Die Orthografie ist besser als ihr Ruf Wörter sind gebildet und es lohnt, ihnen auf den Grund zu gehen von Heiko Balhorn

Thema und Intentionen und was es zur Sache zu sagen gibt
Unsere Rechtschreibung hat einen schlechten Ruf. Sie erscheint vielen als Schulkreuz, unlogisch, nebensächlich oder überbewertet, radikal zu renovieren oder durch die Reform beschädigt. Doch ist sie viel besser als ihr Ruf. Sie ist ein System. Das macht sie lernbar.
Der besondere Fokus in diesem Beitrag liegt auf der Wortbildung, den Einheiten, aus denen Wörter gebaut sind und werden, den Morphemen also. Denn es lässt sich zeigen, dass es gut tut, nicht das Wort, sondern das Morphem als die sprachliche Grundeinheit anzunehmen. 
  
Konstanz stimmt optimistisch
Mit Konstanz ist die Schreibweise der Morpheme, also der Vorsilben, Endungen und Wortstämme gemeint: konstant durch die Konjugationen, Deklinationen, die Ableitungen und Kompositionen von Wörtern einer Familie hindurch.
Die Konstanz von Wortstämmen und damit die konstante Geltung der Regeln, die einen Stamm bestimmen – ist der wohl zentrale Themenbereich des Rechtschreibunterrichts in der Grundschule und über sie hinaus. Die Konstanz und die bausteinweise Bildung von Wörtern lässt sich grafisch gut zeigen. 

Eine Fundgrube dafür ist Gerhard Augsts ‚Wortfamilienwörterbuch‘ (Das ist ein tolles Buch. Auf 1687 Seiten, von ‘Aa machen‘ (Kindersprache: die Notdurft verrichten) bis Zyste (med.: krankhafter Hohlraum im Gewebe) findet man alles über Wortfamilienzusammenhänge, was in etymologischen Wörterbüchern eben nicht steht.) Dieses Buch gehört in jede Lehrerbücherei und zum Kennenlernen zeitweise in jede Klasse: Gerhard Augst: Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Niemeyer, Tübingen 1998
  

Es gibt ein zweites Wörterbuch, das sich auf die Wortfamilie als ‚Kontext‘ jedes Wortes konzentriert -  GRUNDWORTSCHATZ: Die Konstanz und die bausteinweise Bildung von Wörtern lässt sich grafisch gut zeigen:
  

(Heiko Balhorn: Grundwortschatz. Wörterbuch für die Grundschule. vpm-Verlag, Hamburg 1998)
  
Konstant seien die Morpheme, so die Behauptung. Relativ konstant, das Eingeständnis. Denn so konstant sind die Wortstämme nun auch wieder nicht. Es handelt sich bei der Orthografie ja um eine historisch-soziale Errungenschaft und als diese ist sie menschlich und damit widersprüchlich –  logisch zwar, aber nicht monologisch. 
Dennoch: Das Konstanzprinzip macht optimistisch. 
Es besagt: 
Du musst nicht die vielen hunderttausend Wörter lernen, sondern nur die Stämme, und die machen nur einen Bruchteil der vielen Wörter aus. Dazu kommen noch Endungen und Vorsilben. Aber das sind überschaubar wenige.  
Was ist ein Wortstamm?
  
Der Wortstamm ist das, was übrig bleibt,  wenn man alle ‚losen‘ Teile von Wörtern wegstreicht.
  
Das ist eine brauchbare Definition mit operativem Charakter. 
Der Wortstamm ist der kleinste gemeinsame Nenner einer Wortfamilie – sozusagen das Familienwappen.
  

