
selbst aber unleserlich an die Tafel und in meine Hefte schmieren. Ich
sage, dass es Aufgabe der Lehrer ist, den Schülern Lesen und Schreiben
beizubringen, was sie aber offensichtlich nicht können. Habe ich mal
einen Rat befolgt, kam bestimmt ein anderer Lehrer und kritisierte: »Das
bringt nichts! Du musst das anders machen.« Da kann doch was nicht
stimmen. Die Lehrer sollten doch Wegweiser sein und dem Schüler Lösungswege
zeigen, wie er mit seinem Problem fertig werden kann. Sie sollten ihm das
Gefühl geben: Das macht nichts. Du bist ja in der Schule, um zu lernen.
Das
Thema LRS ist viel zu komplex, um in einem Artikel auch nur annährend
alle Bereiche anzusprechen. Einige der obigen Vorwürfe werden
aufgegriffen, andiskutiert und auf vertiefende Literatur verwiesen. Die
Endredaktion erfolgte mit Roland.
»Legasthenie
gibt es nicht mehr. Ruh dich nicht auf deinen
Fehlern aus!«
Falsch.
Mit der Abschaffung des Begriffs Legasthenie in schulischen Verordnungen
hat sich das Problem des gestörten Schriftspracherwerbs keineswegs in
Luft aufgelöst. Im Gegenteil: Lesen und Schreiben zu lehren wird wieder
voll in die Verantwortung der Schule gegeben. Als Ursachen für verzögerte
schriftsprachliche Entwicklung werden heute nicht mehr, wie früher nach
dem medizinischen Modell vermutet, im Kinde liegende organische Defizite
angenommen. Auch die Erklärung, dass LRS auf Teilleistungs- oder
Wahrnehmungsstörungen zurückzuführen sei, greift zu kurz. Man weiß
heute, dass Kinder, um Lesen und Schreiben lernen zu können, zunächst
Einsichten in die Funktion und den Aufbau der Schrift erlangen müssen,
was manchen Kindern aus unterschiedlichsten Gründen schwer fällt.
Entwicklungspsychologische und -kognitive Forschungsergebnisse
(Scherer-Neumann 1997, 2000, Valtin 2000) belegen, dass alle Kinder beim
Erlernen der Schriftsprache bestimmte Phasen durchlaufen; die meisten
Kinder tun dies jedoch sehr schnell. LRS-Kinder bleiben länger auf frühen
Erwerbsstufen hängen, da ihnen adäquate Strategien fehlen und sie meist
nach der fehlerträchtigen phonetischen Strategie schreiben. Bleibt frühzeitige
Hilfe aus und vergrößert sich der Abstand zur Bezugsgruppe, so wächst
wegen der Bedeutung der Schriftsprache die Gefahr, dass das Kind
psychische Auffälligkeiten entwickelt und sich die Probleme auf alles
schulische Lernen ausweiten, der sog. Teufelskreis Lernstörung entsteht.
Darum
wurde 1978 von der KMK der Begriff »Legasthenie« durch die wenig
griffige, aber präzisere Bezeichnung »besondere Schwierigkeiten beim
Erlernen des Lesens und Rechtschreibens« ersetzt, was Änderungen aller
LRS-Ländererlasse nach sich zog. (Analyse bei Naegele 1997, 2001).
Mit
Hilfe eines Stufenmodells zur Lese- und Schreibentwicklung (Valtin 1996)
lassen sich der Stand im Lernprozess und die noch fehlenden Strategien
leicht bestimmen. Frei geschriebene Geschichten eignen sich besonders gut.
Vergleicht man sie dann mit Klassenarbeiten, kann man den Stressfaktor
erkennen.
»Du
gehörst nicht ins Gymnasium,
sondern eher in die Sonderschule, wenn du nicht mal schreiben und lesen
kannst!«
Falsch.
Zunächst muss klar gestellt werden, dass zwischen Rechtschreibung und
Intelligenz nur eine ganz geringe Korrelation besteht und LRS in keinem
Bundesland alleiniger Grund für die Zuweisung in eine Sonderschule für
Lernbehinderte sein darf. Zudem haben die dortigen LehrerInnen in der
Regel auch keine bessere Ausbildung im Bereich Schriftspracherwerb oder
der Behandlung von Störungen als GrundschullehrerInnen, in deren
Ausbildung diese Themen nur in wenigen Universitäten verpflichtend sind.
