Eingeständnis des Scheiterns. Die Kommission nimmt zentrale Teile des neuen Regelsystems nicht mehr ernst und entzieht dem ganzen Reformunternehmen damit die Legitimationsgrundlage. Ein kurioser Fall von Selbstdemontage.
Die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung hat einen öffentlichen Auftrag, aber sie scheut das Licht der Öffentlichkeit. Für die Kultusministerkonferenz soll sie ermitteln, wieweit die 1996 beschlossene Rechtschreibreform sich bewährt und wo Nachbesserungen nötig sind. Der Bericht aber, den sie den Kultusministern vor etlichen Wochen vorgelegt hat, bleibt geheim. Und nicht ohne Grund ist die Kommission so lichtscheu. Denn der Bericht (er liegt der Redaktion vor), der sich vordergründig als stolze Erfolgsbilanz gibt, enthüllt sich bei genauerem Hinsehen als ein Eingeständnis des Scheiterns. Die Kommission nimmt zentrale Teile des neuen Regelsystems nicht mehr ernst und entzieht dem ganzen Reformunternehmen damit die Legitimationsgrundlage. Ein kurioser Fall von Selbstdemontage.
Im Leitartikel einer großen süddeutschen Zeitung wurde kürzlich darüber spekuliert, warum die Olympischen Winterspiele von Salt Lake City „so gut und so Geld vermehrend“ als „Hochamt der Ablenkung“ funktioniert hätten. Schon der Parallelismus der zweifachen „so“-Konstruktion läßt erkennen, daß „geldvermehrend“ genauso ein einziges Wort sein muß wie „gut“ (nämlich ein Adjektiv in adverbialem Gebrauch); nun unter dieser Voraussetzung ist die Konstruktion grammatikalisch überhaupt möglich. Und eben darum haben „Univerbierungen“ von Typus „geldvermehrend“ sich als so zweckmäßig erwiesen; eben darum gehört es zu den großen Vorzügen der deutschen Sprache, daß sie solche Wortverschmelzungen scheinbar unbegrenzt zuläßt. Niemand hatte damit vor der Einführung der Rechtschreibreform ein Problem, weil man sich auf das Bedeutungsverständnis verlassen konnte und Zusammenschreibung so gut wie nie sprachlogisch falsch sein konnte.
Strenggenommen ist „geldvermehrend“ auch nach der Neuregelung zusammenzuschreiben; der zitierte Satz ist eines der zahllosen Beispiele dafür, daß kaum jemand die neuen Regeln versteht und die meisten Schreiber sich mit der irreführenden Faustregel „im Zweifelsfall getrennt“ behelfen. Die meisten Wortverschmelzungen aus Substantiv und Partizip hat die Reform nämlich gnadenlos beseitigt. Zusammenschreibung war nur noch dort zulässig, wo durch die Kombination von Substantiv und Partizip „ein Artikel oder eine Partikel eingespart“ wird: man sagt „das Medikament stillt das Blut“ und schreibt darum „ein blutstillendes Medikament“, aber man sagt „das Insekt saugt Blut“ (ohne Artikel) und schreibt darum „ein Blut saugendes Insekt“. Wörter wie „aufsehenerregend“, „erfolgversprechend“, „ratsuchend“ oder „notleidend“ und andere waren damit aus dem Wortschatz gestrichen.
Schon in der 22. Auflage des Duden vom August 2000 tauchte ein Teil der eliminierten Wörter wieder auf, so etwa „aufsehenerregend“ und „erfolgversprechend“. Allerdings nur als tolerierte Variante. Die Begründung war, daß das Gesamtgebilde steigerbar ist („aufsehenerregender“). Man hatte endlich erkannt, daß Steigerungsformen wie „Aufsehen erregender“ oder „Erfolg versprechender“, die man seit 1999 ständig in den Zeitungen liest, ungrammatisch sind. Hier brachte der Duden 2000 also eine substantielle Regelmodifikation; eine Zusatzregel (Zusammenschreibung bei Steigerbarkeit des Gesamtgebildes) wurde eingeführt. Mit Vehemenz bestreitet jedoch die Kommission, daß sich irgend etwas geändert habe. Vielmehr hätten Schreibungen wie „aufsehenerregend“ schon immer der Reformintention entsprochen; dies sei zwar „im Regelteil nirgends explizit vorgeführt“, lasse sich aber „aus einigen Eintragungen im Wörterverzeichnis rekonstruieren“.