Der Wortstamm, der Schlüssel in die  Orthografie
Es gibt vor allem zwei Gründe, warum der Wortstamm so wichtig ist: 

  1. Der Wortstamm trägt die/eine Grundbedeutung eines (komplex) gebildeten Wortes. Vorsilben und Endungen und der Kontext spezifizieren sie. Wenngleich die Rede von der Grundbedeutung ungenau ist (Welches ist die gemeinsame Grundbedeutung von fahr in ‚Erfahrung‘ und ‚fahrig‘?), so ist der Stamm doch so etwas wie der ‚ursprüngliche‘, allemal ausgezeichnete Bedeutungsträger. Und dieser ausgezeichneten Rolle des Stammes (der Stämme) im Wort, entspricht auch die Orthografie. Sie tut dies, indem sie den Stamm auszeichnet, betont, hervorhebt: sowohl die Länge- und Kürzebezeichnung als auch die a/ä-Umlautung und die Auslautverhärtung betreffen fast ausschließlich den Stamm. (Ein doppelter Sonderfall sind die Äbtissinnen: Sie haben gleich zwei Kürzezeichen außerhalb des Stammes.) Ausnahmen bestätigen die Regel, so sagt man. Sie konturieren aber ihren Geltungsbereich. Das Originelle ist nur auf der Folie des Normalen auffällig.
    Diese Hervorhebungen durch ‚unhörbare‘ Buchstaben (diakritische Zeichen wie Saal, Wahl, Beet, Bett, Sieg, ihr), Umlautungen wie Wald-Waelder/Wälder und die Konstanz der Schreibung gegen die Lautung wie in KinD/KinDer (Auslautverhärtung mit Stimmtonverlust) sind konstante Kennzeichen eben nur des Stammes der Wörter einer Familie. Sie ‚betonen‘ den Stamm grafisch, machen ihn tatsächlich oft länger. Sie sind in ihrer Betonung und Konstanz an den Leser adressiert, machen unsere Schreibweise leserfreundlich. Dies bedeutet allerdings einen gewissen Lernaufwand. (Die türkische Orthografie, die diesen Leserservice nicht bietet, ist deshalb leichter zu lernen.)
    Bei der ‚Machart‘ einer Orthografie steht die Lautorientierung für die leichte Lernbarkeit und das Konstanzprinzip für die schnelle Lesbarkeit.
    Unsere ist wegen des letzteren eine leserfreundliche und das heißt: Sie stellt hohe Anforderungen an die Lerner.
      
  2. Der zweite Grund für die Wichtigkeit des Wortstammes
    ist die ‚Auszeichnung‘ seiner Bedeutung insbesondere in komplexen Wörtern.  Der Stamm trägt – wie oben angedeutet – verdichtete orthografische Informationen (Kürzebezeichnung, Auslautverhärtung etc.). Da sich die betreffenden Regeln nicht auf das Wort, sondern den Wortstamm beziehen, müssen Leser und Schreiber den Stamm isolieren können. Dies ist bei komplex gebildeten Wörtern und insbesondere in hochbelasteten Anforderungssituationen (z.B. Diktat) oft nicht der Fall. Am Beispiel der Kürzezeichen lässt sich nachweisen, dass Kindern diese in intervokalischer Stellung (können) am leichtesten, in Endstellung schwerer (kann) und vor weiteren Konsonanten (kannst) am schwersten fällt.
    Das zweite n in Fußballmannschaft wird – obwohl von denselben Schreibern in Mann realisiert – von rund 70% der Viertklässler ausgelassen und das h in Fernsehprogramm von nur etwa einem Drittel der Kinder richtig verwendet (Peter May). Kürze- und Längezeichen (Mann, Fernseher) sind also keine Rechtschreibphänomene ‚an und für sich‘, sondern bedeuten für Schreiber relative Schwierigkeiten. Komplexe Wörter, also solche, die in ihren (Teil)Bedeutungen und ihrer Bauweise nicht durchschaut werden, sind damit auch orthografisch unerschlossen. 
    Ich bin mir sicher, dass die Stämme mann und seh in den beiden genannten Komposita nicht deshalb viele Fehler aufweisen, weil die Schreiber die Kürze- und Längebezeichnung ‚nicht können‘, sondern weil sie die bedeutungstragenden Wortstämme in den komplexen Bildungen nicht erkennen. Die Schreiber kennen sehr wohl die Bedeutung der ganzen Wörter, – damit aber noch nicht deren Teilbedeutungen. Würden sich Kinder die Wörter bedeutungsbezogen erschließen – z.B. über Fußballfrauschaft , „will fernsehn auf dem Fernsehturm“ 
  • Abbildung würden sie morphematisch gliedern, dann hätten sie mit der Bedeutung auch den Stamm. Und dieser bietet die Chance, Intuition, Wissen und Können zu nutzen. (Deshalb bringt das unablässige Üben von Rechtschreibphänomenen bis in die Sek.Stufe hinein wenig. Die morphematische Struktur liegt tiefer und ohne sie greifen Phänomene nicht.)
       