So bleibt es dem persönlichen Engagement überlassen, ob sie sich überhaupt
in Methodik und Didaktik des Deutschunterrichts und speziell in Fragen des
Anfangsunterrichts aus- und weiterbilden und wo sie dies tun. Wenn aber
Laien oder Autodidakten unterrichten, muss man sich eher wundern, dass
nicht mehr Kinder versagen. Fehlendes Fachwissen wird dann gern durch
Ausweichen auf medizinische oder andere außerschulische Erklärungsmuster
kompensiert.
Warum
haben in der Sekundarstufe noch so viele Kinder LRS?
Dafür
können vielfache Gründe in Frage kommen. Manchmal liegt es an den
Anforderungen und Erwartungen der LehrerInnen der weiterführenden Schule,
die von völlig falschen Lernvoraussetzungen der Kinder ausgehen und sehr
wenig über die veränderten Lerninhalte im Deutschunterricht der
Grundschule wissen. Neue Lernanforderungen und Erwartungen können
manchmal auch erstmals Rechtschreibprobleme auslösen, wenn plötzlich
lange Diktate geschrieben werden, deren Wortschatz den Kindern unbekannt
ist und die sehr viel schneller diktiert werden. Deshalb verzichten immer
mehr FünftklasslehrerInnen zunächst ganz auf Diktate und versuchen die
kommunikativen Elemente zu fördern: Geschichten, Erlebnisse, Gedichte
u.a. Es gibt auch Kinder, deren Rechtschreibprobleme in der Grundschule
durch vorgeübte, auswendig gelernte Diktate und entsprechende Benotung
verdeckt waren. Und schließlich fallen die Kinder auf, die schon mit
einer langen Leidensgeschichte kommen. Ihre Versagensgründe:
•
fehlende Passung des Lernangebots in den ersten zwei Schuljahren an
den individuellen Entwicklungsstand,
• häufiger Lehrer- und damit Methodenwechsel,
• Unter- oder Überforderung,
• falsche Schreibhaltung,
• Ängste, Frustrationen, Lernblockaden.
Und
was das Gymnasium betrifft: Unter den LRS-SchülerInnen gibt es viele
kreative Kinder, die sich gut ausdrücken können und von ihren
allgemeinen Fähigkeiten den Anforderungen des Gymnasiums entsprechen können.
Wegen Problemen mit der Orthographie darf ihnen dieser Weg nicht verbaut
werden, zumal die Inhalte ihrer schriftlichen Beiträge und ihre mündliche
Mitarbeit viel wesentlicher sind und mit gezielten sinnvoller Förderung
in den höheren Klassen zumindest ausreichende orthographische Leistungen
erreicht werden können.
»Du
musst jeden Tag laut
Lesen üben.«
Dieser
pauschale Ratschlag ist wenig hilfreich. Zunächst muss erst einmal der
individuelle Entwicklungsstand analysiert werden. Dazu braucht es keine
Experten oder Tests: eine oder mehrere kurze Leseübungen auf eine
Kassette genügen, sowie das Beantworten von Fragen zu einem vorher
gelesenen Text (z.B. Schräder-Naef 1996, S. 77ff.). Außerdem ist das
laute Lesen auch nicht Ziel der Leseerziehung, sondern das möglichst
rasche sinngemäße Erfassen des Inhalts. Allgemein wird noch viel zu häufig
davon ausgegangen, der Leselernprozess sei spätestens Ende der zweiten
Klasse abgeschlossen. Aber auch bei älteren SchülerInnen ist es
notwendig, die Sinnentnahme und Lesestrategien zu üben. Lautes Vorlesen
vor der Klasse eignet sich jedoch nicht dazu. Für die meisten LRS-SchülerInnen,
die sich dadurch noch zusätzlich unter Druck gesetzt fühlen, ist dies
ein Trauma.
Die
unterschiedlichen Stellen, an denen Leseprobleme auftreten können,
sollten im Unterricht thematisiert werden, um die Lesestrategien aller SchülerInnen
zu verbessern. Bleibt z.B. die Interpunktion unbeachtet, so kann der
Inhalt nicht richtig verstanden werden und somit erlischt rasch die
Motivation. Dann gibt es SchülerInnen, die können zwar einwandfrei
vorlesen, verstehen den Inhalt jedoch nicht, weil sie sich noch ganz auf
die Technik konzentrieren müssen. Andere verlesen sich leicht, stolpern
über Konsonantenhäufungen, verwechseln Dehnung und Kürzung, so dass
Lesen zur Qual wird.
