Das Ziel der Dichtung ist Gesang – Ute Andresen vom Klang der Worte

Es scheint, dass die Schule heute vergessen hat, dass Gedichte nicht nur stumm zu lesen, sondern auch und vor allem zu sprechen sind. Nur die Stimme kann sie ganz erfahrbar machen. Die Scheu davor lässt sich leicht überwinden, wenn Kinder uns helfen.

Wie kann man, wie soll man Kinder mit Gedichten bekannt und vertraut machen? Was muss man ihnen zeigen, was erklären, was vormachen im Umgang mit Dichtung? Muss man erreichen, dass Gedichte sie richtig verstehen? Wie ist das möglich? Reicht es, dass sie Geschmack an dem einen oder andern Sprachkunstwerk finden? Oder genügt es, dass sie irgendetwas damit tun? - Die Schule ist leider oft ungeschickt, wenn sie uns mit Gedichten zusammenbringt. Viele Erwachsene fühlen sich seit ihrer Schulzeit dumm gegenüber Gedichten und weichen ihnen aus. Fragt man dieser „Dummheit“ nach, so entdeckt man ziemlich regelmäßig eine doppelte Kränkung: Die Gefühle und Gedanken, die ein schönes, eindrucksvolles, bewegendes Gedicht vor jeder Interpretation weckt, sind im Unterricht nicht gefragt, werden überhört, beiseite geschoben, missachtet. Und will man im Unterricht mitarbeiten, ist man gezwungen, mit eigenen Worten zu stümpern, wo das Gedicht gültig spricht. Das mag unklar wie ein Verrat am Gedicht und dem eigenen Empfinden erlebt werden.

Die didaktische Bevormundung von Gedichten beginnt heute schon ganz früh. Folgt man den Stundenentwürfen in Zeitschriften und Handbüchern für den Grundschulunterricht, kommt auch der einfachste Kindervers nicht ungeschoren davon. Er muss befragt und gedeutet, zerschnitten und umgestellt, verwandelt und bebildert werden. Nur zu Gehör gebracht wird da selten etwas. Und auswendig gelernt noch seltener. Dabei sind Kinder im Grundschulalter fürs Auswendiglernen sehr begabt. Und sie schätzen ihre kleinen Sprachbesitztümer, wenn sie erst einmal ihr eigen sind. Seit vielen Jahren wiederholt sich diese Erfahrung mit Kindern, die für jeden neuen Buchstaben ein kleines Gedicht lernen, für L und l zum Beispiel (1):

Liebt der Löwe Löwenzahn?
Das kann ich dir nicht sagen.
Willst du wissen, was er liebt,
musst du den Löwen fragen.

Besonders auffällig ist die Freude am inwendigen Sprachbesitz bei Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Klang, Reim und Rhythmus machen ihnen kleinste Sprachgebilde kostbar, grad wenn sie noch längst nicht mit jedem Wort und jeder Wendung darin frei umgehen können. So ist das eben mit Gedichten: Sie mögen uns fremd und lieb zugleich sein, wenn wir ihren Sinn nicht getrennt vom Klang zu finden versuchen, uns die Begegnung mit ihnen unbefangen zutrauen und uns ihnen so achtsam und herzlich zuwenden, wie es künftigen Freunden zukommt. Vor der Schule konnte das ganz selbstverständlich geschehen.

Klang, Rhythmus, Reim und Geheimnis in Bildern aus Sprache

Das Kind lag im Bett der Großeltern auf der Besuchsritze und sollte schlafen. Im Balkonzimmer nebenan war Fräulein Swoboda zu hören: Es zogen zwei Sänger zum säuselnden See, / zart sangen zur Zither sie Tänze, … Fräulein Swoboda war rotgelockt aus Wien nach Bremen gekommen, wohnte bei den Großeltern zur Untermiete und wollte zum Theater. Ein Wesen verwandt mit Goldmarie und der Königstochter, die mit dem Kopf ihres weißen Pferdes redete: O Fallada, da du hangest. Und der Kopf antwortete: O du Jungfer Königin, da du gangest. Die Märchen mit ihren Versen gehörten der Mutter. Sie waren daheim geblieben. Hier tönten abends Fräulein Swobodas Verse, immer wieder, fremd und unheimlich: Barbara saß nah am Abhang, / Sprach gar sangbar – zaghaft langsam; / Mannhafft kam alsdann am Waldrand / Abraham a Santa Clara! Das Kind ahnte eine Bedrohung: Barbara könnte abstürzen! Wenn nicht Abraham gekommen wäre …