Würden sich die Kinder die Wörter bedeutungsbezogen erschließen - zum Beispiel Mannschaft über Frauschaft, dann hätten sie den Stamm und damit auch die Schreibung.
  

Die Bedeutung des Wortstammes für unsere lerntheoretischen Überlegungen lässt sich sehr prägnant an gleich oder ähnlich klingenden Wörtern zeigen: er ist/sie isst, es hallt/halt, es schallte/schalte, die dürrsten/dürsten, die Büsten/büßten, er misst Mist. Solcherart Homophone erweisen die Notwendigkeit des Rückgriffs auf den Stamm, um die Bedeutung zu finden/zu setzen und entsprechend orthografisch zu entscheiden. 
Die Beispiele sollen irritieren. Unsere Sinnsuche in solchen (oft abseitigen) Fällen ähnelt wahrscheinlich der vieler Kinder, denen oft auch nicht leichthin eine Bedeutung aufscheint. 
Die geforderten Operationen sind die gleichen wie bei den Kanten der bekannten Tanten.
Weil wesentliche orthografische Regelungen sich auf Stämme/Morpheme beziehen, ist das Gliedernkönnen eine grundlegende orthografische Fähigkeit. 
Gliedern in orthografischem Sinne heißt Morpheme zu erfassen (*vertig, Vortsetzung, Schietsrichter, entlich usw. gehen nicht, weil …)
Deshalb sind Operationen, die Gliederungen und überhaupt Manipulationen an und mit Wörtern erfordern, gut für Tranparenz und Orthografie. 
Und deshalb geben wir Kindern Gliederungshilfen und –instrumente in die Hand (vgl. GRUNDWORTSCHATZ, das Wörterbuch für die Grundschule). Dort werden Wortfamilien über ihren typografisch (halbfett) ausgezeichneten Wortstamm zu einer Einheit zusammengestellt. Zugleich werden die einzelnen  Wörter durch die ‚Betonung‘ des Stamms in ‚Vor-, Haupt- und Nachteile‘ gegliedert, wenn sie den Vorsilben und Endungen aufweisen.
Es erweist sich als sehr hilfreich, Kindern Aufgaben und ein Instrument zu stellen, an und mit denen sie sich sowohl vorhandene Wörter erschließen als auch leere Muster mit passenden Wörtern füllen können.
  