Generell
lässt sich sagen: Je größer die Drucktypen sind und je weniger Text
eine Seite enthält, um so leichter ist das Textverständnis, um so eher
wird ein Buch zu Ende gelesen, damit wiederum die Lesetechnik verbessert
und Lesen als eine positive Beschäftigung erlebt. Ein Lesetraining zur
Erweiterung der Blickspanne ist immer sinnvoll (Ott 1989).
Erfreulich
ist, dass die meisten älteren SchülerInnen rasch ihre Lesefähigkeit
verbessern, wenn
• schulische Texte vergrößert werden,
• sie vom Finger als Lesebremse wegkommen, unterstützt durch eine
farbige durchsichtige Lesefolie, die ihnen die Orientierung
und Strukturierung erleichtert,
• das Thema reizt
• und die äußere Gestaltung der Lektüre ansprechend ist.
Auch
ältere SchülerInnen brauchen viel Bestätigung
und Lob, z.B. den sichtbaren Beleg ihrer Bemühungen durch Eintrag in
einen Lesepass. Buchpreise und Wettbewerbe unterstützen diese Bemühungen.
Buchbesprechungen wiederum fördern die Neugier und die Auseinandersetzung
mit den Inhalten. Kurzbesprechungen dienen der gegenseitigen Information.
Inzwischen
gibt es auch in Deutsch eine Reihe von hervorragenden Hörbüchern mit
kompletten Buchlesungen, die zur Leseförderung im Sinne von »Read along«
eignen.
Zur
Auswahl der Lesetexte ist anzumerken, dass es oft schwierig ist, das persönliche
Interesse der Leseverweigerer aufzuspüren. Besonders beliebt sind bei älteren
SchülerInnen selbst hergestellte Lesetexte, seien es Zeitungen,
Spielanleitungen, Witzsammlungen oder Geschichten (Naegele 1983, 2000,
Urban / Naegele 2000, Praxis Deutsch 162/2000)
»Deine
Schrift ist eine Zumutung
und Frechheit!«
Die
Gründe, warum LRS- SchülerInnen häufig so ungelenke, schludrige, kaum
lesbare Handschriften haben, sind individuell unterschiedlich und spiegeln
sicherlich auch den Seelenzustand und die Gefühle wieder, die mit dieser
verhassten Tätigkeit verbunden sind. Eine unverkrampfte,
bewegungsgerechte Schrift, die gut lesbar und ökonomisch in ihrem
Bewegungsablauf ist, bringt jedoch Zeit für das Nachdenken und Überprüfen.
Welche
Gründe für unleserliche Schriften gibt es noch?
• feinmotorische Probleme, die unbehandelt blieben,
• fehlende Schreiblehrgänge, dadurch falsche Bewegungen bei
bestimmten Buchstaben,
• falsche Schreibhaltung, auch bei Linkshändern,
• zu große Schrift und vor allem Zeitmangel.
Was
kann man tun?
So
könnten die Schreib- und Sitzhaltungen im Unterricht unter dem
Gesichtspunkt von Lern- und Arbeitstechniken diskutiert werden und Veränderungen
ausprobiert werden. Eine eingeschliffene falsche Griffhaltung grundsätzlich
zu verändern, ist recht schwierig, vor allem für Linkshänder, die sich
eine verkrampfte Schreibhaltung von oben statt unten angewöhnt haben.
(Ausführliche Hinweise sind bei Sattler 1997 und Naegele 2001 zu finden).
Viele Jugendliche kommen mit Druckschrift viel besser klar. Es ist auch
nie zu spät, einen Schnellkurs in einer der verschiedenen Schriften
durchzuführen, wobei diese nur Richtlinie keineswegs mehr genaue
Kopiervorlage sein sollten. Eine modifizierte Schulausgangsschrift (SAS),
die die Schwächen der VA und LA ausgleicht, eignet sich gut. Entweder
stellt man selbst Wortlisten am Computer her oder greift auf die –
allerdings für Zweitklässler entwickelten – Übungshefte der Verlage
zurück. Ersteres kann gleichzeitig als sinnvolle Rechtschreibübung
verwendet werden. Verkrampfungen im Handgelenk und Schulterbereich können
in Verbindung mit Entspannungsübungen durch großflächige Schwungübungen
mit Musik gelockert werden.