Alle Erwachsenen sprachen manchmal in Versen und festen Wendungen, boten dem Kind Sprache als Spielzeug an. Wie das Fähnchen auf dem Turme / sich kann drehn bei Wind und Sturme … begann ein Stücklein zum Trost und Hutsche, hutsche, hutsche, /horch, da kommt die Kutsche! wurde zur Eile gemahnt. Mit So fahren die Damen, / so fahren die Damen. / So reiten die Herren, / so reiten die Herren. / So zockelt der Bauer, / so zockelt der Bauer / zum Tore hinaus schwebte, hopste, rumpelte das Kind auf den Knien der Großen. An der Hand des Großvaters hörte es über den steinernen Mann mit den spitzen Knien: Rrroland der Rrriese am Rrrathaus zu Brrremen, stand er ein Standbild standhaftundfest.

Die Großmutter, die arm aus Ostpreußen gekommen war, deklamierte, während sie Kartoffeln schälte: Urahne, Großmutter, Mutter und Kind / in dunkler Stube beisammen sind. Und ließ das lange, lange Gedicht dann enden: Vier Leben enden mit einem Schlag. / Und morgen ist Feiertag. Das wollte das Kind immer wieder hören. Auch die Glocke, den Taucher und den Handschuh, mit dessen letzten Zeilen es lernte, was wahrer Stolz ist: Und wirft ihr den Handschuh ins Gesicht: / Den Dank, Dame, begehr ich nicht! / Und verlässt sie zur selbigen Stunde.

In meiner Erinnerung ist die Kindheit voller Gedichte. Auch beim Spielen ums Haus gab es Gedichte, Abzählverse , die beim Fangspiel und zur Ballprobe zu sprechen waren. Manche durften Erwachsene nicht hören.

Die Stimme verlieren und wiederfinden

Als die Schule verlangte, Gedichte zu lernen, sollten die nicht nur auswendig gesprochen, sondern auch richtig betont werden, und waren doch meist nur leiernd zu sprechen. Das vom Vater verlangte Gedicht unterm Weihnachtsbaum sollte feierlich klingen und geriet etwas peinlich. Im Unterricht wurde mehr und mehr über Gedichte geredet, sie selbst kamen kaum noch zu Wort. Der Sprachzauber erlosch. Gedichte waren kein Spielzeug mehr, keine Geschenke aus Klang, Reim, Rhythmus und Geheimnis. Sie stellten Ansprüche, verwandelten sich in Aufgaben, denen die meisten in der Klasse kaum genügen konnten.

Nur das Auswendiglernen war mein Teil, das tat ich für mich. Es fiel mir auch leicht. Wenn ich aber an immer denselben Stellen hängenblieb, dann allerdings regte sich Widerwillen. Leider hat mir damals niemand gesagt, dass ich beim Auswendiglernen manches über mich selbst erfahren könnte, wenn ich mich selbst fragte, warum es grad immer an dieser bestimmten Stelle hakte. Und niemand hat mir gezeigt, wie man methodisch auswendig lernt. Selbst Kinder im dritten Schuljahr sind schon dazu bereit. Manche finden es sehr interessant. Und alle, auch die, die ein Gedicht nicht lernen wollten, sind froh und stolz, wenn sie es am Ende sicher können. Nichts ist so deutlich geistiger Besitz, wie ein auswendig gelerntes Gedicht.

Meine ganz eigenen Gedichte fand ich später unter der Bank, wenn ich mich heimlich in der dicken Anthologie, die die Schule uns für die letzten Klassen geliehen hatte, von der Seite wegblätterte, die eigentlich dran war. Manche Funde habe ich auswendig gelernt, hab sie mir selbst gesprochen und hab sie behalten. Sie gehören mir immer noch. Ob ich diesen Weg in die Dichtung gefunden hätte ohne all die Erwachsenen, die ihre Sprachlust mit mir geteilt haben, als ich noch nicht lesen konnte? Sie hatten mir die Ohren geöffnet. Die wollten nun hören, was auf dem Papier stand. Und meine Stimme wollte gehört werden in der Sprache des Gedichts. Auch von fremden Ohren, denen ich gerne vortrug, was mich nicht gar so tief berührte, nüchtern-ironische Verse von Kästner und Tucholsky. Ihren Witz konnte ich leichthin mit anderen teilen.