Wie ist was zu lernen? (Wörter brauchen gute Umgangsformen)
Obwohl es hier um Rechtschreibung gehen soll, geht es nicht um Rechtschreibübungen.
Es geht um bewusste Umgangsformen mit Wörtern, um das Sammeln, das Ordnen, das Bilden, um Spielen – ja vielleicht in Ansätzen auch um Forschen. Neugier, Fragen, Wissenwollen, das Erforschen ihrer Welt – damit lässt sich die natürliche Einstellung von Kindern beschreiben. Sie sind gewohnt, etwas noch nicht zu wissen, etwas noch nicht (genug) zu verstehen, aber dies wissen, verstehen zu wollen. Insofern ist der Ansatz forschenden Lernens einer, der ihnen entspricht. Inwieweit gilt dies für Schule und Unterricht, für Sprache, Schrift und Orthografie? 
Sprache ist nicht einfach Gegenstand und allemal kein einfacher Gegenstand. Er liegt auch „sprachfern“ aufwachsenden Kindern nicht gleichermaßen nahe. 
Forschendes Lernen in diesem Bereich bedarf deshalb einer vorsichtigen Begrenzung und Differenzierung. Das Erforschen von Schreibweisen, von Regularitäten ist anspruchsvoll. Die Logik des Gegenstandes ist nicht einsinnig: Sie realisiert – wie oben angedeutet – unterschiedliche, widersprüchliche Prinzipien. Unsere Orthografie ist zudem im Laufe der Zeit fest geworden. Sie ist deshalb nicht aus einem Guss, realisiert bestimmte Interessen, (Macht)Positionen und bewahrt Überkommenes auf, das nur deshalb noch gilt. Einiges davon wird im Zusammenhang der Reform gerade korrigiert.
Die Logik der Orthografie zu erforschen ist zugleich Programm für Linguisten wie auch ein instruktiver Weg von Kindern zur und in die Schrift. 
Allerdings: Individuelles, auf sich selbst gestelltes Forschen etwa von Viertklässlern, ist wenig aussichtsreich. 
Erfolge – also brauchbare Antworten auf Fragen; Erkenntnisse als ein Aha; Erklärungen, die generell stimmen – sind nicht (leicht) zu haben und für Kinder ohne kompetente Hilfe wenig wahrscheinlich.
Didaktisierungen – allzuoft eine Krux der Lehrerei – sind hier nötig als der Versuch, Aussichten zu eröffnen und Erfolge wahrscheinlich zu machen.
Forschen in der Rechtschreibung ist deshalb zu lenken. Fragen sind – allemal als Modelle – vorzugeben. Verfahren sind zu modellieren.
  

Vier Vor-Formen des Forschens
Als Vorschlag einer Systematisierung lassen sich vier Zugriffe unterscheiden, Vorläufer einer komplexeren Forschung, die hier mit Beispielen bebildert werden sollen. Und wie so oft überlappen sich Bereich, sind nicht klar voneinander abzugrenzen. Dennoch: Es lassen sich verschiedene Akzente und Unterschiede ausmachen.
  
-          Sammeln
Wörter unter einem bestimmten (nicht unbedingt orthografischen) Gesichtspunkt sammeln.
  
-          Ordnen
      Wörter zwei oder mehr Kriterien/Kategorien zuordnen.
        
      Bilden
Wörter nach vorgegebenen Mustern suchen/bilden.
  
-          Spielen
Wörter manipulieren, mit Bedeutungen, Grenzen der Geltung von Regeln, Klängen, Schreibweisen und anderem spielen.
   
Sammeln 
Sammeln ist immer schon Auswählen. Wer Muscheln sammelt, nimmt nicht alle, sondern sucht bestimmte aus. Die seltenen, die raren sind die Ausgezeichneten. Die Besonderen werden gesondert. Man hat Kriterien, wenn man sammelt: eigene oder fremde. Und gesammelt wird fast alles. Also lassen sich auch Wörter sammeln. Gesichtspunkte gibt es in Fülle und auf jedem Niveau. Das Wörtersammeln ist eine individuelle, in der Regel kollektive Rekapitulation des je eigenen Sprachwissens.
   
Kognitiv bedeutet eine solche kategorisierende Zuschreibung Ordnen. 
  
Aufgabe: Es gibt im Deutschen 11 Formen der Pluralbildung. Finde sie heraus und nenne zwei Beispiele für jeden Typ!
  
