Kinder brauchen eigene Bücher – alle Kinder (von Ute Andresen)

Die gefräßige Frau war eine wichtige Figur in der Lesewelt meiner Kindheit. Sie nahm in ihrem Überfluss nicht wahr, das andere hungerten, bis ihr die Augen geöffnet wurden und sie das nächste Butterbrot einem fremden Kind gab. Vom Hunger nach Brot, den Menschen anderswo leiden, wissen wir Satten heute manches. Für den Hunger nach geistiger Nahrung, nach Büchern gleich neben uns sind wir blind. Wir nehmen ihn bei den Kindern der Armut, die in unserem Bildungssystem als Versager und Problemfälle an den Rand geschoben und ausgesondert werden, nicht wahr, weil wir ihnen diesen Hunger gar nicht zutrauen. Die Kinder selbst zeigen uns, dass wir irren und ihnen etwas schuldig bleiben. Wenn wir nur hinsehen wollten!

Lisa will Sonderschullehrerin werden und war als Referendarin in einem ostdeutschen Förderzentrum. Immer wieder hat sie mir erzählt, wie sie mit den Kindern arbeitet, was sie mit ihnen erlebt, welche Schicksale die Kinder zu tragen haben daheim und in der Schule. Wie unruhig, mutlos und widerborstig sie sind. Und wie dankbar sie doch alles aufnehmen, alle Freundlichkeit und Hilfe, die sie ihnen mitbringt.

Daheim stecken die Eltern fest in materieller und seelischer Not. Ohne viel Kraft und Hoffnung und pädagogisch ahnungslos können sie ihren Kindern nicht geben, was die brauchen, um zu gedeihen. In der Schule haben manche der Kinder Lehrerinnen, die erschöpft sind oder für ihre anspruchsvolle Aufgabe nicht ausgebildet. Und viel zu wenige sind großherzig genug, diesen Kindern, die einem nicht niedlich und sympathisch gleich entgegenkommen, soviel Verständnis, Liebe, Geduld und Achtung zu widmen, dass sie sich öffnen und ihren guten Willen zeigen können.

Es ist kaum fassbar, mit welcher Kälte und Verachtung man Kinder unzulänglicher Eltern in der Schule behandeln darf. Kinder, die auf Lächeln, Zuspruch und praktische Unterstützung dort angewiesen sind, um sich auf den eigenen Füßen halten und aufrichten zu können, um sich im Leben unter den Menschen angenommen zu wissen, Selbstvertrauen zu entwickeln und zu lernen, nachholend, aufbauend, ausgreifend zu lernen, und nicht eines Tages in Verzweiflung oder Gewalttätigkeit unterzugehen.

Es sind Kinder, die von Anfang an mit der Sprache Schwierigkeiten haben, in vielerlei Form beim Sprechen und Verstehen, und natürlich auch beim Lesen und Schreiben. Ein Elternhaus, in dem die kindliche Sprechsprache sich mangels Vorbild und Beachtung nicht recht entwickeln kann, kann auch den Erwerb der Schriftsprache nicht vorbereiten und unterstützen. Man liest und schreibt dort nicht mehr, als unabweisbar nötig ist.

Schriftliches ist als Rechnung, Mahnung oder Kündigung bedrohlich, als Formular verwirrend.

Bücher, deren Texte mit ihren Benennungen, geordneten Abläufen und tröstlichen Lebensentwürfen zeigen, wie man anders - geordneter, klarer, überlegter - leben, sprechen, denken, hoffen, planen kann, gibt es in solchen Familien nicht.

Sie werden darum auch nicht vorgelesen, können Kinder und Eltern nicht verbinden und nicht die Kinder ermuntern, selber Leser zu werden.

Die Parole der Leseförderer „Lesen ist Familiensache“ verhallt dort im Nichts.

Lisa hat ihren Schulkindern in kurzer Zeit einen Zugang zu Büchern eröffnen können. Aus dem, was die Kinder selber im Unterricht geschrieben hatten, wurden Bücher gebunden, die dann für alle als Lektüre bereitlagen. Und es gab Bücher, die Lisa erst vorlas und die die Kinder dann selbst in die Hand nehmen und sich ansehen konnten. Und die Kinder konnten all die geliebten Bücher, die Lisa gehörten, übers Wochenende ausleihen und mit nach Hause nehmen. Dort konnten sie in Ruhe und immer wieder studiert werden.

Und die Eltern wurden veranlasst, vorzulesen.

Ein Mädchen berichtete am Montag, ihr Vater hätte das mit dem Buch aus der Schule zum erstenmal getan. Er hätte dazu zwar viel länger gebraucht als Lisa, aber es doch bis zum  Ende geschafft.

Lisa war mit soviel Eifer und liebevollen Ideen bei der Arbeit mit den Kindern, dass ich sie schließlich kurz vor dem Ende des Schuljahres und dem Abschied von den Kindern fragte, ob es ihr nicht schwer würde, die Kinder nun zu verlassen.