Ulla Hahn erinnert im Vorwort ihrer Anthologie Gedichte fürs Gedächtnis zum Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen mit Nachdruck daran, dass Sinn und Klang der Wörter verbunden blieben, so lange man mit Stimme las, „mit dem Gaumen des Herzens“, wie Augustinus sagte. In der Neuzeit wurde das Lesen still, die sinnliche Erfahrung beim Lesen reduzierte sich auf das Auge. Aber „Wörter wollen gehört sein. Wenn wir wieder begreifen wollen, was ein Gedicht in seinem Kern ausmacht, müssen wir es wieder in den Mund nehmen. Jedes Wort hat einen Körper, einen Klangkörper. …

Ein Gedicht Wort für Wort immer wieder neu hervorzubringen, seinen Körper aus Vokalen und Konsonanten zu erforschen, ist eine ganz und gar sinnliche Erfahrung. Zu der vorwiegend analytisch-intellektuellen Annäherung an das Gedicht, wie sie heute vorherrscht, ist diese sinnliche Erfahrung eine unabdingbare Ergänzung. Die Wörter im Mund zu formen, ist ebenso Teil des Genusses, wie den Klang in der Luft zu hören. Man beobachte nur einmal Kinder, wenn sie ihre ersten Verse lernen. Ihre Freude am Reim, an der Wiederholung, an der Hebung und Senkung der Silben. Das Ziel der Dichtung ist Gesang.“ (2) Das heißt: Was wir finden werden, wenn wir das Ziel erreichen, können wir an den Kindern, die wir einmal waren, schon beobachten.

Was spricht das Gedicht?

Es ergibt sich daraus auch eine Regel für das Sprechen von Gedichten in der großen Gruppe, der Schulklasse. Eine Regel, die man als Lehrerin einführen und beherzigen kann, auch wenn man sich nicht so recht zuständig weiß für die Behandlung von Gedichten. „Sprich das Gedicht so, dass du dir selbst zuhören kannst und spürst, was du sprichst.“ Die auf Effekt zielende Betonung können wir getrost denen überlassen, die jahrelang das Sprechen für die Bühne üben. Wir sitzen im Kreis, so dass wir gehört werden, auch wenn wir nur verhalten sprechen, und achten auf uns selbst und auf die Worte, die wir Laut werden lassen, Lautgebärde, Ausdrucksgebärde. Übt man das für sich allein mehrmals hintereinander, wird man beobachten, wie sie sich von mal zu mal verändert. “Was sag ich denn da?“ hört man sich zu. „Was sagt das Gedicht?“ Und schließlich: „Was weiß es von mir?“ Das Dummsein gegenüber Gedichten löst sich auf, wenn wir beginnen, auf das Echo, auf die Resonanz zu horchen, die ein Gedicht in uns selber findet.

Die Aufgabe der Schule sollte es sein, in den Kindern den ursprünglichen Resonanzraum für Dichtung offen zu halten und zu weiten, oder ihn auch zu öffnen, wenn er sich früh verschlossen hat. Das ist aber nur möglich, wenn wir den Gedichten unsere Stimmen geben und unseren Atem. In meiner Zeit als Lehrerin habe ich so im großen Kreis wie in kleinen Gesprächsgruppen erfahren, dass Grundschulkinder dichterischen Sprachgebilden so unbefangen begegnen können wie Kinder vor der Schule, und dass sie mit ihren ganz persönlichen und auch ihren alltagsbefangenen Gedanken Erwachsenen die Scheu vor Gedichten nehmen können, die sich ihnen bisher entzogen. Es muss ja auch niemand schlau über ein großes Gedicht hinaus gelangen. Es ist selbst schon ein Endpunkt. Man muss es nicht einmal gleich erreichen. Es genügt, ihm etwas näher zu kommen. Man darf es nur nicht zu schnell verstehn! (3)

Wenn man die eigenen Stimmen üben will und auch die Mehrstimmigkeit erproben, findet man heute so viele gute, moderne, griffige Gedichte, dass es sich anbietet, die Kinder vom Riesenangebot frei kosten und daraus wählen zu lassen. Man findet Sprechkunststückchen leider wenig in Lesebüchern , in unerschöpflicher Fülle aber im Großen Ozean (4). Weil Erwin Grosches furioser Wörtertanz Nach dem Spülen zu lang ist, um ihn hier aufzuführen, weil man auch gleich einige Kinder und reichlich Besteck zur Hand haben sollte, um ihn ganz wirklich aufzuführen, sei hier ein anderes Gedicht von ihm zitiert.

Die kleinen Krebse
Die kleinen Krebse haben es schwer
sie krebsen und krebsen weit aus dem Meer
dann kommt das Meer und holt sie wieder
dann kommt das Meer und holt sie wieder her.

Und da unsere LeserInnen ganz sicher den Schlag der Meereswellen und die Bewegungen von Ebbe und Flut kennen, können sie sich denken, was der zweite Vers erzählt und der dritte und dann auch der vierte. Nach dem steht da nur noch und so weiter. Das bedeutet: So viele Kinder wie mitmachen wollen, können das Gedicht sprechen. Man könnte sich sogar hinten noch einmal anstellen.