Didaktischer Kommentar:
Nicht um das Ergebnis, sondern um den Prozess geht es: Der Weg ist das Ziel. Der Weg besteht aus Operationen, aus sehr vielen. Herauszufinden sind die Modifikationen, mit denen jeweils der Plural gebildet wird. 
So sieht die Gedankenarbeit beispielsweise aus:
Der Löffel – die Löffel (gleiche Form); das Messer – die Messer (gleiche Form: derselbe Typ); die Gabel – die Gabeln (plus n); der Herd – die Herde (plus e und zugleich ein ‚Teekesselwort‘: die Herde – die Herden (plus n wie bei Gabeln) usw.
Um alle elf Typen mit je zwei Stellvertretern zu finden, muss ein Kind sicher mehr als 300 – 400 Operationen gedanklich vollführen. Diese Operationen werden zwar in traditionellen Übungsformen, in denen fünf, sechs oder sieben Singularformen mit einem Schreibraum für den Plural vorgegeben werden, auch intendiert – aber nur sehr beschränkt realisiert, eben 5, sechs oder 7 mal. 
Der Wert: Viel Kopfarbeit – geschrieben werden höchstens 22 Wörter.
Rücksicht: Zweitsprachlerner wissen oft die Pluralformen noch nicht. Für sie bedeutet dies Wörterbucharbeit. Eine gute Chance, beides zu lernen!
  
Aufgabe: Helmut • Katrin • Sebastian • Udo …
Welches Wort passt nicht in die Reihe?
  
Didaktischer Kommentar:
„Odd-man-out“ ist eine besondere Form von Sammelaufgaben. Solche Aufgaben zu machen ist so bereichernd wie sie zu lösen. Das Prinzip: Drei Fälle folgen einer Regel – ein vierter nicht. Der ist zu finden.
(bekannt ist dieser Typ u.a. aus Intelligenztests)
Herausfällt entweder Katrin (weil es ein Mädchenname ist), Sebastian (weil das Wort vier Silben hat), Helmut (weil das Wort zwei Wortstämme ‚in sich hat‘: Helm und Mut) oder Udo (weil der Stammvokal lang ist). Der Reiz: Es gibt mehrere Hinsichten, in denen Regeln gefunden werden können. (Solche Mehrdeutigkeit wollen wir Kindern gern ‚ersparen‘ und vereindeutigen oft fassettenreiche Zusammenhänge.)
Diese Mehrperspektivität ermöglicht es, geradezu jedes (orthografische) Thema in einer solchen Aufgabe ins Spiel zu bringen – und dies, ohne es ‚erklären‘ zu müssen. Kinder (und wir auch) können oft leicht sagen, dass ein bestimmtes Wort herausfällt, aber damit noch nicht weshalb.
Bestimmte Bereiche unseres (grammatischen/orthografischen) Wissens können wir ohne es als Können auch zu wissen. Wir können sagen  ‚wie so‘ aber oft nicht ‚warum so‘. Wir sprechen und schreiben und befolgen dabei Regeln. Wir befolgen sie, ohne sie als Regeln sagen zu können. Es scheint so, als ob wir sie wüssten, als ob wir ihnen folgten. Fälschlich wird sogar oft gesagt, dass wir Regeln ‚anwendeten‘. Aber das setzte ja voraus, dass wir zuerst etwas haben, das wir dann an-wenden  würden.
  
In unserer Sprachdidaktik geht es um beides: den unbewussten und den bewussten – über Zwischenformen verlaufenden – verstehenden Regelbildungsprozess zu klären. Im ersten Fall bleiben die Regeln implizit, es handelt sich um ein ‚knowing that‘; der zweite Fall, die bewusste, erschließende verstehende Form erfüllt die Bedingungen einer Problemlösung.  Ein solcher Zugriff führt zu einem ‚knowing how‘, zu einem verfügbaren Können und Wissen. Durch häufigen Gebrauch können solche ‚gewussten Inhalte‘ (Schreibweisen, Regelungen) sedimentieren, d.h. zur Routine werden, deren Herkunft und Erklärung zu verschwinden scheint.
  
