Annual Convention der IRA

Renate Valtin berichtet von der Annual Convention der IRA in San Francisco 2002 Impressionen von einem Kongress

Annual Convention der International Reading Association in San Francisco 2002

Von Renate Valtin

Die Autorin ist Professorin für Grundschulpädagogik an der Humboldt Universität zu Berlin. Für ihre Forschungen erhielt sie 1974 den Reading Research Fellowship Award der International Reading Association und wurde 2000 in die "Reading Hall of Fame" berufen. Sie ist Mitglied des Konsortiums der Internationalen Grundschul Leseuntersuchung (IGLU). Von 1972-72 war sie Präsidentin der deutschen Sektion der IRA, der heutigen DGLS.

Seit fast 30 Jahren (o je) nehme ich mehr oder weniger regelmäßig an den Weltkongressen oder den jährlichen Tagungen der IRA teil, so auch in diesem Jahr. Gemeinsam mit Ingrid Naegele habe ich einen Vortrag gehalten zum Thema:
A successful intervention program for struggling readers and spellers.
Mit 17 630 Teilnehmern war der Kongress einer der größten bislang (letztes Jahr in New Orleans waren es sogar über 19 000). Die Menge der Teilnehmer – aus 100 Nationen - ist schon deshalb erstaunlich, weil die Kosten horrend sind: IRA bietet Hotels von 160 Dollar aufwärts an (hinzu kommen die örtlichen Steuern und allerlei Nebenkosten), die Tagungsgebühren von 175 Dollar sind selbst von den Vortragenden zu begleichen. Vielleicht sind die Kosten auch ein Grund, warum relativ wenig Europäer teilnahmen. Aus deutschsprachigen Ländern trafen wir nur Jutta Kleedorfer aus Wien und Charles Berg aus Luxemburg.

Im Folgenden möchte ich über einige Höhepunkte und mir wichtig erscheinende Themen und Inhalte berichten.
Das Programm, dessen sorgfältige Lektüre schon Stunden beansprucht, umfasste an die 600 Veranstaltungen unterschiedlichsten Formats (Symposien, Vorträge, Mikroworkshops, Posterpräsentationen) mit sage und schreibe 2200 Vortragenden. Veranstaltungsorte waren 4 Hotels, so dass schon eine gewisse logistische Kompetenz vonnöten war, um die erwünschten Orte (z. Teil  mit Bussen) zu erreichen. Für die strikte Einhaltung der Zeiten sorgen die chairpersons, die den Rednern auf einem Zettel die noch verbleibenden Minuten der Redezeit ankündigen und auch schon mal die Mikrofone entziehen. Für deutsche Pädagogen, welche die wenig transparenten Kongresse der DGfE und den eher sorglosen Stil der Vortragenden gewohnt sind, ist die Professionalität der Organisation bewundernswert.
Bei aller Fülle gibt es doch gewisse immer wieder kehrende Programmelemente, die ein Muss für auswärtige Besucher bilden:
Die Veranstaltung der Reading Hall of Fame: Jedes Jahr stellen sich die neu gewählten Mitglieder in einem kurzen Vortrag vor und im Anschluss daran findet eine gemeinsame Diskussion zu einem aktuellen Thema statt. Dieses Jahr waren es Fragen der Leistungserhebung, der problematischen Bestimmung von Standards und den Risiken und Nebenwirkungen der Anwendung landesweiter Vergleichstests – nach PISA ja auch bei uns ein heißes Thema. (Die Mitglieder treffen sich übrigens schon um 7.00 Uhr zu einem gemeinsamen Frühstück, um Organisatorisches zu besprechen und über die Aufnahme neuer Mitglieder zu beraten: bislang waren es jährlich drei, nun sollen es bis zu fünf neue Mitglieder sein, welche die Aufnahmekriterien zu erfüllen haben: mindestens 25 Jahre einschlägige Forschungsaktivitäten im Bereich des Lesens. Außer mir gibt es bislang nur wenige Mitglieder, deren Muttersprache nicht englisch ist.)
Die Präsentation der Poster zu aktuellen Forschungsprojekten. Auch berühmte Leute sind sich nicht zu fein, um Poster vorzustellen. So präsentierte Kenneth Goodman, einer der Väter des Spracherfahrungsansatzes und der Theorie vom Lesen als psycholinguistischem Ratespiel, verschiedene Forschungsarbeiten des Projekts EMMA (Eye Movement and Miscue Analysis). Dabei werden die Augenbewegungen von Personen aufgezeigt, die einen Text mündlich vorlesen, und die Verlesungen ausgewertet. Goodman zeigte Ergebnisse, denen zufolge die (geübten) Leser nicht Wort für Wort abtasten, sondern in unterschiedlich langen Sprüngen lesen, und dies in Abhängigkeit vom Schriftsystem: Während amerikanische Leser längere Fixationszeiten bei Inhalts- als bei Funktionswörtern aufweisen, ist es bei Japanern umgekehrt. Sein Fazit: das Gehirn, nicht das Auge steuert den Prozess. Professor Fischer und seine Anhänger des so populären Blicklabors sollten dies einmal bedenken!
Die Verleihung der Preise für ausgezeichnete Forschungsarbeiten (Dissertationen, Publikationen) mit anschließender Wein- und Käse-Party. Hier lernt man den viel versprechenden wissenschaftlichen Nachwuchs kennen.
Wer informelle Kontakte knüpfen möchte, tut gut daran, an zwei wichtigen Veranstaltungen teilzunehmen. Beim offiziellen Empfang (Annual Reception) stellt man sich in einer langen Schlange an und hat dann die Gelegenheit, allen Mitgliedern des Vorstands der IRA, einschließlich der Präsidentin, die Hand zu schütteln und ein paar freundliche Worte zu wechseln. Für mich ist es immer wieder erstaunlich, wie gut das Namensgedächtnis der meisten Amerikaner ist, die sich auch nach vielen Jahren noch an meinen Namen erinnern, während ich erst immer möglichst unauffällig auf das Namensschild schielen muss.
Für 75 Dollar darf man am jährlichen Bankett teilnehmen (Getränke extra, es sei denn, man begnügt sich mit Eiswasser). In einem riesigen Ballsaal sitzen etwa 2000 Leute an Zehner-Tischen und auf dem Podium – nebeneinander an einem langen Tisch – die „biggies“, die Vorstandsmitglieder, die beiden chairpersons der Kommissionen für die Vergabe der beiden wichtigsten Preise der IRA sowie die beiden Preisträger. In diesem Jahr hatte ich als chairperson des citation of merit committee die große Ehre, neben der Präsidentin sitzen und die Laudatio auf die Preisträgerin Isabelle Beck halten zu dürfen (wie jedes Wort, das ins Mikrofon gesprochen wird,  sind auch die Lobreden der chairpersons vom Vorstand vorbereitet!).
Die Ausstellung der Verlage. Für die Lehrpersonen, die die Mehrzahl der Teilnehmer ausmachen, sind die Verlagsausstellungen eine besondere Attraktion. An 350 Ständen werden die Besucher mit Katalogen, Billigangeboten von Lehrmaterialien, Postern und allerhand Schnickschnack, natürlich stets mit dem Verlagslogo versehen, beglückt. Der Renner sind Taschen mit Aufdrucken  („Every reader grows with a good book and a great teacher!“). Fast tonnenweise werden die Materialien abgeschleppt. Für attraktive Zugaben muss man sich allerdings die Mühe machen, einer mindestens 10-minütigen Verlagspräsentation beizuwohnen, und seine Adresse abgeben, damit die Verlage einen auch zu Hause mit Werbema-terialien versorgen können.