Welch ein Offenbarungseid! Der Anspruch der Reformer war, eine angeblich von Zufälligkeiten strotzende Orthographie durch ein klares, logisch konsistentes Regelsystem zu ersetzen. Nun also das Eingeständnis, daß wichtige Teilregeln gar nicht als Regeln formuliert waren, sondern aus Einzeleinträgen im Wörterverzeichnis erschlossen werden mußten. In einem anderen Fall räumt die Kommission ein, die Regel sei „nicht sehr explizit formuliert“ gewesen – ein rührender Euphemismus für das, was man sonst unklar oder konfus nennt. In der Neuregelung stand lediglich, daß man weiterhin zusammenschreibe, wenn ein Teil des Gesamtgebildes für sich allein nicht gebräuchlich ist; das trifft für „versprechend“ zu (in „erfolgversprechend“), nicht aber für „erregend“ (in „aufsehenerregend“). In der hauseigenen Regelformulierung, die der Duden von 1996 zusätzlich zur amtlichen Regelung abdruckte, fand sich immerhin ein versteckter Hinweis, daß man zwar „Furcht einflößend“ zu schreiben habe, aber „furchteinflößender“; eine Regel dazu war weder explizit noch „nicht sehr explizit“ benannt. Und die Frage blieb natürlich, wie eine Steigerungsform möglich sein soll, zu der es die Grundform nicht geben darf.
Es gibt nur zwei Möglichkeiten, und beide sind gleichermaßen skandalös: entweder die Kommission vertuscht ziemlich ungeschickt, daß eine Reform der Reform sich als unumgänglich erwiesen hat, oder sie hat es fünfeinhalb Jahre lang tatenlos hingenommen, daß eine in entscheidenden Punkten entstellende Mißdeutung der Reformabsichten die Schreibpraxis diktierte. Und das hieße ja nicht nur, daß die Öffentlichkeit getäuscht wurde und irreführende Wörterbücher unwidersprochen weiter verkauft wurden. Es hieße auch, daß Schüler und Lehrer sinnlos drangsaliert wurden mit Reform-Albernheiten, die so gar nicht gewollt waren.
Aus Bayern etwa sind Fälle wie der folgende dokumentiert: ein Schulleiter zerreißt wütend ein Zeugnis, weil die Lehrkraft sich erdreistet hat, „zufriedenstellend“ zu schreiben, statt „zufrieden stellend“, wie es auch der Duden 2000, in Rotdruck hervorgehoben, noch immer fordert. Wollen die Reformer denn behaupten, daß es ein Wort „stellend“ gebe? Die Regel, daß zusammengeschrieben wir, wenn ein Bestandteil des Gesamtgebildes für sich allein nicht vorkommt, kann allenfalls dann praktikable Orientierungshilfe sein, wenn sie für alle Typen von Wortverbindungen gilt; ob das Partizip sich mit einem Substantiv oder einem Adjektiv verbindet, darf aus Gründen der Durchschaubarkeit und Klarheit der Systematik keinen regelbestimmenden Unterschied machen.
Nach diesem Muster läßt sich fast jede Zusammenschreibung um drei Ecken herum rechtfertigen. Wer Rat sucht, sucht natürlich „guten Rat“ und darf darum wieder „ratsuchend“ genannt werden. Mit absurder Begründung kämen wir so wieder zum Sinnvollen und Sprachrichtigen: all die Univerbierungen, die sich als zweckmäßig eingebürgert hatten, aber durch Reformwillkür verbannt wurden, kehren in den Schreibgebrauch zurück. Sie sollten aber nicht durch spitzfindiges Zurechtfrisieren einer abstrusen Regel zurückgeholt werden, sondern durch entschlossene Abkehr von einem Reformkonzept, dessen Unhaltbarkeit nun sogar die Zwischenstaatliche Kommission unfreiwillig dokumentiert.