Damit tun sich für unsere Didaktik zwei Forschungs-)Fragen auf: Welche Inhalte (Regeln, Regelungen, Bereiche) werden in einem unbewussten Verfahren als implizite Muster gelernt und produziert? – Welche Bereiche sind es, die (notwendig ?) wissentlich – also in einem eher durch Verstehen zu kennzeichnenden Prozess –  angeeignet werden?
  
Ein Fall für eine implizite Aneignungsform dürfte die sprechtaktisch erworbene silbische Gliederung von Wörtern sein; eine Fall des zweiten Typs die Ableitung von Umlautschreibungen: Verkäuferin kommt von ‚kaufen‘, deshalb mit äu.
  
Unabhängig von der Antwort, welche Bereiche es denn sind, die ohne explizites Lernen angeeignet werden: Wenn wir eine Lernlogik unterstellen, so wie sie etwa in den Modellen von Uta Frith über Klaus Günther und Gerheid Scheerer-Neumann  bis Peter May vergelegt worden sind, zeigen uns die ‚typischen Schreibungen‘ (Graphemtreffer und Fehler in ihren typischen Abfolgen) Punkte in einer jeweiligen Lerngeschichte, an denen Anstöße die ‚Zone der nächsten Entwicklung‘ eröffnen könnten. Dann wird es für Lerner hilfreich sein, ein Problem als solches anzunehmen und anzugehen.
  
Dies wird immer ein bewusster Akt sein, in dem Operationen, die Gliederung eines komplexen Wortes, die Bildung einer Analogie, einer Ableitung, einer Verlängerung vorkommen.
Die implizite Musterbildung als Form des Lernens ist nicht das Problem, auch die Bereiche, die wesentlich als implizite Regeln ausgebildet werden. Sie funktionieren so-wie-so. Es gilt nur, sie nicht durch Unterricht zu stören. Das Problem ist die Resignation als unterlassene Hilfeleistung, die darin besteht, Kindern keine entsprechenden Anregungen, Ordnungen und Aufgaben geben, die ihnen helfen, dies selbst zu tun. Es hilft in der Frage bewusster oder unbewusster Regelbildung nicht, sie Diktate schreiben zu lassen, ihnen Fehler anzustreichen und ihnen immer wieder die gleichen Phänomene zur Übung zu bieten.
Einen Zugang  bietet odd-man-out .
Die Differenz und die Übergänge der Regelbereiche bzw. der kognitiven Operationen, die verständig gelernt und – durch häufigen Gebrauch routinisiert – und damit bedenkenlos produziert werden.
Armut • Anmut • Hochmut •
  

Ordnen
Das Ordnen ist dem Sammeln verwandt. Doch liegt das Material, das es zu ordnen gilt, meist vor, vieles im Kopf, mehr noch in gedruckten Formen. Ordnen bedeutet Differenzen und Ähnlichkeiten wahrzunehmen, zu unterscheiden und zusammenzufassen. Dabei werden die Ordnungen immer feiner.
  
Aufgabe: 30 Tierbilder sind untereinander in der Mitte einer Seite vorgegeben. 
Darüber steht lang oder kurz?
Schreibe die Namen der Tiere mit einem langen Vokal links neben das Bild und die mit kurzem rechts. 
(Bei der Bestimmung der Bilder hilft ein entsprechendes Wörterbuch.) Fokus ist der (betonte) Stammvokal (Ka’kadu, Gori’lla). Für die Statistik (s.u.) lassen sich auch noch die bezeichneten Vokale erheben.
  