Wichtig
ist, dass die Stifthaltung entkrampft wird. Gut geeignet sind
Dreiecksstifte oder -Tintenroller (Schneider), die Verkrampfungen des
Handgelenks und den kleinkindhaften Pfötchengriff ablösen.
»Zur
Übung musst du jeden Tag
eine Seite abschreiben!«
Da
viele SchülerInnen mit Rechtschreibproblemen vorzüglich abschreiben können,
nützt ihnen diese Übungsform nichts. Der Gedanke, der dahinter steht,
ist der einer veralteten Wortbildtheorie. Aber auch in der Sekundarstufe
haben eine Reihe von Schülern noch erhebliche Probleme beim Abschreiben
von der Tafel oder vom Buch, weil ihr visuelles Gedächtnis für
sprachliche Zeichen/Wörter begrenzt ist und Teile vergessen werden. Ihre
Strategie ist falsch, wenn sie das flüchtig Gelesene aus dem Gedächtnis
ohne Rückkopplung übertragen.
Hier
helfen
• klar gegliederte, gut lesbare Tafeltexte in Druckschrift,
• großer Computerdruck auf Folien am Overheadprojektor,
• Wort-/Vokabellisten mit der richtigen Vorgabe,
• mehr Zeit
• und die Vermittlung von Strategien zum Speichern größerer
Einheiten, z.B. mit bestimmten Materialien (Jacobs: Abschreiben erwünscht,
CVK, Berlin).
»Du
machst keine Legastheniefehler.
Du bist nur unkonzentriert!«
Ein
Mythos, der nicht auszurotten ist, betrifft die Frage der sogenannten
guten und falschen Fehler. Obwohl seit 30 Jahren immer wieder
wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen (Klicpera 1995 , Valtin 2000,
Scheerer-Neumann 1997, 2000 u.a.), dass man eine LRS nicht an bestimmten
Fehlern erkennen kann, hält sich dieses Gerücht. Räumliche
Fehlanordnungen (ei-ie, a-e,u-n,d-b) machen viele Kinder in bestimmten
Entwicklungsphasen sowie gestresste Erwachsene. Typisch für massive
Rechtschreibprobleme ist allein die überdurchschnittliche Anzahl an Verstößen
gegen die Normschreibung. So verwechseln viele schwache Rechtschreiber
Dehnung und Kürzung deshalb, weil sie eine in sich stimmige, aber falsche
Erklärung haben: Was lang gesprochen wird, muss man lang sehen. Meist
verfügen sie zudem über keine oder zu wenig Strategien (Ableiten,
Wortstamm, grammatikalische Bedeutung u.a.), vergessen Endungen und die
Interpunktion. Die Diskrepanz zwischen Denken und Schreiben hat schon
Goethe an sich selbst beobachtet und beschrieben.
Vor
allem unter dem Stress bei Klassenarbeiten fallen LRS-SchülerInnen auf frühere
Entwicklungsstufen zurück, was sich in gesteigerter Fehlerzahl
dokumentiert. Es ist falsch zu glauben, dass sich die Probleme von allein
oder mit Hilfe von Tabletten, Diät oder bestimmten Gymnastikübungen lösen
lassen. Der Knoten, der irgendwann von alleine platzt, existiert nicht. In
einer Schule – und Gesellschaft –, in der die Entscheidung über –
schulischen – Erfolg oder Misserfolg nach wie vor sehr stark von der
Beherrschung der Orthographie abhängt, wie bereits 1967 Lilly Kemmler
belegte, sollten alle SchülerInnen zumindest ausreichende orthographische
Kenntnisse in ihrer Schulzeit erreichen. Dies ist machbar.
Was
hilft?
Schreiben
kann man nur durch Schreiben lernen. Die Übungen sollten jedoch
differenziert und mit Aussicht auf positives Ergebnis für den Einzelnen
gestaltet sein. Neben der Relativierung der Rolle des Diktats zur
Leistungsfeststellung (Bartnitzky 2000) ist das systematische, regelmäßige
kurze Üben im Unterricht von Wörtern des Gebrauchwortschatzes im
Satzzusammenhang sehr wichtig, allerdings nicht nach der neuerdings bei
Lehrern populären NLP-Strategie mit Vorwärts- und Rückwärtsbuchstabieren
oder den Verwirrstrategien der meisten Rechtschreibmaterialien (Lücken-
oder Purzelwörter, Ratestrategien statt Richtigvorgabe,
Falschschreibungen sichern (Naegele/ Valtin 1996, 2000, Schwenk/Klier
1994).