Nun zu den Inhalten. Was ist in und out?
In sind die folgenden Themen:

Schreiben und Rechtschreiben. Nachdem lange Jahre das Lesen im Mittelpunkt stand, werden nun auch die beiden Aspekte der Schriftkompetenz beachtet und ihre Entwicklung und Förderung erforscht.
Research based programmes“ – umfassende Programme zur Förderung der Schriftsprache, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und durch Evaluationsstudien abgesichert sind. Zu den wichtigsten Projekten dieser Art gehört „Teaching every child to read“, das vom Center for the Improvement of Early Reading Achievement (CIERA) entwickelt wurde (s. dazu die website www. ciera.org).
Konsequenter Weise wurde auch diskutiert, welche forschungsmethodologischen Standards einzuhalten seien. Der Vortrag von P. David Pearson, dem Leiter von CIERA, zum Thema „Up the down staircase: the dilemma of research-based policy and practices“ war hierzu besonders interessant (nachzulesen unter der Rubrik „work in progress“ auf seiner homepage). Pearson gehört seit Jahren zum harten Kern der Vortragenden und ist schon aufgrund seiner Sprechgeschwindigkeit ein Phänomen, ich kenne sonst niemanden, der in 34 Minuten 76 Folien zeigen und vorlesen kann.

Literacy crisis und literacy gap. Auch die Vereinigten Staaten haben ihren PISA-Schock erlitten und beklagen das schlechte Abschneiden der amerikanischen SchülerInnen in den Lesetests sowie den großen Leistungsabstand zwischen Kindern aus privilegierten und ärmeren sozialen Milieus (der in Deutschland ja laut PISA noch viel größer ist). Interessant sind die Reaktionen: Präsident Bush hat eine neue Bildungsinitiative gestartet unter dem (gut sozialistischen) Motto: Wir lassen keinen zurück. Kinder mit Problemen sollen frühzeitig erkannt und gefördert werden.