Um Ordnen und Ordnungen der Laute und Buchstaben, der Silben und Bausteine, der Wörter und Wendungen geht es beim Lernen von Sprache und ihrer Orthografie. Hier sind es (wieder) die Ähnlichkeiten und Unterschiede sogenannter langer und kurzer Vokale. Sie zu ordnen, lautlich und nach buchstäblichen (Länge- und Kürze)Zeichen könnte ein kleines Forschungsprojekt werden. 
Gegenstand wäre einerseits das quantitative Verhältnis zwischen ‚lang‘ und ‚kurz‘: „Gibt es mehr lange oder kurze Stammvokale?“ und das Verhältnis von bezeichneter und unbezeichneter Länge: „Gibt es mehr Wörter mit langem a mit h oder ohne?“ 
Die Kinder, die auf die erste Hypothese setzen (mehr langes a mit h), suchen Belege dafür, die anderen solche für die Gegenthese (ohne Längezeichen). Alle Hilfsmittel sind zugelassen. Das Ergebnis – wenn es hinreichend fundiert ist – wird ein Verhältnis von etwa eins zu drei erbringen. Und wer mag, kann in dieser Liste der Wörter mit h weitere Ordnung finden (ge-hen vs. fah-ren). Und natürlich kann man die Ergebnisse für die fünf Vokale vergleichen und feststellen, dass es bei dem langen i gerade umgekehrt ist. (Darstellungsformen: Diagramme, prozentuale Kuchensegmente)
Interessant ist aber nicht nur die Verteilung von Länge und Kürze, sondern auch, wie man diese Unterscheidung lernen kann;  d.h. wie beides geregelt ist und welche Konsequenzen unterschiedliche Regelungen für das Lernen, bzw. für bestimmte Operationen zur Entscheidung haben. 
In aller Kürze: Die Längebezeichnung durch h, e und Verdoppelung des Vokals ist wort(familien)spezifisch geregelt. Kinder müssen es sich jeweils merken. (Bestimmte Regelmäßigkeiten, die Bezeichnung bedingen, helfen Kindern nicht als explizite Information.)
Die Kürzebezeichnung dagen ist für einen großen Geltungsbereich mit explizierbaren Regeln gut zu fassen.  (Wenn nach kurzem Vokal am Stammende nur ein Konsonant klingt, wird er verdoppelt. Der häufigere Regelfall sind zwei oder mehr Konsonanten am Stammende.)
Dieser Unterschied der Regelung (Längebezeichnung wortbezogen/Kürzebezeichnung systematisch breit geregelt) legt unterschiedliche Strategien des Lernens nahe: sich Fälle zu merken und sich Schreibweisen zu erschließen.
   

Bilden
Wörter nach vorgegebenen Merkmalen und Mustern zu bilden, ist natürlich auch ein Sammeln und Ordnen, doch liegt der Akzent stärker auf der Komposition, der Analogie, der Bildung eben. (Wörter sind ‚gebildet‘.) 
  
Musterbeispiel für diesen Typ:
Aufgabe: Suche fünf Wörter, die so gebaut sind: die Sommersonne oder gar Wasserratte.
  
Didaktischer Kommentar:
Die Vorgabe fungiert als Muster. Das ist – wenn es mehrere Fälle gleicher Bildung sind – häufig leichter verständlich als eine verbale Beschreibung. Natürlich kann man auch kombinieren: Suche 3 Wörter mit 2 Kürzezeichen. Eines soll am Stammende stehen. Gummiball, Rolltreppe, Stoffpuppe.
Aufgaben, die über Muster funktionieren, ermöglichen gezieltes Operieren schon ohne terminologisches Gerüst. Das ist – wie auch bei den „odd-man-out-Aufgaben“ – ein Vorteil: Kinder arbeiten mit ihrem impliziten Wissen, konzentrieren sich aber auf bestimmte Merkmale und Operationen, was ihnen aber auch ein begriffliches Erfassen nahelegt.
So können – im Laufe der Zeit – Begriffe (Termini) entwickelt werden, in denen die Erfahrungen aufgehoben werden. 
  