Die Aufgabe ist immer dieselbe: Nicht über das Gedicht reden. Das Gedicht selbst sprechen lassen. Dem Gedicht die eigene Stimme leihen. Mit dieser Stimme das Gedicht und durch es hindurch sich selbst sprechen hören. Die behutsame, langsame, die Lautgestalt erspürende Annäherung an das Gedicht braucht die lebendige Stimme in ihrem Leib so gut wie Wörterwirbel und Satzmusik. All die verschiedenen Gedichte brauchen all unsre verschiedenen Stimmen. Arbeit mit der Stimme sollte für ein paar Jahre die didaktischen Schnellgerichte überflüssig machen, die lyrischen Fischstäbchen, lieblos kopiert und unter die Kinder gestreut, als seien sie etwas Nahrhaftes.

In fremden Sprachen lächeln

Ich betrat eine Schule. In der Eingangshalle hatten Kinder eine ganz Wand mit Gedichten behängt. Jedes Kind hatte in Büchern etwas gesucht, zu dem es sagen wollte: „Du bist jetzt mein Gedicht!“ Hatte es mit schönster Schrift abgeschrieben, vielleicht auch mit Bild oder Ornament geschmückt und es dann für alle sichtbar an die Wand gehängt. Da traf mich mit einem leichten Schlag, was ich 1991 der Anthologie Im Mondlicht wächst das Gras (5) vorangestellt hatte. Es sollte gar kein Gedicht sein, nur ein Versprechen, dessen Gedankenschritte durch je eine eigene Zeile verständlicher würden und Gewicht bekämen:

Widmung / Du bist nicht allein. / Es gibt Menschen, die wissen / was du siehst und hörst, / was du denkst und fühlst, / was dich froh macht oder traurig, / was du hoffst und fürchtest. / Sie finden Worte, es zu sagen. / Und du begegnest ihnen / in einem Gedicht, / das dich versteht.

Jetzt mahnte es mich mit fremder Kinderstimme. Ergün hatte es ausgewählt und abgeschrieben. Ein Kind, dessen Muttersprache wohl nicht Deutsch war. Hoffte er das Verstandensein in Gedichten in meiner Sprache zu finden? War er schon einmal Gedichten in seiner Muttersprache begegnet? Hielt die Schule solche Gedichte für ihn bereit? Und wie ist es mit all den Kindern, die wieder andere Sprachen sprechen? Silvia Hüsler hat in >Al fin Serafin< 47 Kinderverse aus 34 Ländern der Welt zusammengestellt. (6) Jeder Vers ist mit einer Sprechversion für deutsche Zungen und einer Übersetzung versehen. Und eine Cassette ist dem Buch beigegeben. Aber der eigentliche, der fremde Text, kann für das Gastkind nur eine Kleinigkeit, nur ein Wink im vertrauten Ton sein. Entscheidend ist der Respekt, dem wir ihm erweisen, wenn wir uns einmal um seine Sprache bemühen, wie wir es täglich von ihm für unsre Sprache erwarten.

Wenn wir ein Stückchen fremder Sprache inwendiglernen, um es auswendig sprechen zu können, werden wir bald auch ein neues Lächeln gewinnen.

Literatur:

1) Andresen, Ute/ Popp, Monika: ABC und alles auf der Welt. Neue Ausgabe, Beltz & Gelberg, Weinheim 2002, S. 75
2) Hahn, Ulla: Gedichte fürs Gedächtnis zum Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999, S. 24 f.
3) Wie man sich Gedichten im Unterricht der Grundschule nähern kann und was Kinder zu Gedichten sagen, die angeblich nicht für sie gedacht sind, ist belegt in: Andresen, Ute: Versteh mich nicht so schnell - Gedichte lesen mit Kindern. Im Taschenbuch erweitert, Beltz, Weinheim 1999
4) Gelberg, Hans-Joachim (Hrsg.): Großer Ozean - Gedichte für alle. Beltz & Gelberg, Weinheim 2000
5) Andresen, Ute/Wiesmüller, Dieter: Im Mondlicht wächst das Gras - Gedichte für Kinder und alle im Haus. Ravensburger 1991
6) Hüsler, Silivia: Al fin Serafin - Kinderverse aus vielen Ländern. Pro Juventute, Zürich 1993

Ute Andresens Beitrag ist in Heft 1 / 2003 von "JULIT", der Fachzeitschrift zur Kinder- und Jugendliteratur erschienen, herausgegeben vom Arbeitskreis für Jugendliteratur.

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