Die Verbesserung der Lehrerbildung und die Bedeutung der Lehrerin für den Schulerfolg. Wenn man hört, wie viele Stunden Ausbildung die angehenden Lehrerinnen in den Bereichen Schriftspracherwerb, Förderung des weiterführenden Lesens, Diagnose von Problemen etc. erhalten, kann man vor Neid erblassen (angesichts der zwei Semester-Wochen-Stunden umfassenden obligatorischen Veranstaltung zum Schriftspracherwerb an den Berliner Universitäten). Michael Pressey sprach über eine Metaanalyse von Studien, in denen gute und schlechte Lehrerinnen verglichen wurden. Was zeichnet die guten Lehrerinnen aus? Sie verstehen es, die SchülerInnen zu motivieren, zeigen ein großes Engagement, haben eine effiziente Klassenführung ohne disziplinarische Schwierigkeiten, benutzen sehr häufig die direkte Instruktion, setzen andere Erwachsene (z. B. Eltern) im Unterricht als Helfer ein, zeigen eine hohe Motivation, sich selbst fortzubilden, und finden Erfüllung in ihrer Arbeit, kurzum: good teachers are hard workers and happy!
Vorschulische Förderung von Kindern, damit sie erfolgreich Voraussetzungen zum Lesen und Schreibenlernen entwickeln. Während dieses Problem auch bei uns erkannt wird, aber gegenwärtig fast nur auf die zweifelhafte Förderung phonologischer Bewusstheit gerichtet ist, wird in den USA ein breiter Maßnahmenkatalog für Eltern und Kindergärtnerinnen vorgeschlagen: Förderung der mündlichen Sprache und vor allem des Wortschatzes, Vorlesen, mit Kindern Bilderbücher anschauen und gemeinsam darüber reden, damit die Kinder mit Begriffen der Schriftsprache (Seite, Buchstabe, Satz, Wort, Gedrucktes, Zahlen etc.) vertraut werden, Reime bilden und andere Sprachspiele, malen und zeichnen.
Gender und Lesen. Dabei wird der heimliche Lehrplan der Lektüre in seinem Einfluss auf die Geschlechtsrollenorientierung untersucht. Wer nähere Informationen sucht zur Bedeutung der Schule für die Entwicklung von Selbstvertrauen und geschlechtsspezifischen Interessen, sei verwiesen auf die homepage der American Association of the University Women (AAUW), wo man sich die spannenden Ergebnisse der Studie „Shortchanging girls, shortchanging America“ herunterladen kann.
Megaout sind folgende Themen:

dyslexia (Legasthenie). Während in früheren Jahren fast 10% aller Themen mit Legasthenie befasst war, bot in diesem Jahr nur die dyslexia-society noch entsprechende Vorträge an. Es entspricht nicht nur der politischen Korrektheit, dass Kinder mit Schwierigkeiten als „struggling readers, writers and spellers“ bezeichnet werden (Zwerge, pardon Kleinwüchsige,  heißen übrigens „vertically challenged“), sondern auch der Erkenntnis, dass an dieser Problematik eine Vielzahl von Faktoren beteiligt sind und es sich nicht um einen Defekt im Innern des Kindes handelt.
Wahrnehmung, genetische oder neurologische Störungen als Erklärung von Lese-problemen. In Deutschland feiern demgegenüber die fragwürdigen Teilleistungs-störungen wieder Auferstehung und liefern Eltern und Lehrerinnen ein Alibi, um sich aus der Verantwortung für die Lernprozesse der Kinder zu stehlen.

Der nächste Kongress findet im Mai 2003 in Orlando/Florida statt. Vielleicht haben Sie Lust, auch dorthin zu reisen?  Dann sollten Sie alsbald ein Proposal einsenden. Als Beispiel für das Format möge das unsrige gelten:

PROGRAM Proposal

SESSION
A successful intervention program for struggling readers and  spellers Intended for reading consultants, classroom teachers, teacher trainers, grade 2 to 6.

Speakers:  Renate Valtin, Humboldt University Berlin

Ingrid M. Naegele, Institute of Learning Therapy, Frankfurt

DESCRIPTION OF PROGRAM
A. Objective: To present a model for helping struggling readers and spellers based on extended empiricial studies and long experience in remedial education.

B. Content: Reading and spelling difficulties are seen in a cognitive developmental perspective that views the acquisition of reading, writing and spelling as a sequence of characteristic strategies for dealing with written language. Due to a variety of reasons children with reading and spelling problems stay longer on earlier stages of this sequential model, develop false strategies and ineffective learning habits together with emotional and motivational problems. The therapy uses an integrative approach including cognitive, emotional and social dimensions. Basic principles are outlined.

C: Methods of presenting content: Lecture, demonstrations with folios

D. Abstract: Within a cognitive developmental framework an integrative remedial program for struggling readers and spellers is outlined.

Weitere Informationen @ www.reading.org.

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