Die Vorgabe von Arbeitsblättern mit richtig geschriebenen Wörtern
oder Texten mit dem Computer in klarer, gut lesbarer Druckschrift sollte
inzwischen schulischer Standard sein, ist es leider aber immer noch nicht.
Bei
der Vielfalt an möglichen Schreibungen und fehlender Fehlerkonstanz hat
sich die Arbeit mit einer schülereigenen Kartei als eine sehr effektive,
ökonomische und erfolgreiche Übungsmethode erwiesen. Ihr besonderer
Vorteil ist das Lernen über alle Sinne. Erfolgreich ist Karteiarbeit
jedoch nur, wenn sie wirklich regelmäßig und sorgfältig neben dem
Unterricht zu Hause und mit Kontrolle Erwachsener erfolgt (Deneffe 1996,
Naegele 1997, 2001). Ist dies nicht gewährleistet, helfen Wortlisten,
geordnet nach Fehlerschwerpunkten, deren Wörter die Schülerinnen in
mehreren Durchgängen durch
wiederholtes Schreiben festigen.
Bei Diktaten
oder Aufsätzen benötigen LRS-SchülerInnen die Vorgabe der richtigen
Schreibungen oder einen gut lesbaren Umdruck zur Verbesserung.
SchülerInnen,
die jahrelang aufgrund Ihrer LRS Misserfolge und Frustrationen in Schule
und Familie einstecken mussten, brauchen die Bestätigung, dass sich ihr
Üben lohnt. Deshalb sollten Lob und Ermutigung durchgängiges
Prinzip sein, wie es die Verordnungen vieler Bundesländer ausdrücklich
vorsehen. Darum ist in mehreren LRS- Erlassen anstelle der Ziffernbenotung
eine verbale Beurteilung vorgesehen, sobald die Fehleranzahl unter
ausreichend zu benoten wäre.
»Konzentrier’
dich doch
endlich mal!«
Kein
Kind macht extra Fehler. LRS ist zunächst keine Frage der Konzentrationsfähigkeit.
Dem Kind fehlen Einsichten und Sicherheit in ein System, das in der Regel
seit der ersten Klasse negativ besetzt ist. Erfolgt keine sinnvolle Förderung,
sind die Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl groß. Entweder resigniert
das Kind, entwickelt psychosomatische Auffälligkeiten und Lernblockaden
oder es wird aggressiv, unruhig, unkonzentriert oder demonstriert nach außen
Gleichgültigkeit. In diesen Fällen ist die Schule auf die Unterstützung
außerschulischer Therapien angewiesen.
Entspannungs-
und Konzentrationsübungen können die Unterrichtssituation erleichtern,
nur sind sie kein Allheilmittel. Damit lassen sich schulische
Stresssituationen, wie sie z.B. Diktate darstellen, entkrampfen und so die
Fehleranzahl reduzieren. Atemübungen, Teile des Jacobson’schen
Muskelanspannungsverfahrens, meditative Texte, Ruheübungen oder Musik können
entspannend wirken. Wer sich selbst unsicher fühlt, kann auf vorbereitete
Tonkassetten wie z.B. »Keine Angst vor Klassenarbeiten« (Richter /
Pieritz 1996) zurückgreifen und muss von ihrer Wirksamkeit überzeugt
sein. Besonders effektiv ist die Wirkung selbst verfasster Fantasiereisen
oder Entspannungsgeschichten.
Ausblick
In
diesem kurzen Beitrag haben wir nur einige der häufigsten Kommentare
aufgegriffen, unter denen SchülerInnen leiden, und Hinweise zu geben
versucht. Wir empfehlen dringend, sich mit Hilfe der angegebenen Lehrer-
oder Elternbüchern mit dem Komplex der Lese-Rechtschreibproblematik
auseinander zu setzen, seinen Grundlagen, den Förderaspekten und den
Auswirkungen auf die Persönlichkeit.
Roland
hat inzwischen weitere positive Erfahrungen gemacht. Sein neuer
Deutschlehrer in der 12. Klasse habe gar nicht gemerkt, dass er eine LRS
habe, denn auch andere Mitschüler hätten ja ihre Probleme mit der
Orthographie. In seinem ersten Referat zum Thema Internet erhielt er eine
Zwei (siehe Abb. 3).