Es kommt aber noch besser: „Blut saugend“ und „blutstillend“ waren einmal Paradebeispiele für die neue Regel der Getrennt- oder Zusammenschreibung. Schon der Duden 2000 hat für beide Fälle beide Schreibungen freigegeben; die viel zu komplizierte und darum praxisuntaugliche, aber begründbare Regel war damit preisgegeben. Die Kommission verteidigt die im Duden 2000 angebotene Schreibung „blutbildend“ (statt „Blut bildend“, wie es die Neuregelung verlangen würde) jetzt mit dem Argument, daß die „Rückführbarkeit auf eine Wortgruppe“ zwar „nicht zwingend“, aber doch „möglich“ sei: man könne ja auch sagen, daß das blutbildende Agens „neues Blut“ bilde, und die Einsparung des Wörtchens „neu“ rechtfertige die Zusammenschreibung. Daß damit die ganze Regelung ad absurdum geführt ist, scheint die Kommission nicht zu bemerken.
Der richtige Weg kann nur sein, das „Sprachgefühl“ und die Orientierung am Bedeutungsverständnis zu rehabilitieren und endlich einzusehen, daß in der Rechtschreibung nicht alles lückenlos normierbar ist, weil Sprache lebendig ist und sich entwickelt (gerade im Bereich Univerbierungen). Die „alte“ Orthographie war da weise und flexibel. Eine Vorschrift, einerseits „radfahren“ und andererseits „Auto fahren“ zu schreiben, hat es nämlich nie gegeben. Die Dudenregel (R 207) lautete bis zur Auflage von 1991: man schreibt getrennt, wenn die Vorstellung des Gegenstandes überwiegt, und zusammen, wenn man mehr an die Tätigkeit denkt. Das ist mehr als eine (dringend notwendige) Toleranzregel; es ist die Aufforderung, das Sprachgefühl zu schärfen und Bedeutungsnuancen zu nutzen.
Es war das Geburtsübel der Reform, daß in den vorbereitenden Kommissionen nicht Sprachforscher und Praktiker der Schreibkunst den Ton angaben, sondern Didaktiker, die ganz auf die Lernprobleme von Schreibanfängern fixiert sind und für die Bedürfnisse der literarischen Kultur weder Gespür noch Interesse haben. Und ein grober Mißgriff war es, mit der Überprüfung und eventuellen Nachkorrektur der Reform im wesentlichen die gleichen Leute zu beauftragen, die sie ausgeheckt hatten. Die scheinbare Erfolgsbilanz der Zwischenstaatlichen Kommission ist in Wahrheit ein Dokument der Inkompetenz und Uneinsichtigkeit. Mit der Tatsache, daß viele Neuschreibungen ungrammatisch sind, hat sich die Kommission überhaupt nicht auseinandergesetzt. Den Vorwurf, daß zahllose Wörter und Bedeutungsunterscheidungen beseitigt wurden, also Wortbildungsprozesse rückgängig gemacht wurden und damit die Sprachentwicklung rückwärts gedreht wurde, glaubt sie mit einem höchst windigen Scheinargument vom Tisch wischen zu können, das ziemlich eigenwillige Vorstellungen von intellektueller Redlichkeit verrät. Wichtige Regelteile kann die Kommission nur durch unsolide Umdeutung retten.
Es wird höchste Zeit, daß die Kultusminister die unausweichlichen Konsequenzen ziehen. Die Reform ist durch Selbstwiderspruch erledigt; die Kommission hat abgewirtschaftet und muß abtreten. Auf der Tagesordnung steht die Wiederherstellung einer brauchbaren Orthographie. Die Aufgabe ist leicht; nicht mehr ist vonnöten als der sprachwissenschaftliche Sachverstand, die sprachkünstlerische Erfahrung und die kritische Unbefangenheit unabhängiger Köpfe.
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Hans Krieger stellte uns seinen Text zur Veröffentlichung auf unserer Homepage zur Verfügung. Wir bedanken uns und stellen ihn zur Diskussion. Übrigens: Es ist nur konsequent, wenn Hans Krieger seinen Text in der "alten Rechtschreibung" verfasst hat.
Dieser Text erschien in "Bayerische Staatszeitung“ am 8. März 2002
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