Lesen Sie dazu eine Stellungnahme von Renate Valtin, Vizepräsidentin der DGLS.
Sind die neuen PISA-Ergebnisse Grund zur Freude?
Auf den ersten Blick: Ja:
Von PISA 2000 über PISA 2003 bis PISA 2009 hat sich Deutschland von
484, über 491 auf 497 Punkte verbessert – eine erfreuliche, signifikante
Steigerung von 13 Punkten. Deutschland liegt damit nahe am
OECD-Mittelwert von 493 Punkten.
Erfreulich ist auch die Senkung der
Zahlen der Jugendlichen, die unterhalb von Kompetenzstufe 2 lesen: von
22,6 Prozent auf 18,5 Prozent. (Gleichzeitig ist der Anteil der
Jugendlichen, die eine Hauptschule besuchen, von 22 auf 19 Prozent
gesunken – ein Schelm, wer da einen Zusammenhang vermutet?). Insgesamt
sind dadurch die sozialen Disparitäten geringer geworden.
Auf den zweiten Blick: Na ja.
Die Leistungssteigerung geht ausschließlich auf das Konto der
Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die sich erfreulicher Weise um
26 Punkte verbessern konnten – wenngleich der Abstand zu den deutschen
Jugendlichen mit 44 Punkten weiterhin groß bleibt. Aber: deutsche
Jugendliche sind in ihrer Lesekompetenz gleich geblieben, auch die
Gymnasiasten haben sich nicht gesteigert.
Nein, aus der Sicht von IGLU und der Grundschule.
Im Vergleich mit den Leseleistungen der Viertklässler, wie sie in IGLU
2001 und 2006 gemessen werden, haben die so genannten weiterführenden
Schulen es nicht geschafft, das „Kapital“, das die Grundschule bereit
gestellt hat, zu erhalten. Dies lässt sich an mehreren Punkten ablesen:
-
Die günstige Position Deutschlands im internationalen Vergleich wird
nicht gehalten. Deutschland liegt bei IGLU 2006 mit 548 Punkten
signifikant über dem OECD-Mittelwert von 537.
- Die Unterschiede
zwischen Mädchen und Jungen sind größer geworden. Bei IGLU beträgt die
Differenz 7 Punkte, bei PISA 40. Selbst in der Gruppe der schwachen
Leser ist bei den Viertklässlern das Geschlechterverhältnis ausgewogen,
während bei PISA der Anteil der Jungen unter Kompetenzstufe 2 bei 24
Prozent, der der Mädchen „nur“ bei 13 Prozent liegt. Während es also der
Grundschule gelingt, die Jungen in ihrer Lesekompetenz zu fördern, ist
das in der Sekundarschule nicht der Fall.
-- Der Leistungsabstand
zwischen Kindern aus dem oberen und dem unteren Quartil der sozialen
Herkunft beträgt bei IGLU 67, bei PISA 105 Punkte.
- Besonders
gravierend ist der Motivationsverlust: Bei IGLU geben 14,2 Prozent der
Viertklässler an, außerhalb der Schule nie oder fast nie zum Vergnügen
zu lesen. Dieser Wert ist signifikant günstiger als in den beteiligten
OECD-Staaten (mit 18,4%). Bei PISA geben 41 Prozent der Jugendlichen an,
nicht zum Vergnügen zu lesen – im OECD-Durchschnitt sind dies lediglich
37 Prozent. In allen OECD-Staaten ist also bei Jugendlichen ein Schwund
an Lesefreude zu verzeichnen, allerdings nicht so stark wie in
Deutschland.
Die Ergebnisse insgesamt verweisen darauf, dass die
sieben Handlungsfelder, die von der KMK herausgestellt worden sind,
nicht ausreichen, um eine Steigerung der Lesekompetenz und eine Abnahme
des Einflusses der sozialen Herkunft auf die Schulleistungen zu
bewirken.
Merkwürdiger Weise wird von der KMK das Ziel „durchgängige Verbesserung der Lesekompetenz“
nicht für die Sekundarstufe genannt, sondern nur für die Grundschule -
und die signifikante Verbesserung der Leseleistung von IGLU 2001 zu 2006
beweist, dass die Grundschule hier ihre Hausaufgaben gemacht hat. Es
ist dringend notwendig, auch im Unterricht der Sekundarstufe Maßnahmen
zur Verbesserung der Lesekompetenz zu ergreifen- zeigen doch die
IGLU-Ergebnisse, dass über ein Drittel der Schülerinnen und Schüler am
Ende der Grundschule auf einem Kompetenzniveau liest, das es ohne
zusätzliche Förderung nicht erlaubt, den anspruchsvolleren Leseaufgaben
in der Sekundarschule gerecht zu werden. Laut PISA zeigen die deutschen
Schülerinnen und Schüler vor allem Schwächen im Teilbereich Reflektieren
und Bewerten. Hier sollte im Unterricht gezielt angesetzt werden, damit
die Jugendlichen lernen, Gelesenes kritisch zu bewerten und darüber zu
reflektieren.
Die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben hat
„Zehn Rechte des Kindes auf Lesen und Schreiben“ aufgestellt. Sie sind
weiterhin gültig und längst noch nicht verwirklicht.
Und
schließlich: Auch die Schulstruktur gerät wieder einmal in die
Diskussion. Die OECD stellt fest: Der Leistungsabstand zweier Schüler
mit ähnlichem sozialen Hintergrund beträgt in Deutschland mehr als 100
PISA-Punkte, je nachdem, ob er auf eine Schule mit günstigem oder
ungünstigem Umfeld geht. In keinem anderen Land hat ein sozial
ungünstiges Schulumfeld einen derart starken Einfluss auf die Leistungen
von Kindern aus sozial schwachen Familien. Sozial ungünstige Schulen,
das wissen wir aus den Ergebnissen zu den „differenziellen
Entwicklungsmilieus“, sind solche, in denen sich in der Mehrzahl die
Verlierer eines gegliederten Schulsystems befinden. Und in Deutschland
ist die Zahl der Verlierer oder „Ausgesonderten“ besonders hoch: 24
Prozent werden nach Angaben von PISA 2009 auf Grund von schwachen
Schulleistungen, Verhaltensproblemen oder speziellen Lernbedürfnissen
abgeschult. In den PISA-Siegerländern Finnland sind es nur 1.7, in Korea
und Kanada unter 10 Prozent.
Kurzum: Auch die neuen PISA-Ergebnisse werden uns noch weiter „piesacken“.
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