Sie mochte gar nicht daran denken. Da habe ich, um sie und die mir von ferne vertrauten Kinder ein wenig zu trösten, ihr einen Karton voll Bücher geschickt, die sie den Kindern zum Abschied schenken sollte. Als Autorin von Kinderbüchern habe ich viele Belegexemplare. Das Paket wurde gepackt, eilig, denn der letzte Schultag stand unmittelbar bevor. Und ein paar Tage später rief Lisa an und überschüttete mich mit Freude:

Sie hatte den Kindern von ihrer Freundin in München erzählt und dann das Buchpaket mit den Erstklässlern zusammen ausgepackt.

Jedes Kind durfte sich ein Buch aussuchen. Jedes fand eins, zu dem es sagen mochte: Du sollst mein Buch sein! Und das musste dann sofort angeschaut, durchgeblättert, studiert, gelesen werden.

Als Lisa ein Abschiedsfoto machen wollte, verlangten die Kinder, sie mit ihren Büchern zu knipsen. Und es sollte kein Gruppenfoto werden. Jedes Kind wollte sich ganz allein mit seinem Buch auf einem Foto präsentieren. Ein Bild des Stolzes!   Da stehen zehn Kinder mit ihrem Buch auf der Treppe vor der Schulhaustür. Die meisten strahlen und strecken ihr Buch stolz in die Höhe. Zwei Buben recken sich dabei bis auf die Zehen. Und ein Mädchen hat ihr Buch umarmt. Zehn Kinder haben am letzten Tag ihres ersten Schuljahres ein eigenes Buch geschenkt bekommen. Es hat sie glücklich gemacht und war ihnen wichtiger als das Zeugnis, erzählte Lisa.   In der anderen Klasse, in der sie auch ein Jahr lang gearbeitet hat, haben die Kinder das dritte Schuljahr hinter sich. Sie können schon mehr und geläufiger lesen. Für sie hatte ich keine Bilderbücher mit wenig Text, sondern einen kleinen Stapel meines Taschenbuchs „Mama findet alles“ eingepackt. Ein Buch für etwas größere Kinder. Es  bietet Geschichten aus einer Familie, wie wohl alle Kinder sie sich wünschen. Ich war mir nicht sicher, ob dies Buch für Kinder aus belasteten Familien passend wäre, aber ich hatte kein anderes mehrfach da.   Erst später hat Lisa mir erzählt, dass zwei Jungen in dieser Klasse ganz ohne ihre Mütter auskommen müssen. Die Mutter des einen ist gestorben, die des anderen Jungen gerade zum Entzug in eine Klinik eingeliefert worden; der Junge wurde mit wenig mehr als ein paar Kleidungsstücken in ein Heim gebracht. Gerade diese beiden, dachte ich, müssten traurig sein, sich ausgeschlossen, abgehängt fühlen, wenn ihnen im Buch ein Familienleben gezeigt wird, das sie ganz und gar entbehren. Sie würden das Buch nicht lesen. Aber dann: Gerade für diese beiden Kinder war „Mama findet alles“ das Richtige. Sie haben den Titel erfasst, das Buch sofort aufgeschlagen und zu lesen begonnen, zuerst auf dem Tisch, dann darunter versteckt, als sie eigentlich ihrer Klassenlehrerin zuhören sollten.   Kann denn ein Kind, das ohne seine Mutter auskommen muss, Trost darin finden, von anderen Kindern zu lesen, die mit Mutter und Vater ein leichtes Leben teilen? Vielleicht hilft ihnen die kleine Leseflucht in eine phantasierte Familie mit ein wenig entspanntem Dabeisein. Vielleicht hilft ihnen die Schilderung eines Zusammenlebens, das so ist, wie es auch für sie sein sollte, die eigene Orientierung auf ein gutes Leben zu bewahren. Die wird gestört und verwirrt, wenn alles immer anders kommt, als man es eigentlich als Menschenjunges von ganz tief innen her erwartet. Sie braucht Gegenbilder zum eigenen Alltag, um zu überleben.   Die kleine Tat, Bücher einzupacken und das Paket beim Postamt abzugeben, macht mich nachhaltig vergnügt. Das Glück der beschenkten Kinder beschämt mich aber auch. Ich schreibe in einem Raum, der mich mit Regalen voller Bücher umgibt. Kinder, die kein einziges eigenes Buch haben, gibt es zu Hunderten in jeder Stadt, in jeder größeren Schule. Es gibt wohl keine Klasse in einer öffentlichen Grundschule ohne solche Kinder. Sie sollen Leser werden neben Kindern im Bücherüberfluss.   Die Liebe zu Büchern beginnt damit, dass man ein eigenes Buch hat, in das man immer wieder lesend zurückkehren kann. Wie eine überschaubare Eigenwelt, geschützt zwischen zwei Buchdeckeln, kann es bereitliegen, kann man es mit sich herumtragen, ein Symbol auch für tröstliche Ordnung und fassliche Erfahrung.   Die vielen Kinder ohne eigene Bücher in unserem bücherreichen Land brauchen Menschen, die Bücher für sie hergeben. Dazu Lehrerinnen, die sie ihnen ans Herz legen und in die Hand geben. Dann könnten auch sie Leser werden und sich ihren Teil des Wissens und der Kultur, auf die Deutschland so stolz ist, nehmen.    

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