Die Lösung solcher Wortbildungsaufgaben erfordern bewusste Regelbefolgungen. Sie ermöglichen, mit  steigendem Anspruch zunehmend explizite Merkmale, Operationen und Regeln direkt und auch ausdrücklich zu fassen. Dies sind Schritte auf dem Weg zu „orthografischen Gesprächen“, „Forscherrunden“ (Chr. Erichson), also das Sprechen über Sprachliches. Und genau hier liegt die Kupplung zwischen implizitem Können und explizitem Wissen und damit auch der Ansatz für Lehre.
  
Weitere Aufgaben dieses Typs:
Finde Wörter, die so gebaut sind: die Wüste, der Mond, der Husten;
Finde Paare, die sich drehen lassen: Milchtüte –Tütenmilch, 
Schuhmode – Modeschuh, Zugvogel – …
Einer zu viel: Schläferhund, Mietzekratze, Schmusestier
So viel Konsonanten wie möglich hintereinander: 
du denkst (4), du wäschst (5), du wünschst (6), du herrschst (7), ..?.. (8) 
Immer derselbe: moonboots, die Seeelfe, ….
   

Spielen
Das Sprachspiel ist ein Spiel mit dem Fehler, ein Spiel mit Bedeutungen, Klängen, Schreibweisen, die nicht (ganz) stimmen, zumindest so ganz ungebräuchlich sind: das Probieren an der Grenze der Regeln, die sich eben durch den bewussten Grenzgang konturieren.  
  
Aufgabe: 
Reime! Eine Kuh macht Muh –
              Viele Kühe machen ….  (Hätten Sie das gewusst?)
Reime, die in die Irre führen: 
schlagen – schlug                   biegen – bog
tragen – trug                           wiegen – wog
klagen – klug                           liegen – log
                                                       Findest du solche ? 
  
Sprachspielvorschläge und Spiele selbst gibt es reichlich. Das ‚Sprachbastelbuch‘ z. B. bietet viel Anregendes, Verschiedenes. In der Sprachspiel-Kartei () Klett sind viele für den Unterricht zubereitet. Hier ist nicht der Raum, sie zu typisieren. 
Annagramme zu basteln, Wörter in Wörtern zu finden, zu scrabbeln, die Bedeutung von Wörtern typografisch zu verdeutlichen, Geheimsprachen zu entwickeln stellen sehr unterschiedliche Umgangsformen mit Sprache dar und haben unterschiedliche Nähe zu einer forschenden, wissenwollenden Haltung. Den URAL in uralt oder die MAUS in Raumausstatter zu finden (Morphemgrenzübergang) wird unseren didaktischen Intentionen vielleicht direkter entsprechen als das bedeutsame Wörtermalen.
Aber es geht ja beim Spielen mit Sprache, wie auch beim Sammeln, Ordnen und Forschen überhaupt, nicht um ein Lehren von Sprache, sondern um soziale Umgangsformen in der Klasse, in denen es gängige Praxis ist, über Sprache zu sprechen.
Unser Interesse als Sprachlehrer, unser interessierter Umgang mit Sprache kann den Kindern zeigen, welch reicher Gegenstand ihre eigene Sprache, ihr eigenes Können schon ist.
  


Der Text von Heiko Balhorn erschien in der Zeitschrift PRAXIS DEUSCH (Heft 170, Nov. 2001, 28. Jahrgang, Friedrich Verlag, Velber)
  
Der Autor ist Professor für Sprachdidaktik an der Uni Hamburg. Er war Uhrmacher, Lehrer, ist Verleger und war lange Zeit gemeinsam mit Hans Brügelmann Herausgeber der Jahrbücher der DGLS. Wie Kinder lernen ist sein Interesse; Lernen auch durch Materialien zu unterstützen seine Ambition. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Lehrerfortbildung. Seine (und andere) Materialien für den Unterricht erscheinen im "verlag für pädagogische medien (vpm)".
 

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