Literatur
(Grundlagenliteratur
mit * )
Bartnitzky,
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Diktate – oder was sonst? In: Valtin,R. (Hg.): Rechtschreiben lernen
in Klasse 1–6. Grundlagen und didaktische Hilfen. Arbeitskreis
Grundschule. Frankfurt 2000
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1996
Kemmler,
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Klicpera,
Ch. / Gasteiger-Klicpera, B.:
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Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten in der
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Naegele,
I. M. / Valtin,R. (Hg.):
Rechtschreibunterricht in den Klassen 1–6.
Arbeitskreis Grundschule. Frankfurt 1996, 4. überarb. Aufl.*
Naegele,
I. M. / Valtin, R. (Hg.):
LRS in den Klassen 1–10. Handbuch der
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Weinheim 1997, 4. neubearb. Aufl.
Naegele,
I. M. / Valtin, R. (Hg.):
LRS in den Klassen 1–10. Handbuch der
Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Band 2: Schulische Förderung und außerschulische
Therapien. Weinheim 2000*
Naegele,
I. M. / Valtin, R.:
Schreiben lernt man nur durch Schreiben. In: Naegele,
I. M. / Valtin, R. (Hg.) 1997
Ott,
E.:
Der Lese-Freund. München 1989
PRAXIS
DEUTSCH Heft 162:
Neue Kinder- und Jugendliteratur. Seelze 2000
Praxis
Schule 5–10, Heft 4/1993:
Schreiben: normgerecht? frei? textgebunden?
kreativ?
Praxis
Schule 5-10, Heft 6/1993:
Arbeitstechniken lehren und lernen. Braunschweig
1993
Richter,
W. / Pieritz, R.:
Keine Angst vor Klassenarbeiten. Ein Übungsprogramm mit
Tonkassette. Weinheim 1996
Sattler,
Johanna B.:
Übungen für Linkshänder. Auer, Donauwörth 1997, 2. Aufl.
Scheerer-Neumann,
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Rechtschreibschwäche im Kontext der Entwicklung. In: Naegele/Valtin
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Scheerer-Neumann,
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Förderdiagnostik beim Lesenlernen. In : Naegele/Valtin (Hg.) 2000*
Schräder-Naef,
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Schüler lernen Lernen. Weinheim 1996, 6. Aufl.*
Schwenk,
E. / Klier, W.:
Der ewige Ärger mit der Ähnlichkeitshemmung. In: Praxis
Deutsch H. 124, 3/1994
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Das Diktat wird abgeschafft – was nun? In: Praxis Schule 5–10. H.
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Teml,
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Entspannt lernen. Streßabbau, Lernförderung und ganzheitliche
Erziehung. Linz (A) 1990, 2. Aufl. + Kassette
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H./ Naegele, I.M.:
Das ist dir vielleicht auch passiert – Freies
Schreiben mit lese-rechtschreibschwachen Kindern. In: Naegele/Valtin (Hg.)
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Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb. In: Naegele/Valtin (Hg.):
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Valtin,
R. / Naegele, I. M. (Hg.):
Schreiben ist wichtig! Arbeitskreis
Grundschule. Frankfurt 1996, 4. Neuaufl.
Valtin,
R. (Hg.):
Rechtschreiben lernen in Klasse 1–6. Grundlagen und
didaktische Hilfen. Arbeitskreis Grundschule. Frankfurt 2000*
Die
Autoren:
Ingrid
M. Naegele, Jg. 1940, ist Dipl.-Pädagogin und Leiterin des Instituts für
Lernförderung in Frankfurt, einer pädagogisch-psychologischen Beratungs-
und Therapieeinrichtung für Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen, und
Fach- und Elternbuchautorin. Adresse: Franz-Rücker-Allee 58, 60487
Frankfurt am Main,
E-mail: I.Naegele@em.uni-Frankfurt.de
Roland
V., Jg. 1981, ist Schüler der 12. Klasse einer Fachoberschule in
Frankfurt.
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Christoph Jantzen
Gibt es eigentlich Mitgliederinnen? Geschlechtersensitive Sprache
Hanna Sauerborn
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Erika Altenburg
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Sabine Birck
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern
Hans Brügelmann
Frage des Monats: Leseflüssigkeit fördern